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VerkehrsR I: Feststellung und Geldbuße bei Vorsatz, oder: „Strafzumessungserwägungen“ bei OWis?

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Und dann heute mal ein „Verkehrsrechtstag“.

Den beginne ich mit einer Entscheidung aus dem Bußgeldverfahren, und zwar mit dem OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 28.04.2024 – 2 ORBs 29/24 – zu den Feststellungen bei der Annahme von Vorsatz und zu den Anforderungen an die dann auch zu den Rechtsfolgenerwägungen notwendigen Feststellungen-

Das OLG hat Folgendes ausgeführt:

„Der Betroffene ist auf der Landstraße statt der am Tatort erlaubten 60 km/h unter Abzug der Toleranz 115 km/h gefahren.

Der Senat sieht sich veranlasst zu Feststellungen von Vorsatz und zu den Anforderungen an die dann auch zu den Strafzumessungserwägungen notwendigen Feststellungen nachfolgendes klarzustellen:

Der Vorwurf der Ordnungsbehörden geht bei Verkehrsordnungswidrigkeiten grundsätzlich vom Fahrlässigkeitsvorwurf aus und nimmt zur Vereinfachung zu Gunsten des Betroffenen an, dass dieser „nur“ die im Verkehr erforderliche Sorgfalt unberücksichtigt gelassen hat. Insoweit ist auch die Darlegung von Tatsachen im Urteil zur Schuldbestimmung wesentlich reduziert. In der weiteren Folge greift die gesetzgeberische Strafzumessung der Regelstrafen im Bußgeldkatalog und stellt die Tatrichter von der Darlegung eigener Strafzumessungserwägungen weitestgehend frei.

Greift der Betroffene die Bußgeldentscheidung der Ordnungsbehörden an und stellt das Tatgericht dann bei der Tatprüfung in der Hauptverhandlung fest, dass der fahrlässige Schuldvorwurf den Betroffenen zu Unrecht begünstigt, greifen diese Darlegungserleichterungen nicht und der Tatrichter ist gehalten die den Schuldvorwurf verschärfenden Tatsachen darzulegen. In der Regel handelt es sich dabei um tatortbezogene objektive Feststellungen wie „Baustellen“, „Ein- und Ausfahrten“, Geschwindigkeitstrichter, „Kindergärten, Schulen oder Krankenhäuser“ oder klar erkennbare geschwindigkeitsbeschränkende Umgebungen wie z.B. die Tatsache auf Grund der Bebauung „innerorts“ unterwegs zu sein. Die Ordnungsbehörden sind in Hessen verpflichtet, diese tatortbezogenen Besonderheiten im Messprotokoll, das eine öffentliche Urkunde darstellt, und das in der Hauptverhandlung gem. § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO vom Tatrichter zeugenersetzend zu verlesen ist, zu vermerken, so dass der Tatrichter darauf zurückgreifen kann, ohne den Messbeamten als Zeugenladen zu müssen.

Verschärft der Tatrichter unter entsprechender Darlegung solcher Tatsachen den Schuldvorwurf auf „grob fahrlässig“ oder „vorsätzlich“, greifen die gesetzgeberischen  Strafzumessungserwägungen des amtlichen Bußgeldkatalogs nur noch eingeschränkt und er ist in der Folge ebenfalls gehalten seine eigene Strafzumessungserwägung darzulegen. Dabei sind der Bußgeldrahmen und die nach § 3 Abs. 4a der Bußgeldkatalog-Verordnung zum Vorsatz genannten Regelungen zu berücksichtigen.

Diese Voraussetzungen genügt das vorliegende Urteil nur eingeschränkt. Der Tatrichter hat nur die Geschwindigkeitsbeschränkung als solche und die Tatsache, dass der Betroffene nahezu doppelt so schnell gefahren ist, wie erlaubt angegeben und darauf im Wesentlichen seine Strafzumessungserwägungen gestützt. Der Grund für die Beschränkung der Geschwindigkeit auf der Landstraße auf 60 km/h und die daraus abgeleitete vorsätzliche Nichtbeachtung durch den Betroffenen bei Kenntnis der Beschränkung fehlt.

