Archiv der Kategorie: Haftrecht

Zwang I: Fluchtgefahr verlangt „Entziehensabsicht“, oder: Beschuldigte bleibt trotz Durchsuchung vor Ort

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Und dann mal wieder ein Tag mit StPO-Entscheidungen, und zwar zu Zwangsmaßnahmen. Dazu gibt es zweimal etwas zur Haft und einmal etwas zur Ingewahrsamnahme eines Zeugen.

Ich stelle zuerst den BGH, Beschl. v. 18.04.2024 – StB 18/24 – vor. Es geht um Fluchgefahr, und zwar auf der Grundlage folgenden Sachverhalts:.

Der Beschuldigte ist am 14.12.2023 aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des BGH festgenommen worden und befindet sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf der Unterstützung einer rechtsextrem ausgerichteten Kampfsportgruppe. Der Beschuldigte wendet sich gegen den Haftbefehl mit seiner Beschwerde, welcher der Ermittlungsrichter nicht abgeholfen hat.

Die Haftbeschwerde hat dann aber beim Senat Erfolg. Der hat einen Fluchtgrund, vor allem auch Fluchtgefahr, verneint.

„1. Der Haftgrund der Fluchtgefahr setzt voraus, dass es bei Würdigung der konkreten Einzelfallumstände wahrscheinlicher ist, dass sich der Angeklagte dem weiteren Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde (st. Rspr.; etwa BGH, Beschluss vom 20. April 2022 – StB 16/22, NStZ-RR 2022, 209, 210). Das ist hier nicht der Fall.

Der Beschuldigte hat seit einer ihn betreffenden Durchsuchung im April 2022 Kenntnis, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren geführt wird, seinerzeit wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung. Gegenstand der im Durchsuchungsbeschluss vom 5. April 2022 genannten Vorwürfe waren unter anderem bereits solche, die nun im Haftbefehl (s. dort unter I. 2. a), b), d), g) und i)), aufgegriffen werden. Dies hat den Beschuldigten bislang ebenso wenig zu Fluchtbemühungen veranlasst wie die damalige Festnahme gesondert Verfolgter. Dass ihm nunmehr die Unterstützung einer terroristischen statt einer kriminellen Vereinigung zur Last gelegt wird, führt trotz des höheren Strafrahmens zu keinem deutlich gesteigerten Fluchtanreiz; denn bereits nach der Anklage vom 28. April 2023 gegen mehrere gesondert Verfolgte zum Thüringer Oberlandesgericht war für ihn ersichtlich, dass der Generalbundesanwalt die Gruppierung „ “ ab einem gewissen Zeitpunkt als terroristische Vereinigung bewertete. Die im Durchsuchungsbeschluss noch nicht genannten Unterstützungshandlungen verändern die Tatvorwürfe nicht in einer für die Beurteilung der Fluchtgefahr erheblichen Weise. Im Übrigen hat der Beschuldigte – dem Generalbundesanwalt zuvor angezeigte – Auslandsaufenthalte nicht genutzt, um sich dem Ermittlungsverfahren zu entziehen.

Soweit in einem Telefonat des Beschuldigten aus April 2022 davon die Rede ist, etwaig bei einer Veranstaltung eingenommenes Geld solle für die vier damals Inhaftierten und der Rest für ihn selbst genutzt werden, „falls ihm was passiere“, ergibt sich nach dem Kontext nicht, dass die Mittel für eine Flucht und nicht etwa für mit der Untersuchungshaft in Zusammenhang stehende Kosten aufgewendet werden sollten. Gleiches gilt, soweit sich der Beschuldigte in Briefen aus der Untersuchungshaft im Zusammenhang mit seiner wirtschaftlichen Lage über die Wichtigkeit organisierter Hilfe geäußert hat und Spendenaufrufe veröffentlicht worden sind. Dass der Verwendungszweck für – nicht näher spezifizierte, sich möglicherweise über zweieinhalb Jahre erstreckende und pauschal summierte – Bargeldabhebungen von Konten des Beschuldigten in Höhe von insgesamt 22.000 € unbekannt ist, legt hier mangels näherer Anhaltspunkte zu dem Hintergrund ebenfalls nicht den Rückschluss auf entsprechende Reserven zur Finanzierung einer Flucht nahe.

Wie im Haftbefehl angeführt, sind als potentiell fluchthemmende Faktoren zudem die Tätigkeiten des Beschuldigten als Selbständiger, Stadtratsmitglied für die Stadt E. und Vorsitzender des Landesverbandes einer Partei zu berücksichtigen. Dass insoweit ein Bezug zu den Tatvorwürfen besteht und die genannten Umstände den Beschuldigten nicht von den ihm vorgeworfenen Handlungen abgehalten haben, hat nicht ohne Weiteres zur Folge, dass sie auch ein Fluchtrisiko nicht mindern können. Inwieweit hierfür zusätzlich noch die von ihm geltend gemachten gesundheitlichen Beschwerden und die Aufhebung von Haftbefehlen gegen gesondert Verfolgte durch das Thüringer Oberlandesgericht von Bedeutung sind, kann letztlich dahinstehen.

2. Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr erfordert, dass bestimmte Handlungen des Beschuldigten es wahrscheinlich erscheinen lassen, er werde auf sachliche oder persönliche Beweismittel einwirken und dadurch die Ermittlung der Wahrheit erschweren (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. September 2016 – StB 30/16, NJW 2017, 341 Rn. 13 mwN; vom 20. Februar 2019 – AK 53/18 u.a., juris Rn. 44). Bezugspunkt hierfür ist allein die Aufklärung der vom Haftbefehl umfassten Taten (s. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 31. August 2001 – 2 Ws 219/01, StV 2001, 686; KG, Beschluss vom 30. April 2019 – [4] 161 HEs 22/19 [10-11/19], StraFo 2019, 416, 417; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 112 Rn. 26).

Obschon früheres Verhalten des Beschuldigten Anlass zu der Annahme bietet, dass er künftig auf Beweismittel einwirken werde, folgt daraus nicht, dass er im Falle seiner Haftentlassung durch entsprechende Handlungen die gegen ihn bereits seit dem 4. April 2022 wegen Unterstützung der Vereinigung „ “ geführten, in der Sache weit fortgeschrittenen Ermittlungen hinsichtlich der im Haftbefehl aufgeführten Vorwürfe noch mehr als unerheblich beeinträchtigen könnte. Daher bedarf keiner Vertiefung, dass er etwa angesichts einer unmittelbar bevorstehenden Wohnungsdurchsuchung am 14. Dezember 2023 eine Tüte mit einem Mobiltelefon und einem Laptop von seinem Balkon auf den benachbarten Balkon stellte und anderweitig äußerte, E. möge eine „Mauer des Schweigens“ sein.

3. Sonstige Haftgründe kommen unter den gegebenen Umständen nicht in Betracht. Ein dringender, die Anwendung des § 112 Abs. 3 StPO eröffnender Verdacht auf eine mitgliedschaftliche Beteiligung des Beschuldigten an einer terroristischen Vereinigung besteht nicht. Ebenso scheidet der Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) bei den vorliegenden Tatvorwürfen aus.“

StPO I: Haftbeschwerde während laufender HV, oder: Der dringende Tatverdacht beim Beschwerdegericht

© Dan Race Fotolia .com

So, zunächst mal allen „Vätern“ einen schönen Vatertag  und viel  Spaß an alle, die sich heute auf Tour begeben. Für die, die zu Hause bleiben, gibt es hier das normale Programm, und zwar wieder mit StPO, OWi-Entscheidungen fehlen derzeit, um darüber zu berichten.

Ich beginne mit einem BGH-Beschluss, und zwar dem BGH, Beschl. v. 23.4.2024 – StB 22/24 – zur Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das Beschwerdegericht während laufender Hauptverhandlung.

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen Beihilfe zum Mord. Der Angeklagte befand sich vom 06.062023 bis zum 08.032024 in Untersuchungshaft aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des BGH v. 01.062023 (3 BGs 106/23). Das OLG, vor dem seit dem 27.02.2024 die Hauptverhandlung gegen den Angeklagten wegen des dem Haftbefehl zugrundeliegenden Vorwurfs geführt wird, hat den Haftbefehl durch Beschluss vom 08.03.2024 mit der Begründung aufgehoben, dass ein dringender Tatverdacht in Bezug auf die subjektive Tatseite unter Berücksichtigung der in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise nicht mehr bestehe.

Dagegen die Haftbeschwerde des GBA, die beim BGH keinen Erfolg hatte:

„1. Die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, unterliegt im Haftbeschwerdeverfahren in nur eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht. Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder weggefallen ist. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme. Allerdings muss es auch im Fall der Aufhebung eines Haftbefehls in die Lage versetzt werden, seine Entscheidung über ein hiergegen gerichtetes Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft auf einer hinreichend tragfähigen tatsächlichen Grundlage zu treffen. Hieraus folgt indes nicht, dass das erkennende Gericht alle bislang erhobenen Beweise in der von ihm zu treffenden Entscheidung einer umfassenden Darstellung und Würdigung zu unterziehen hat. Seine abschließende Bewertung der Beweise und ihre entsprechende Darlegung ist den Urteilsgründen vorbehalten. Das Haftbeschwerdeverfahren führt insoweit nicht zu einem über die Nachprüfung des dringenden Tatverdachts hinausgehenden Zwischenverfahren, in dem sich das Tatgericht zu Inhalt und Ergebnis aller Beweiserhebungen erklären müsste.

Um dem Beschwerdegericht eine eigenverantwortliche Entscheidung zu ermöglichen, bedarf es daher einer – wenn auch knappen – Darstellung, ob und inwieweit sowie durch welche Beweismittel sich der zu Beginn der Beweisaufnahme vorliegende Verdacht bestätigt oder verändert hat und welche Beweisergebnisse gegebenenfalls noch zu erwarten sind. Das Beschwerdegericht beanstandet die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, soweit die Würdigung des Erstgerichts offensichtliche Mängel aufweist, welche die Einschätzung der Verdachtslage als unvertretbar erscheinen lassen. Der Beschwerde vermag es indes nicht zum Erfolg zu verhelfen, wenn der Rechtsmittelführer die Ergebnisse der Beweisaufnahme abweichend bewertet (s. insgesamt BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2020 – StB 38/20, juris Rn. 12 mwN).

