Archiv für den Monat: Dezember 2023

Ich habe da mal eine Frage: Habe ich zweimal die Nr. 4106 VV RVG verdient?

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Vor dem 3. Adventswochenende dann hier noch das RVG-Rätsel mit einer recht frischen Frage eines Kollegen, und zwar:

„Guten Tag Herr Burhoff,

ich habe eine gebührenrechtliche Frage, die sich um die Pflichtverteidigung und die Rücknahme einer Anklage dreht.

Ich bin einem jugendlichen Mandanten als Pflichtverteidiger beigeordnet worden.
Ihm wird vorgeworfen an einem Raub als Mittäter teilgenommen zu haben. Tatort ist pp 1 in Thüringen.

Zum Zeitpunkt der Beiordnung hat der Mandant in Niedersachsen im Zuständigkeitsbereich des AG pp 2 gewohnt.

Er kommt dann in eine Jugendeinrichtung in Sachsen-Anhalt im Zuständigkeitsbereich des AG pp. 3. Die dafür zuständig StA pp 4 erhebt Anklage beim AG pp. 3.

Das AG pp. 3. will die Sache wegen des Umfangs der Zeugenvernehmung an das LG pp 4  abgeben.

In der Zwischenzeit zieht der Mandant wieder in den Zuständigkeitsbereich des AG pp 2.

Daraufhin nimmt die StA pp. 4 die Anklage zurück, gibt die Akte an die nun zuständige StA pp 2 ab, die dann zum AG pp. 2 Jugendschöffengericht Anklage erhebt.

Habe ich durch die erneute Anklage zu einem anderen Gericht nun zweimal die Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG verdient?

Ihre Anmerkung zu LG Duisburg 12.9.11, 31 KLs 183 Js 318/10 (39/10) habe ich gefunden, doch da ist die Anklage nach Rücknahme zum gleichen Gericht erfolgt.“

Wenn die Kostengrundentscheidung für Auslagen fehlt, oder: Umdeutung des Kostenfestsetzungsantrages?

Und als zweite, na ja, dritte, Entscheidung des Tages kommt hier der OLG Hamm, Beschl. v. 14.11.2023 – 3 Ws 376/23 – zur Umdeutung eines Kostenfestsetzungsantrages, eine Problematik, die die Gerichte immer mal wieder beschäftigt. Denn die Umdeutung eines Kostenfestsetzungsantrages in eine sofortige Beschwerde gegen eine Kostengrundentscheidung ist häufig die einzige Möglichkeit ggf. vielleicht doch noch nachträglich die „Nachholung“ einer „vergessenenW Auslagenentscheidung zu erreichen.

So auch hier. Der Angeklagte war vom AG vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen worden. Dagegen hatte der Nebenkläger Berufung eingelegt, die er in der Berufungshauptverhandlung zurück genommen hat. Darauf hat das LG eine Entscheidung getroffen, die im Sitzungsprotokoll wie folgt wiedergegeben ist: „Der Nebenkläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens, nachdem er die Berufung zurückgenommen hat.“ Anschließend ist im Protokoll vermerkt: „Es wurde auf Rechtsmittelbelehrung und Rechtsmittel gegen diesen Beschluss verzichtet. Vorgelesen und genehmigt.

Mit seiner Beschwerde wendet sich nun der Angeklagte, der vergblich versucht hat, seine Auslagen festsetzen zu lassen, gegen die protokollierte Entscheidung. Das OLG hat die sofortige Beschwerde als unzulässig zurückgewiesen:

„Die sofortige Beschwerde ist unzulässig.

1. Statthaftes Rechtsmittel gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung ist gem. § 464 Abs. 3 StPO die sofortige Beschwerde. Diese hat der Angeklagte entgegen § 311 Abs. 2 StPO nicht innerhalb einer Woche ab Bekanntgabe eingelegt. Die Frist begann gem. § 35 mit Verkündung in der Berufungshauptverhandlung am 9. Juni 2022, in der der Angeklagte und sein Verteidiger anwesend waren. Mithin lief die Frist am 16. Juni 2022 ab. Der Angeklagte hat jedoch erst mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 7. April 2023, also nach Fristablauf, gegenüber dem Landgericht erklärt, höchst vorsorglich und hilfsweise sofortige Beschwerde gegen die Kostengrundentscheidung zu erheben.