Ausnahmsweise greifen diese Darlegungsmängel hier aber nicht durch, da nach den Feststellungen der Betroffene sich mit 115 km/h ohnehin dazu entschieden hatte, schon die Regelgeschwindigkeitsbeschränkung auf Landstraßen mit 100 km/h zu missachten. Wer wie der Betroffene damit vorsätzlich sowieso nicht bereit ist sich an die gesetzlich vorgegebenen Geschwindigkeitsregelungen zu halten, der missachtet dann auch vorsätzlich die weiteren Reduktionen innerhalb des gesetzlichen Geschwindigkeitsrahmens, so dass gegen die Annahme von Vorsatz unter entsprechender Verdopplung der Regelbuße nach § 3 Abs. 4a der Bußgeldkatalog-Verordnung darum Ergebnis nichts zu erinnern ist.“

„gesetzgeberische Strafzumessung der Regelstrafen im Bußgeldkatalog“ – wenn man das beim OLG Frankfurt am Main so sieht, erklärt das einiges. 🙂

KCanG I: „Alter“ THC-Nachweisgrenzwert gilt fort, oder: Aber: 3,5 ng/ml Grenzwert bei Drogenfahrt kommt

Und heute dann auf in die neue Woche, und zwar auch am Pfingstmontag hier normales Programm. Ich starte in die Woche mit zwei Entscheidungen zum KCanG, zwei kleinere Sachen, aber ganz interessant.

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Den Starter mache ich mit dem BayObLG, Beschl. v. 02.05.2024 – 202 ObOWi 374/24, der zur Frage Stellung nimmt, welcher analytische THC-Nachweisgrenzwert bei Drogenfahrten nach § 24a Abs. 2 StVG bis zur etwaigen Einführung eines – neuen – gesetzlichen THC-Wirkungsgrenzwertes gilt.

Das BayObLG macht es richtig und sagt: Wir sind nicht Gesetzgeber:

„Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers besteht nach derzeit unverändert gültiger Rechtslage keine Veranlassung, von dem nach ständiger obergerichtlicher Rspr. maßgeblichen sog. analytischen Nachweisgrenzwert für THC bzw. Cannabisprodukte von 1 ng/ml THC im Blutserum (vgl. neben OLG Bamberg, Beschl. v. 11.12.2018 – 3 Ss OWi 1526/18 = DAR 2019, 157 = Blutalkohol 56 [2019], 46 = VerkMitt 2019, Nr 17 und schon OLG Bamberg, Beschl. v. 27.02.2007 – 3 Ss OWi 688/05 = DAR 2007, 272 = ZfSch 2007, 287 = VRS 112 [2007], 262 = BA 44, 255 = OLGSt StVG § 24a Nr 10 = VM 2007 Nr 73 = VRR 2007, 270 u.a. OLG Hamm, Beschl. v. 03.08.2021 – 5 Rbs 157/21 = Blutalkohol 58 [2021], 419 = ZfSch 2021, 708, jeweils m.w.N.) zugunsten einer gegebenenfalls de lege ferenda mit Blick auf § 44 KCanG v. 27.03.2024 [BGBl. 2024 I Nr. 109] gesetzlichen Implementierung eines höheren gesetzlichen Wirkungsgrenzwertes von 3,5 ng/ml im Rahmen des als abstraktes Gefährdungsdelikts ausgestalteten Tatbestandes des § 24a StVG abzuweichen (zur aktuellen Diskussion vgl. u.a. Felz ARP 2024, 92; Oglakcioglu/Sobota ZRP 2023, 194; Wagner NZV 2023, 385 und die „Empfehlungen der interdisziplinären Expertengruppe für die Festlegung eines THC-Grenzwertes im Straßenverkehr“ [abrufbar unter: https://bmdv.bund.de/SharedDocs/DE/Anlage/K/cannabis-expertengruppe_langfassung.pdf?__blob=publicationFile]).“

Das hatte das AG Dortmund ja anders gesehen und sich als Gesetzgeber aufgespielt (hier das AG Dortmund, Urt. v. 11.04.2024 – 729 OWi-251 Js 287/24-27/24 und dazu: KCanG II: „Drogenfahrt“ nun bis 3,5 ng/ml THC erlaubt?, oder: Das AG Dortmund als Gesetzgeber?).