2. Daran gemessen ist die vorläufige Beweiswürdigung des Oberlandesgerichts hinzunehmen…..“

StPO II: Überwachung von Besuchen/Schriftverkehr, oder: Verdunkelungsgefahr?

© Joachim B. Albers – Fotolia.com

Die zweite Entscheidung kommt mit dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 26.03.2024 – 1 Ws 26/24 – aus Baden Württemberg. Das OLG hat Stellung genommen zu Beschränkungen während der Untersuchungshaft, nämlich Überwachung des Schriftverkehrs und von Besuchen nach Verurteilung:

„Der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer, der nach § 126 Abs. 2 S. 2 und 3 StPO während des Revisionsverfahrens für Entscheidungen über Maßnahmen nach § 119 StPO zuständig bleibt (KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 126 Rn. 11, 12), hat die Aufhebung der Haftbeschränkungen zu Recht abgelehnt. Diese sind weiterhin erforderlich und verhältnismäßig.

1. Beschränkende Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO sind zulässig, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke besteht, die nicht anders abgewehrt werden kann (BVerfG, NStZ-RR 2015, 79; OLG Stuttgart, BeckRS 2022, 2423). Für diese Beurteilung sind nicht nur Haftgründe zu berücksichtigen, auf die der Haftbefehl gestützt ist. Herangezogen werden können auch in den Haftbefehl nicht aufgenommene Haftgründe (OLG Stuttgart aaO). Insbesondere sind Beschränkungsanordnungen zur Vermeidung der Verdunkelungsgefahr zulässig, auch wenn der Haftbefehl nur den Haftgrund der Fluchtgefahr enthält (KG, StV 2010, 370; OLG Celle, NStZ-RR 2010, 159; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 119 Rn. 5).

Da bei der Anwendung des § 119 Abs. 1 StPO dem Umstand Rechnung zu tragen ist, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb nur unvermeidlichen Einschränkungen seiner Grundrechte unterworfen werden darf, genügt die bloße, rein theoretische Möglichkeit, dass er seine Freiheiten missbrauchen könnte, nicht. Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Prüfung, ob konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der in § 119 Abs. 1 StPO bezeichneten öffentlichen Interessen bestehen (BVerfG aaO; KG, NStZ-RR 2014, 377 und BeckRS 2022, 38740 jew. mwN).

Solche Anhaltspunkte erfordern aber weder schon begangene Vertuschungs- oder Verdunkelungshandlungen (OLG Frankfurt a. M., BeckRS 2024, 2765; 2023, 34377; BeckOK-StPO/Krauß, Stand: 1.1.2024, § 119 Rn. 12) noch Hinweise auf konkrete Vorhaben des Gefangenen (KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 119 Rn. 10). Vielmehr können zur Beurteilung der einem Haftzweck zuwiderlaufenden Gefahr etwa das Vortat-, Tat- und Nachtatverhalten, sonstige Umstände der Tatbegehung, die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten und die Art der ihm zur Last gelegten Tat(en) herangezogen werden (Löwe-Rosenberg/Gärtner, StPO, 27. Aufl., § 119 Rn. 21, 22). Ebenso darf auf allgemeine kriminalistische Erfahrungen abgestellt werden. So ist etwa anerkannt, dass Absprachen unter Tatbeteiligten jedenfalls dann naheliegen, wenn diese nicht geständig sind. Umso mehr gilt dies, wenn Berührungspunkte zu Angehörigen und Freunden bestehen, sodass nicht nur ein gesteigertes Vertrauensverhältnis besteht, sondern diese sich zudem regelmäßig dem Angeklagten besonders emotional verpflichtet fühlen (OLG Frankfurt a.M., BeckRS 2023, 34377).

a) Danach besteht Verdunkelungsgefahr im Sinne des § 119 Abs. 1 S. 1 StPO in Fällen schwererer Kriminalität schon dann, wenn kein Geständnis vorliegt und ein Näheverhältnis entweder zwischen einem Untersuchungsgefangenen und einem bzw. weiteren Tatbeteiligten oder zwischen dem Untersuchungsgefangenen und einer oder mehreren Beweispersonen besteht, etwa weil Familienangehörige, Verwandte, Freunde oder Bekannte in die Tat involviert sind und/oder ihnen innerhalb der Beweisführung eine zentrale oder jedenfalls nicht unbedeutende Rolle zukommen kann. Dies gilt nicht nur bei terroristischen Straftaten, Bandendelikten, Clan-Kriminalität und Formen der organisierten Kriminalität, sondern allgemein für gewichtige Vorwürfe, namentlich von Verbrechenstatbeständen.

In diesen Fallgruppen liegt bei fehlendem Geständnis und einem Näheverhältnis im oben dargelegten Sinne nach allgemeiner Erfahrung die Gefahr einer die Wahrheitsermittlung erschwerenden Beeinflussung auf der Hand, die Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO ohne Weiteres rechtfertigt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um ein Näheverhältnis unter Tatbeteiligten oder zu im Hauptverfahren zu vernehmenden Zeugen, deren Aussagen nach den Ermittlungsergebnissen eine nicht nur unwesentliche Bedeutung zukommt, handelt. Denn in Fällen schwererer Kriminalität besteht eine Gefahr der Erschwerung oder gar Vereitelung der Wahrheitsfindung nicht nur bei unkontrolliertem Informationsaustausch zwischen nicht geständigen Tatbeteiligten untereinander, sondern ebenso, wenn der Untersuchungsgefangene unüberwacht mit Dritten oder über Dritte kommunizieren könnte. Die Praxis zeigt, dass Untersuchungsgefangene immer wieder versuchen, ihnen nahestehende Zeugen – auch unter Einsatz von Drohungen – dahin zu beeinflussen, sich allein im Interesse des Inhaftierten auf die Rechte aus §§ 52, 55 StPO zu berufen, von diesen Rechten in einer bestimmten Weise Gebrauch zu machen oder sich bei Dritten für ein bestimmtes Aussageverhalten einzusetzen.

b) Auch der Zweck der Untersuchungshaft und der sie flankierenden Anordnungen gebietet, die Verdunkelungsgefahr im Sinne des § 119 Abs. 1 S. 1 StPO weit auszulegen und der Vorschrift einen breiten Anwendungsbereich zu verschaffen, zumal der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 119 StPO keine inhaltliche Einschränkung der Überwachungsmöglichkeiten beabsichtigte (vgl. KK-StPO/Gericke aaO § 119 Rn. 23). Neben der Gewährleistung der Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und der Sicherung der Anwesenheit des Angeklagten im Strafverfahren zielen die Haftanordnung und die Beschränkungen darauf ab, eine – im Falle unkontrollierten Informationsaustauschs mit nahestehenden Dritten naheliegende – Störung der Tatsachenermittlungen durch Beweiserschwerung oder -vereitelung zu verhindern (vgl. KG NStZ-RR 2014, 377; MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl., § 119 Rn. 8, 10).Die Möglichkeit, Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO zu treffen, die die Einflussnahme auf mögliche Zeugen verhindern sollen, ist zudem vor dem Hintergrund der Regelung des § 243 Abs. 2 S. 1 StPO zu sehen, die ebenfalls die Unbefangenheit der Zeugen bewahren und schützen will, die unbeeinflusst bzw. ohne Kenntnis der Einlassung des Angeklagten und der Bekundungen anderer Beweispersonen aussagen sollen (KK-StPO/Schneider, 9. Aufl., § 243 Rn. 14). Das Gebot bestmöglicher Aufklärung (vgl. MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl., § 243 Rn. 19) ist nur gewahrt, wenn mit der Anwendung des § 119 Abs. 1 StPO und des § 243 Abs. 2 S. 1 StPO dafür Sorge getragen wird, dass Beeinflussungen der Beweispersonen nicht erst im Zuge der Hauptverhandlung, sondern schon während der Untersuchungshaft ausgeschlossen werden. All dies spricht ferner dafür, die Anforderungen an die Begründung für angeordnete Beschränkungsmaßnahmen nicht zu überspannen.c) An alldem vermag ein bereits ergangenes nicht rechtskräftiges Urteil nichts zu ändern. Beruht das angefochtene Urteil nicht auf einem Geständnis, sodass im Falle einer Urteilsaufhebung erneut die verfügbaren Beweismittel herangezogen werden müssen, um die notwendigen Feststellungen treffen zu können, besteht bei unkontrolliertem Informationsaustausch die Verdunkelungsgefahr regelmäßig fort, sodass Beschränkungsanordnungen unverändert erforderlich sind. Denn dass ein nicht geständiger Angeklagter aufgrund von Beweismitteln verurteilt wurde, spricht nicht gegen, sondern gerade für das Vorliegen einer Verdunkelungsgefahr (OLG Frankfurt a. M., BeckRS 2023, 34377).

Anders verhält es sich nur dann, wenn der Sachverhalt in vollem Umfang und durch gesicherte Beweise in einer Weise aufgeklärt ist, dass der Angeklagte die Wahrheitsermittlung nicht mehr erfolgreich wird behindern können (KG, BeckRS 2022, 38740). So besteht etwa dann, wenn ein Angeklagter in der letzten Tatsacheninstanz den gesamten Tatvorwurf einschließlich des Vor- und Nachtatgeschehens, der Tathintergründe und aller relevanten Begleitumstände umfassend eingeräumt hat, keine begründete Gefahr mehr, dass anlässlich nicht überwachter Kontakte Verdunkelungshandlungen abgesprochen werden mit der Folge, dass angeordnete Beschränkungen nur noch daran zu messen sind, ob sie zur Abwehr einer Fluchtgefahr erforderlich sind (OLG Stuttgart aaO).