Aber: Die Frage wird sich dann – hoffentlich bald – erledigt haben. Denn inzwischen gibt es einen Gesetzesentwurf der Fraktionen der SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP im Bundestag (BT Drs. 20/11370). Der sieht vor, den Grenzwert des Cannabis-Wirkstoffs THC im Straßenverkehr anzuheben, und zwar von 1,0 ng/pro Milligramm Blutserum auf 3,5 ng. Das entspricht dem Vorschlag der Arbeitsgruppe im Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV), die nach § 44 KcanG eingesetzt war. Das geplante „Sechste Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes […]“ will also nun die entsprechenden Vorschriften des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) nun ändern und den neuen THC-Grenzwert gesetzlich festschreiben.

Bei einer Überschreitung dieses Grenzwertes droht nach dem neuen § 24a Abs. 1a StVG eine Geldbuße von 3.000 EUR und ein Fahrverbot.

Zudem soll – auch das entspricht dem Vorschlag der Kommission – § 24c StVG geändert werden. Danach handelt demnächst auch ordnungswidrig handelt, wer als sog. Fahranfänger die Fahrt antritt, obwohl er unter der Wirkung der Substanz Tetrahydrocannabinol steht.

Außerdem sind Änderungen in der FeV geplant.

Ging schneller, als ich erwartet habe. Manchmal klappt es eben doch. 🙂

KCanG II: „Drogenfahrt“ nun bis 3,5 ng/ml THC erlaubt?, oder: Das AG Dortmund als Gesetzgeber?

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Und im zweiten Posting zum KCanG dann das AG Dortmund, Urt. v. 11.04.2024 – 729 OWi-251 Js 287/24-27/24. Ich weiß nicht so recht, wie ich mit dem Urteil, das den Betroffenen vom Vorwurf einer Drogenfahrt (§ 24a Abs. 2 StVG) freigesprochen hat, umgehen soll.

Zur Erläuterung vorab: § 44 KCanG enthält einen an eine vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr eingesetzte interdisziplinäre Arbeitsgruppe gerichteten Auftrag. Danach war bis zum 31.03.2024 der Wert einer Konzentration von Tetrahydrocannabinol im Blut vorzuschlagen, bei dessen Erreichen nach dem Stand der Wissenschaft das sichere Führen eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr nicht mehr regelmäßig gewährleistet ist. In Umsetzung dieses Auftrags hat die Expertengruppe am 28.03.2024 vorgeschlagen, in § 24a StVG einen gesetzlichen Wirkungsgrenzwert von 3,5 ng/ml THC im Blutserum zu verankern. Zudem hat das Gremium unter Hinweis auf die besonderen Gefahren von Mischkonsum vorgeschlagen, für Cannabiskonsumenten ein absolutes Alkoholverbot festzuschreiben, entsprechend der Regelung für Fahranfänger in § 24c StVG.

Ob und wie der Gesetzgeber diesen Vorschlägen folgen wird, muss man mal sehen. M.E. wäre abzuwarten. Aber: Nicht so das AG Dortmund. Das hat den Betroffenen vom Vorwurf einer Drogenfahrt nach § 24a StVG aus tatsächlichen Gründen frei gesprochen. Festgestellt war eine Fahrt mit einem Pkw unter der Wirkung berauschender Mittel, nämlich Cannabis. Entnommen worden war eine Blutprobe, die eine THC-Konzentration von 3,1 ng/ml aufgewiesen hat. Das AG meint:

„Der Betroffene war aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.

Der bisherige Grenzwert für § 24a Abs. II StVG lag für Cannabis bei 1,0 ng/ml.

Dabei ist die Situation derart, dass bislang lediglich der Wirkstoff THC in der Anlage zu § 24a StVG genannt ist, jedoch nicht der im Straßenverkehr maßgebliche Grenzwert. Dieser wurde in der Vergangenheit von der Rechtsprechung festgesetzt anhand rechtsmedizinischer Vorschläge.

Im Rahmen des Cannabis-Gesetzes und der Teillegalisierung von Cannabis hat der Gesetzgeber in § 44 KCanG ausdrücklich eine Regelung getroffen, wie weiter zu verfahren ist:

Hiernach sollte eine nach dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr eingesetzte Arbeitsgruppe bis zum 31.03.2024 den Wert einer Konzentration von THC im Blut vorschlagen, bei dessen Erreichen nach dem Stand der Wissenschaft das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges im Straßenverkehr regelmäßig nicht mehr gewährleistet ist. Diese Arbeitsgruppe hat – allgemein bekannt aufgrund einer Veröffentlichung durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr – den Grenzwert auf 3,5 ng/ml vorgeschlagen. In der Pressemitteilung des Ministeriums heißt es u.a.:

„…Die wissenschaftlichen Experten geben danach folgende Empfehlungen ab:

Im Rahmen des § 24a StVG wird ein gesetzlicher Wirkungsgrenzwert von 3,5 ng/ml THC Blutserum vorgeschlagen. Bei Erreichen dieses THC-Grenzwertes ist nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft eine verkehrssicherheitsrelevante Wirkung beim Führen eines Kraftfahrzeuges nicht fernliegend, aber deutlich unterhalb der Schwelle, ab der ein allgemeines Unfallrisiko beginnt….Bei dem vorgeschlagenen Grenzwert von 3,5 ng/ml THC im Blutserum handelt es sich nach Ansicht der Experten um einen konservativen Ansatz, der vom Risiko vergleichbar sei mit einer Blutalkoholkonzentration von 0,2 Promille. THC im Blutserum ist bei regelmäßigem Konsum noch mehrere Tage nach dem letzten Konsum nachweisbar. Daher soll mit dem Vorschlag eines Grenzwertes von 3,5 ng/ml THC erreicht werden, dass – anders als bei dem analytischen Grenzwert von 1 ng/ml THC – nur diejenigen sanktioniert werden, bei denen der Cannabiskonsum in einem gewissen zeitlichen Bezug zum Führen eines Kraftfahrzeugs erfolgte und eine verkehrssicherheitsrelevante Wirkung beim Führen eines Kraftfahrzeugs möglich ist….“

Das Gericht sieht hierin ein sogenanntes antizipiertes Sachverständigengutachten, dass auch nicht durch anderweitige Vorschläge/Kritik aus Politik, Justiz, Medizin oder dem Bereich der Polizei infrage gestellt wird. Dies gilt umso mehr, dass ausweislich des § 44 KCanG keinerlei weiterer Schritt vorgesehen ist, der die Umsetzung des Grenzwertes in die verkehrsrechtliche Praxis vorsieht. Die aus der Gesetzesbegründung sich insoweit ergebende Absicht einer Kodifizierung des gefundenen Wertes spricht nicht gegen die Anwendung des Wertes bereits zum jetzigen Zeitpunkt.

Die Situation ist nämlich in rechtlicher Hinsicht hinsichtlich des § 24a StVG gleichgeblieben. Lediglich die Risikobewertung hat sich hinsichtlich des Cannabis geändert, so dass der neue Grenzwert von 3,5 ng/l seit dem 01.04.2024 für gerichtliche Entscheidungen maßgeblich ist.“

M.E. zumindest mutig und nicht unbedenklich. Die „Empfehlung“ der Expertenarbeitsgruppe ist also ein „antizipiertes Sachverständigengutachten“ – den Begriff kennen wir aus dem OWi-Recht, wo ihn das OLG Frankfurt am Main bei Messverfahren eingeführt hat? Ach so. Ich sehe da nichts von einem Sachverständigengutachten, sondern zunächst mal nur eine Empfehlung, mehr nicht.

Und wie kommt diese Empfehlung, sorry, das „antizipierte Sachverständigengutachten“, ins Verfahren? Hat man ein Mitglied der Expertengruppe als Sachverständigen gehört? Nein, natürlich nicht, sondern es hat ein Zitat aus der Pressemitteilung (!!!) des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr gereicht. Auch da habe ich erhebliche Probleme. Das AG geht offenbar von „gerichtsbekannt“ oder „allgemein bekannt“ aus. Na ja, ob das stimmt und reicht?