Die Erwägung, eine Verdunkelungsgefahr könnte nach einem ergangenen Urteil schon deshalb entfallen, weil Inhalte bisheriger Zeugenaussagen durch Bekundungen der am Verfahren beteiligten Richter und Staatsanwälte eingeführt werden können (offengelassen von KG, BeckRS 2022, 38740), überzeugt nicht und ließe den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr leerlaufen. Verfahrensbeteiligte vorangegangener Instanzen bieten als Zeugen vom Hörensagen schon keinen vollwertigen Ersatz für die Vernehmung unmittelbarer Zeugen. Die Möglichkeit, Aussagen mittelbarer Zeugen, denen häufig nur minderer Beweiswert zukommt, ersatzweise einzuführen, beseitigt für sich genommen die – vom Gefangenen ausgehende – Verdunkelungsgefahr nicht. Überdies müssten mit der Prüfung des § 119 Abs. 1 StPO befasste Strafkammervorsitzende bzw. Beschwerdegerichte entweder die Erfolgsaussichten des Rechtsmittelangriffs gegen das ergangene Urteil prognostizieren oder – den Erfolg des Rechtsmittels unterstellt – den Beweisaufnahmeverlauf einer erneuten Hauptverhandlung antizipieren. Abgesehen davon, dass dies kaum praktikabel und mit dem im Instanzenzug vorgesehenen Zuständigkeitsgefüge schwerlich vereinbar erscheint, ist zu bedenken, dass in größeren Fällen die schriftlichen Urteilsgründe als Prüfungsgrundlage nicht sofort, sondern oft erst nach Monaten vorliegen werden.

d) Der Senat hat bei alledem weder die gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung außer Acht gelassen noch verkannt, dass bis zur Rechtskraft des Urteils für Untersuchungsgefangene die Unschuldsvermutung gilt und die Beschränkungen deren Grundrechte tangieren. Allerdings ist zu beachten, dass der Sicherstellung der Aburteilung von Straftätern als Teil des Rechtsstaatsprinzips ebenfalls Verfassungsrang zukommt (vgl. nur BVerfG NJW 2013, 1058, 1060; KK-StPO/Fischer, 9. Aufl., Einl. Rn. 88) und Beschränkungen in Form von Überwachungen der Außenkontakte nur einen vergleichsweise geringfügigen Eingriff darstellen, da Kontakt und Kommunikation des Untersuchungsgefangenen gerade nicht unterbunden werden.

2. Ausgehend von diesen Maßstäben liegen hier ausreichende Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsgefahr vor, die die angeordneten Beschränkungen rechtfertigen. Gegen die nicht geständige Angeklagte wurde wegen eines Kapitalverbrechens eine langjährige Freiheitsstrafe verhängt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die Gefahr des unkontrollierten Informationsaustausches mit nahestehenden, als Zeugen in Betracht kommenden Personen besteht unverändert fort. Der Verdunkelungsgefahr kann nicht anderweitig begegnet werden. Die angeordneten Beschränkungen sind im Hinblick auf die betroffenen Interessen und Rechtsgüter weiterhin erforderlich und angesichts des Tatvorwurfs aus dem Bereich der Schwerkriminalität und der Gefahren für die Wahrheitsfindung verhältnismäßig. Darauf, dass bereits konkrete Vertuschungs- bzw. Verdunkelungshandlungen festgestellt wurden – die Angeklagte tauschte sich vor ihrer Inhaftierung mit Dritten über die Schuld- und Rechtsfolgenfrage betreffende Umstände aus – kommt es demgegenüber nicht mehr an.“

Na ja, kann man m.e. auch anders sehen-

StPO I: Sicherungshaftbefehl bei Ausbleiben in der HV?, oder: Warum immer gleich die Brechstange?

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Und heute dann StPO-Entscheidungen, alle drei haben mit Zwangsmaßnahmen zu tun oder hängen damit zusammen.

Ich eröffne den Reigen mit dem OLG Nürnberg, Beschl. v. 19.03.2024 -Ws 188/24 -, in dem das OLG zu den Voraussetzungen für einen Sicherungshaftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO geht.

Der Angeklagte war zur Hauptverhandlung nicht erschienen. Er hatte sich damit entschuldigt, dass er verschlafen habe. Das AG erlässt HB nach § 230 Abs. 2 StPO. Der Angeklagte wird festgenommen. Er legt gegen den Haftbefehl Beschwerde ein, die keinen Erfolg hat. Dagegen die weitere Beschwerde, die der Angeklagte aufrecht erhält, nachdem er nach Verurteilung in der Hauptverhandlung entlassen worden ist. Die weitere Beschwerde hatte beim OLG ERfolg:

„Die zulässige weitere Beschwerde hat in der Sache Erfolg.

1. Die weitere Beschwerde ist zulässig. Eine prozessuale Überholung durch die zwischenzeitliche erfolgte Aufhebung des Haftbefehls und die Freilassung des Beschwerdeführers ist nicht eingetreten. Das Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers an der Überprüfung der Haftentscheidung besteht fort. Dass der Haftbefehl mit dem Abschluss der Hauptverhandlung am 23.01.2024 gegenstandslos geworden ist, führt angesichts der Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung nicht dazu, dass das Interesse des Beschwerdeführers an gerichtlichem Rechtsschutz, hinter dem bei einer weiteren Inhaftierung gebotenen zurückbleibt oder gänzlich entfällt. Das ursprüngliche Interesse auf gerichtlichen Schutz gegen den vollzogenen Haftbefehl wandelt sich vielmehr in ein Feststellungsinteresse hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung (KK-StPO/Gmel/Peterson, 9. Aufl. 2023, StPO § 230 Rn. 17; BVerfG Beschluss vom 21.09.2017, 2 BvR 1071/15).