Und es stimmt m.E. auch nicht, dass die Empfehlung nicht durch „Vorschläge/Kritik aus Politik, Justiz, Medizin oder dem Bereich der Polizei infrage gestellt“ wird. Zumindest ist schon mal das „Verkehrspolizeiliche Votum zur Legalisierung von Cannabis und zur
Festlegung eines THC- Grenzwertes“ wohl anderer Auffassung.  Und auch beim “ Bund gegen Alkohol und Drogen im Straßenverkehr“ scheint man anderer Auffassung zu sein. Jedenfalls hat man dort eine kritische „Stellungnahme von Prof. Dr. Daldrup zu dem Ergebnis der im Rahmen des Konsumcannbisgesetzes (KCanG) vom BMDV im Dezember 2023 eingerichteten unabhängigen, interdisziplinären Arbeitsgruppe mit Experten aus den Bereichen Medizin, Recht und Verkehr sowie dem Bereich der Polizei“ auf der Homepage eingestellt. Mehr habe ich dann nicht gesucht. Die beiden „Stellungsnahmen“ zur „Empfehlung“ waren einfach zu finden, wenn man sie finden wilöö. Das AG offenbar nicht.

Ich kann leider derzeit nicht feststellen, ob das Urteil rechtskräftig ist oder ob die StA den Gang zum OLG Hamm unternommen hat. Jedenfalls steht das Urteil ohne Hinweis auf „abgekürzt“ bei NRWE. Es würde mich schon interessieren, was das OLG Hamm dazu sagt, dass der AG sich zum Gesetzgeber aufgeschwungen hat.

Zumindest m.E. ein wenig voreilig. Ich würde mich auf dieses Urteil nicht unbedingt bei anderen AG berufen wollen.

OWi III: Entgegen dem BayObLG Einsicht in Messreihe, oder: Ende der Karriere :-)

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Und dann zum Schluss noch ein AG-Beschluss zum Dauerbrennerthema „Akteneinsicht im Bußgeldverfahren“. Ich stelle den Beschluss vor, weil er sich vom Mainstream der OLG-Rechtsprechung wohltuend absetzt und das in Bayern (!!).

Der Verteidiger des Betroffenen, dem eine Geschwindigkeitsüberschreitung zur Last gelegt wird, hat Akteneinsicht beantragt, die nur teilweise gewährt worden ist. Gegen die Versagung der Gewährung von Akteneinsicht ist Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 62 OWiG gestellt worden

Das AG Passau hat im AG Passau, Beschl. v. 13.02.2024 – 4 OWi 749/23 – das bayerische Polizeiverwaltungsamt „angewiesen, dem Verteidiger die mit Antragsschriftssatz vom 16.12.2023 angeforderten Unterlagen in Form des ersten und des letzten Bildes der gesamten Messereihe sowie der jeweils 5 Bilder vor und nach der Messung des Betroffenen im Rahmen einer erneuten Akteneinsicht zur Verfügung zu stellen.“

Begründung:

„Dieser Antrag erweist sich als zulässig und begründet.

Grundsätzlich steht einem Verteidiger ein Akteneinsichtsrecht zu gemäß § 46 I OWiG in Verbindung mit § 147 StPO.

Dieses umfasst regelmäßig lediglich die in der Akte des Bußgeldverfahrens enthaltenen Unterlagen. Das Akteneinsichtsrecht begründet grundsätzlich keinen Anspruch auf Erweiterung des Aktenbestandes.

Ein solcher Anspruch ergibt sich jedoch im vorliegenden Verfahren aus der gesetzlich gebotenen Aufklärungspflicht, denn die im Beschlusstenor genannten Unterlagen sind zur Überprüfung der verfahrensgegenständlichen Messung durch einen Sachverständigen spätestens diesem in der Praxis regelmäßig vorzulegen.

Entgegen der Rechtsansicht des BayObLG verwenden Sachverständige diese Bilder der Messreihe zur Überprüfung einer Geschwindigkeitsmessung regelmäßig und ziehen aus diesen Rückschlüsse auf die Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit der Messung, welche sich beispielsweise durch eine im Rahmen des Vergleichs der Messbilder festzustellende Veränderung der Bildeinstellung ergeben kann.“

„Entgegen der Rechtsansicht des BayObLG“ = Ende der Karriere 🙂 .