2. Die weitere Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Auf die weitere Beschwerde des Angeklagten ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss des Landgerichts Weiden i.d.OPf. vom 16.01.2024 und der Haftbefehl des Amtsgerichts Weiden i.d.OPf. vom 09.01.2024 rechtswidrig waren.

a) Die Voraussetzungen des § 230 Abs. 2 StPO liegen zwar insoweit vor, als der Angeklagte zum Termin vom 09.01.2024 ordnungsgemäß mit der Belehrung über die Folgen unentschuldigten Fernbleibens geladen wurde und ohne genügende Entschuldigung zum Termin nicht erschienen ist.

b) Der Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO war aber unverhältnismäßig. Der Erlass eines Vorführungsbefehls wäre ausreichend gewesen.

aa) Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht ein Stufenverhältnis. Grundsätzlich ist zunächst das mildere Mittel der polizeilichen Vorführung anzuordnen.

Dies hat der Gesetzgeber zuletzt in der Begründung des am 25.7.2015 in Kraft getretenen Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe bei der Einfügung des Halbsatzes „soweit dies zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten ist“ in § 230 Abs. 2 StPO zum Ausdruck gebracht. Damit soll künftig ausdrücklich auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Bezug genommen werden. Eine inhaltliche Änderung ist hiermit nicht verbunden, denn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der jede Anwendung staatlichen Zwangs den rechtsstaatlichen Erfordernissen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne unterwirft, schränkt die Anwendung des § 230 Abs. 2 StPO bereits nach geltendem Recht ein. Das Wort „soweit“ soll deutlicher als bisher darauf hinweisen, dass dem Vorführungsbefehl stets der Vorrang vor dem Haftbefehl zu geben ist (siehe auch BVerfG, Beschluss vom 27.10.2006, 2 BvR 473/06, NJW 2007, 2318, 2319)“ (BT-Drs. 18/3562, S. 66).

Der Erlass eines Haftbefehls wird danach in der Regel nur in Betracht kommen, wenn der Versuch der Vorführung zum Termin gescheitert ist und/oder mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist, dass die Anwesenheit des Angeklagten durch eine Vorführung sichergestellt werden kann (BeckOK StPO/Gorf, 50. Ed., StPO § 230 Rn. 13-14, m.w.N.). Nur dies wird dem verfassungsrechtlichen Anspruch gerecht, dass bei einer den Bürger belastenden Maßnahme Mittel und Zweck im angemessenen Verhältnis zueinanderstehen müssen (vgl. BVerfG aaO; Sächs. VerfGH, Beschluss vom 26.03.2015 – Vf. 26-IV-14; OLG Braunschweig NdsRpfl 2012, 313).

Ohne eine Vorführung versucht zu haben, ist der Erlass eines Haftbefehls nur in seltenen Ausnahmefällen verhältnismäßig; ein solcher Fall liegt etwa dann vor, wenn feststeht, dass der Angeklagte auf keinen Fall erscheinen will (vgl. KG, Beschluss vom 22.07.2019, 4 Ws 69/19, 161 AR 169/19m.w.N.) oder die Vorführung wahrscheinlich deshalb aussichtslos sein wird, weil der Aufenthaltsort des Angeklagten unbekannt ist oder die begründete Sorge besteht, dass der Angeklagte vor einer Vorführung untertauchen wird (BeckOK StPO/Gorf, ebenda).

Wenn das Gericht demgegenüber sofort zum Mittel des Haftbefehls greift, muss aus seiner Entscheidung deutlich werden, dass es eine Abwägung zwischen der polizeilichen Vorführung und dem Haftbefehl vorgenommen hat. Die Gründe, warum ausnahmsweise sofort die Verhaftung des Angeklagten angeordnet worden ist, müssen tragfähig sein und in dem Beschluss in einer Weise schlüssig und nachvollziehbar aufgeführt werden, dass sie in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Gericht im Rahmen seiner Eigenkontrolle gewährleisten. Von entsprechenden Darlegungen kann nur abgesehen werden, wenn die Nachrangigkeit des Freiheitsanspruchs offen zutage liegt und sich daher von selbst versteht (vgl. KG, ebenda, m.w.N.; zum ganzen so bereits OLG Nürnberg Beschluss vom 10.08.2021, Ws 734/21, unveröffentlicht; OLG Nürnberg Beschluss vom 09.03.2023, Ws 207/23).

bb) Diesen Anforderungen wird der angefochtene Haftbefehl in der Gestalt des Beschlusses des Landgerichts Weiden i.d.OPf. nicht gerecht. Es ist nicht ersichtlich, dass die mildere Anordnung der Vorführung aussichtslos sein wird. Die Begründungen der Nichtabhilfeentscheidungen des Amtsgerichts Weiden i.d.OPf. und des Landgerichts Weiden i.d.OPf. tragen den Erlass eines Haftbefehls anstelle der grundsätzlich vorrangigen Vorführung nicht.

Konkrete Anhaltspunkte für die Annahme, es handle sich bei der Einlassung des Angeklagten, er habe verschlafen, um eine Schutzbehauptung, werden nicht genannt und sind auch nicht ersichtlich. Vielmehr spricht der Umstand, dass der Angeklagte sich am Tag der anberaumten Hauptverhandlung um 9:24 Uhr bei der Geschäftsstelle meldete, für die Glaubhaftigkeit dieser Angabe. Die Arbeitstätigkeit im Schichtdienst wurde von dem Angeklagten selbst unter Vorlage einer Arbeitgeberbescheinigung vorgetragen. Wohn- und Arbeitsort waren dem Amtsgericht damit bekannt. Eine Vorführung erscheint unter diesen Umständen durchaus erfolgversprechend und nicht aussichtslos.

Dass mit dem Haftbefehl die Durchführung der Hauptverhandlung mit vier Zeugen und einem Dolmetscher gesichert werden sollte, rechtfertigt nicht den Erlass eines Haftbefehls, auch wenn es nachvollziehbar ist, dass den Beteiligten ein nochmaliges erfolgloses Erscheinen erspart werden sollte. Bei einer erfolgreichen Vorführung des Angeklagten hätten die Zeuge aber auch kein weiteres Mal bei Gericht erscheinen müssen.

Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass es dem unter laufender Reststrafenbewährung stehenden Angeklagten um eine Verzögerung der Hauptverhandlung ging, sind nicht ersichtlich und werden auch nicht angeführt. Aus dem vorgemerkten Bewährungszeitende am 21.08.2024 kann dies jedenfalls nicht geschlossen werden, da eine Entscheidung über den Straferlass bei Anhängigkeit weiterer Strafverfahren grundsätzlich zurückzustellen wäre (F., StGB, 71. Aufl. § 56g Rn. 2).

Die dem Angeklagten zur Last gelegten Straftaten sind auch nicht geeignet, durchgreifende Zweifel an einer erfolgreichen Vorführung zu begründen. Dass dem Angeklagten in der Anklageschrift Vereitelungs- und Täuschungshandlungen zur Last gelegt wurden, bietet keine hinreichende Tatsachengrundlage für die Annahme, dass eine Vorführung des Angeklagten zu einem neuen Hauptverhandlungstermin erfolglos bleiben wird. Dasselbe gilt für eine Zugehörigkeit zur „Rauschgiftszene“, zumal sich aus dem Bundeszentralregister ergibt, dass der Angeklagte die letzte Straftat im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln im 2019 begangen hat.

Die Annahme, der Angeklagte werde sich dem künftigen Strafverfahren entziehen, ist somit ohne tragfähige Grundlage. Es ist vielmehr in einer Gesamtschau davon auszugehen, dass der Angeklagte, der über einen festen Wohnsitz mit seiner Ehefrau und seinen zwei Kindern sowie über eine feste Arbeitsstelle verfügt und sich zeitnah nach Beginn des ersten Hauptverhandlungstermins am 09.01.2024 telefonisch bei der Geschäftsstelle meldete und sein Verschlafen mitteilte, erfolgreich hätte vorgeführt werden können.“

Manchmal fragt man sich, warum eigentlich immer gleich die Brechstange herhalten muss. Das, was das OLG schreibt, ist doch nicht neu. Sollten AG und LG kennen.

 

StPO III: Verwertbarkeit von ANOM-Chatverläufen, oder: Unverwertbar ==> kein dringender Tatverdacht

Bild von Couleur auf Pixabay

Und dann zum Tagesschluss noch eine Entscheidung zur Verwertbarkeit von ANOM-Chatverläufen als Beweismittel. Ergangen ist der LG Fulda, Beschl. v. 18.04.2024 – 1 Kls 131 Js 194/23 – in einem Verfahren, in dem dem Angeklagten umfangreiche Verstöße gegen das BtMG zur Last gelegten werden. Als Beweismittel stehen neben Zeugenaussagen der polizeilichen Ermittlungsbeamten nur die ANOM-Chatverläufe mit potentiellen Lieferanten zur Verfügung.

Gegen den Angeklagten wurde im Oktober 2023 Haftbefehl erlassen. Das LG hat den jetzt aufgehoben. Es verneint einen dringenden Tatverdacht. Nach seiner Auffassung sind die Chat-Verläufe nicht verwertbar:

„Nach derzeitigem Ermittlungsstand erscheint eine Verwertbarkeit der Anom-Chats als Beweismittel aber zweifelhaft.

….

2. Die Verwertbarkeit der aus der Auswertung des „ANOM“-Chatverkehrs gewonnenen Erkenntnisse werden derzeit von der Rechtsprechung uneinheitlich beurteilt (vgl. OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 2211.2021 — 1 HEs 427/21; OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 14.02.2022 — 1 HEs 509/21, 1 HEs 510/21, 1 HEs 511/21, 1 HEs 512/21, 1 HEs 513/21, 1 HEs 514/21 sowie OLG Karlsruhe, Beschluss vom 04.01.2024 — 3 Ws 353/23; a. A. OLG München, vom 19.10.2023 —1 Ws 525/23). Eine Entscheidung des BGH zur Frage der Verwertbarkeit von „ANOM“-Chats existiert noch nicht. Nach Auffassung der Kammer bestehen Zweifel hinsichtlich der Verwertbarkeit der „ANOM“-Chats.