OWi II: Absehen vom Fahrverbot wegen „Notstands“, oder: Dringende „Pinkelpause“ auf der BAB

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Die Entscheidung in diesem zweiten Posting des Tages stammt auch vom OLG Hamm. Mal wieder etwas zum Fahrverbot, und zwar Absehen wegen Verneinung eines „groben Verstoßes“.

Verurteilt worden ist der Betroffene wegen fahrlässiger unberechtigter Benutzung einer freien Gasse für die Durchfahrt von Polizei- oder Hilfsfahrzeugen auf einer Autobahn zu einer Geldbuße in Höhe von 240 EUR. Von der Verhängung eines Fahrverbotes hat das AG abgesehen. Der Betroffene hatte ein dringendes Bedürfnis zur Verrichtung der Notdurft geltend gemacht. Die StA hatte mit ihrer Rechtsbeschwerde keinen Erfolg. Das OLG hat die im OLG Hamm, Beschl. v. 28.03.2024 – 5 ORbs 35/24 – verworfen.

„Die zu Lasten des Betroffenen eingelegte Rechtsbeschwerde ist unbegründet, da das angefochtene Urteil keinen Rechtsfehler aufweist. Das Tatgericht ist im Rechtsfolgenausspruch in rechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass – trotz der Indizwirkung der Bußgeldkatalogverordnung (§ 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BKatV) – kein Fall der groben Verletzung der Pflichten eines Fahrzeugführers i.S.v. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG vorliegt; im Einzelnen:

1. Eine grobe Pflichtverletzung liegt dann vor, wenn die Pflichtverletzung des Betroffenen objektiv abstrakt oder konkret besonders gefährlich gewesen ist (vgl. OLG Düsseldorf Entscheidung v. 28.7.1998 – 5 Ss (OWi) 235/98 = BeckRS 1998, 155012, beck-online). Hinzukommen muss, dass der Täter auch subjektiv besonders verantwortungslos handelt (vgl. BGH, NZV 1997, 525, beck-online). Regelbeispiele für ein derartiges Verhalten finden sich in § 4 Abs. 1, 2 BKatV. Bei diesen Katalogtaten ist das Vorliegen einer groben Verletzung der Pflichten eines Kfz-Führers zwar indiziert (vgl. BGHSt 38, 125 (134) = NZV 1992, 117); die Regelbeispiele ersetzen aber nicht gesetzliche Merkmal des § 25 I StVG. Die Bußgeldkatalogverordnung befreit daher die Tatgerichte nicht von der Erforderlichkeit einer Einzelfallprüfung; sie schränkt nur den Begründungsaufwand ein (vgl. BVerfG, DAR 1996, 196 (198) = NZV 1996, 284; BGHSt 38, 125 (136) = NZV 1992, 117 (120). Dementsprechend muss eine im Sinne der Regelbeispiele der Bußgeldkatalogverordnung tatbestandsmäßige Handlung dann (ausnahmsweise) nicht zwingend mit einem Fahrverbot geahndet werden, wenn als Ergebnis der gebotenen Würdigung der Umstände des Einzelfalles eine grobe Pflichtverletzung – sei es in objektiver oder in subjektiver Hinsicht -ausscheidet (vgl. BGH NZV 1997, 525, beck-online). Bei der Frage, ob ein grober Verstoß gegeben ist, sind die Umstände des Einzelfalles – auch unter Berücksichtigung von Irrtumsaspekten – gegeneinander abzuwägen (vgl. OLG Bamberg Beschl. v. 1.12.2015 – 3 Ss OWi 834/15, BeckRS 2015, 20269 Rn. 12, beck-online).