Zwar sieht das deutsche Recht keine ausdrückliche Verwendungsbeschränkung für im Wege der Rechtshilfe aus dem europäischen Ausland erlangte Daten vor.

Nach der Rechtsprechung des BGH (vgl. u.a. Beschluss des BGH vom 02.03.2022, 5 StR 457/21) lässt aufgrund des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ein von den nationalen deutschen Vorschriften abweichendes Verfahren die Verwertbarkeit von im Ausland erhobenen Beweisen grundsätzlich unberührt und verpflichtet die deutschen Gerichte nicht dazu, die Rechtmäßigkeit von originär im Ausland geführten Ermittlungsmaßnahmen anhand der Vorschriften des ausländischen Rechts auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Beweisverwertungsverbote greifen nur in Ausnahmefällen ein, etwa, wenn die im Ausland erhobenen Beweise unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien wie etwa Art. 3 oder Art. 6 EMRK, oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des „ordre public“ gewonnen wurden oder aber wenn die Ermittlungshandlung der Umgehung nationaler Vorschriften diente. Es muss also ein so schwerwiegender Mangel vorliegen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert ist. Nur das kann ein deutsches Gericht prüfen und feststellen.

a) Der Drittstaat ist weder der Bundesregierung noch dem Bundeskriminalamt bekannt. Ebenso wenig bekannt ist der Grund für dessen Geheimhaltung durch das FBI. Angeblich sollen die Gerichte dieses Drittstaates Beschlüsse erlassen haben, die eine Auswertung und Weitergabe dieser Daten an das FBI gestatten. Diese behaupteten Beschlüsse existieren zwar nach Auskunft des FBI, sind bislang aber auch nur vom Hörensagen bekannt und können nicht überprüft werden. Durch die Trennung von beweiserhebendem und beweisverwertendem Staat werden bei der Verwertung von ANOM-Chats die Verteidigungsrechte von Beschuldigten erheblich beschränkt. Für einen Beschuldigten besteht bei dieser Sachlage in Ermangelung eines gerichtlichen Beschlusses keine Möglichkeit, den Beschluss zu überprüfen und sich gegen den Beschluss im beweiserhebenden Drittland gerichtlich zur Wehr zu setzen. Dem Beschuldigten ist in diesem Falle jegliche Prüfungs- und Rechtsmittelmöglichkeit hinsichtlich des Eingriffsbeschlusses des Drittlandes versagt. Dies verstößt möglicherweise gegen Art. 6 Abs. 3 EMRK sowie den ordre public und würde bereits deswegen zu einem Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der aus der Maßnahme gewonnenen Daten führen (vgl. BeckOK StPO/Graf, 50. Ed. 1.1.2024, StPO § 100a Rn. 99d). Auch die Kammer ist aufgrund des derzeitigen Ermittlungsstandes, wie er sich aus den vorgelegten Akten darstellt, nicht in der Lage, die Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze zu überprüfen, insbesondere ob eine Ausnahme vom Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung besteht.

b) Abschließend ist anzuführen, dass die Kammer nicht verkennt, dass das Strafverfahrensrecht keinen allgemein geltenden Grundsatz kennt, wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Beweisverwertungsverbot nach sich zieht. Ob ein solches eingreift, ist vielmehr jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Dabei ist zu beachten, dass die Annahme eines Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Deshalb handelt es sich bei einem Beweisverwertungsverbot um eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist. Maßgeblich beeinflusst wird das Ergebnis der danach vorzunehmenden Abwägung einerseits durch das Ausmaß des staatlichen Aufklärungsinteresses, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Andererseits ist das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes von Belang, das sich vor allem danach bemisst, ob der Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ein Beweisverwertungsverbot geboten, wenn die Auswirkungen des Rechtsverstoßes dazu führen, dass dem Beschuldigten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben, die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind oder die Informationsverwertung zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde.

Vorliegend wird dem Angeschuldigten jegliche Möglichkeit genommen, die Rechtmäßigkeit der Informationsgewinnung in dem unbekannten Drittstaat zu überprüfen und ihm somit jegliche Möglichkeit, zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des auf diesen Informationen beruhenden Verfahrens genommen wird.

Die Bejahung der Verwertbarkeit der Anom-Chats führt im Ergebnis dazu, dass sich deutsche Gerichte allein auf die Behauptung des FBI — einer nicht zur EU gehörenden Polizei- und Geheimdienstbehörde — verlassen und auf jegliche richterliche Überprüfung der Richtigkeit dieser Angaben und der Rechtmäßigkeit der Verfahrensweise verzichten müssen.

Da die Verwertbarkeit der Anorn-Chats nach derzeitigem Verfahrensstand somit fraglich ist, kann hierauf kein dringender Tatverdacht gestützt werden.“