2. Das Amtsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung im Einzelnen dargelegt, warum es im vorliegenden Einzelfall von der Anordnung des einmonatigen Fahrverbots ausnahmsweise abgesehen hat (vgl. UA S. 6 – 8). Zwar deuten die Urteilsgründe darauf hin, dass das Amtsgericht von einem Erlaubnistatbestandsirrtum des Betroffenen ausgeht, obwohl die irrige Annahme des Betroffenen von der Freigabe des Verkehrs die Tatbestandsmäßigkeit des Handelns (§ 11 OWiG) betrifft. Allerdings beruht die angefochtene Entscheidung nicht darauf, da diese Erwägung nicht tragend ist. Vielmehr stellt das Tatgericht bei seiner Begründung des Absehens vom Fahrverbot darauf ab, dass der Betroffene nach den Umständen des Einzelfalls subjektiv nicht besonders verantwortungslos handelte. Das ist rechtlich nicht zu beanstanden.

3. Es ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass in notstandsähnlichen Situationen (konkret: dringendes Bedürfnis zur Verrichtung der Notdurft) das Handlungsunrecht für die Anordnung eines Fahrverbotes – je nach den Umständen des Einzelfalls – fehlen kann (vgl. bei Geschwindigkeitsverstößen: OLG Hamm Beschl. v. 10.10.2017 – 4 RBs 326/17 = BeckRS 2017, 129512 Rn. 7, beck-online; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 19.12.1996 – 1 Ss 291/96 = NStZ-RR 1997, 379, beck-online; OLG Brandenburg (1. Strafsenat – Senat für Bußgeldsachen), Beschluss vom 25.02.2019 – (1 B) 53 Ss-OWi 41/19 (45/19) = BeckRS 2019, 2716, beck-online). Das ist hier auf der Grundlage – der revisionsrechtlich ohnehin nur beschränkt überprüfbaren – Feststellungen des Amtsgerichts der Fall. Das Handeln des Betroffenen stellt in subjektiver Hinsicht kein besonders vorwerfbares Verhalten dar. Nach den amtsgerichtlichen Feststellungen neigte der Angeklagte aufgrund der von ihm eingenommenen Medikation zu einem erhöhten Harndrang, der bereits kurz nach Beginn des Staus einsetzte. Zudem ist er im Hinblick auf den wiedereinsetzenden Verkehr davon ausgegangen, die Rettungsgasse bereits wieder befahren zu dürfen. Insoweit liegt zwar weder ein Notstand i.S.v. § 16 OWiG noch ein Erlaubnistatbestandsirrtum vor. Allerdings befand sich der Betroffene in einer – durch Medikamentenwirkung hervorgerufenen – notstandsähnlichen Situation; dazu hat das Amtsgericht festgestellt, dass zum Tatzeitpunkt bereits ein erheblicher Harndrang bzw. Druckgefühl vorhanden war (vgl. UA S. 6). Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft konnte der Betroffene auch nicht etwa seine Notdurft außerhalb des Fahrzeugs verrichten. Denn – worauf die Verteidigung in ihrer Stellungnahme zur Antragsschrift zu Recht hinweist – ein Betreten der Autobahn ist grundsätzlich nicht erlaubt (§ 18 Abs. 9 StVO). Außerdem wäre ihm dieses Handeln unter dem Gesichtspunkt naheliegender Eigengefährdung rechtlich nicht zumutbar gewesen.

Des Weiteren war seine Pflichtverletzung als Fahrzeugführer in subjektiver Sicht infolge der – irrigen – Annahme der Verkehrsfreigabe nicht besonders verantwortungslos. Der Einwand der Generalstaatsanwaltschaft, der Betroffene habe durch sein Verhalten die Notstandslage erst herbeigeführt, verfängt nicht. Ausweislich der Feststellungen verspürte er den Harndrang bereits fünf Minuten, nachdem der Stau einsetzte. Es gehört jedenfalls nicht zu den Pflichten eines Fahrzeugführers, seine Toilettenverhalten bzw. Toilettengangintervalle nach einem unvorhersehbaren Stauereignis auszurichten.

Letztlich ist auch zu berücksichtigen, dass der Erfolgsunwert infolge der zwischenzeitlich erfolgten Verkehrsfreigabe objektiv nicht von besonderem Gewicht war.“

Erfreulich. Aber Vorsicht mit dieser oder ähnlichen Einlassungen. Folgt man dem nicht, droht ggf. eine Verurteilung wegen Vorsatzes.