2. Zwar hat der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 13. Juni 2022 innerhalb der Beschwerdefrist gegenüber dem Amtsgericht Kostenfestsetzung beantragt. Solche innerhalb der Beschwerdefrist gestellten Kostenfestsetzungsanträge werden von der Rechtsprechung gelegentlich als sofortige Beschwerden gegen die Kostengrundentscheidung ausgelegt (vgl. die Nachweise bei Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Auflage 2023, § 464, Rn. 12).

Im vorliegenden Fall scheidet eine solche Umdeutung indes mangels hinreichend erkennbaren Willens des Verurteilten, gegen die Kostengrundentscheidung vorzugehen, aus (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 26. Februar 2004 – 5 Ws 696/03 -, juris). Denn er hat seinen Kostenfestsetzungsantrag durchgehend darauf stützen lassen, am Schluss der Hauptverhandlung sei eine – der gesetzlichen Regelung in § 473 Abs. 1 Satz 3 StPO entsprechende – Auslagenentscheidung zu seinen Gunsten getroffen worden. Für eine Abänderung der Kostenentscheidung durch das Rechtsmittelgericht ist demnach kein Raum.

So hat er seinen Kostenfestsetzungsantrag mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 14. Juli 2022 u. a. damit begründet, „… dass es eine solche Entscheidung [über die notwendigen Auslagen des Angeklagten betreffend die zweite Instanz] gibt. Am Ende der Berufungshauptverhandlung hat die Berufungskammer die notwendigen Auslagen des Angeklagten für das Berufungsverfahren dem Nebenkläger auferlegt…“. Mit weiterem Schriftsatz vom 7. April 2023 hat er Protokollberichtigung beantragt und auch in diesem Antrag ausgeführt: „… Im Anschluss beschloss die Frau Vorsitzende, dass die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen dem Nebenkläger auferlegt werden. Genau aus diesem Grunde habe ich unmittelbar im Nachgang zum HVT mit Schriftsatz vom 13.06.2022 … beantragt, die notwendigen Auslagen des Angeklagten betreffend die zweite Instanz gegen den Nebenkläger festzusetzen. … All dieser Schriftverkehr … unmittelbar im Nachgang zum Hauptverhandlungstermin wäre völlig sinnlos gewesen, wenn es eine solche Entscheidung tatsächlich (mündlich) nicht gegeben hätte…“ Daran hat er selbst in seiner Gegenerklärung zur Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft mit Schriftsatz vom 2. November 2023 festgehalten: „Aus § 473 Abs. 1. S. 3 StPO ergibt sich die zwingende gesetzliche Folge, dass, wenn allein der Nebenläger ein Rechtsmittel eingelegt oder durchgeführt hat, ihm die dadurch erwachsenen notwendigen Auslagen des Beschuldigten (Angeklagten) aufzuerlegen sind. Genau diese Entscheidung wurde – anders als im Protokoll niedergeschrieben – getroffen. Es wäre mehr als sinnfrei, wenn der Angeklagte bei einer solchen Konstellation und einer solchen (vermeintlichen) Kostenentscheidung auf Rechtsmittel verzichten würde. Damit wäre auch keinesfalls in Einklang zu bringen, dass am 13.06.2022 für den am 09.06.2022 stattgefundenen HVT von Seiten der Verteidigung ausdrücklich beantragt wurde, die ‚Gebühren und Auslagen der zweiten Instanz gegen den Nebenkläger festzusetzen‘“. Beanstandet wird damit nicht die Unrichtigkeit der Kostengrundentscheidung, sondern ihre Wiedergabe im Protokoll und die darauf beruhende, aus Sicht des Angeklagten falsche Behandlung des Kostenfestsetzungsantrags.

3. Auch eine Wiedereinsetzung in die versäumte Wochenfrist zur Erhebung der sofortigen Beschwerde gem. §§ 44, 45 StPO scheidet aus. Denn der Angeklagte hat entgegen § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht dargetan, ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert gewesen zu sein.

Zwar ist die Versäumung der Frist gem. § 44 Satz 2 StPO als unverschuldet anzusehen, wenn eine Rechtsmittelbelehrung unterblieben ist. Dies gilt allerdings nicht, wenn die Verteidigung auf die Rechtsmittelbelehrung verzichtet hat (Schmitt, a. a. O., § 44, Rn. 22). Daran bestehen hier keine Zweifel. Der Verzicht ist nicht nur in das Protokoll über die Berufungshauptverhandlung aufgenommen, vorgelesen und genehmigt worden, so dass er an der förmlichen Beweiskraft des Protokolls gem. §§ 274, 273 Abs. 3 Satz 1 StPO teilnimmt. Er wird darüber hinaus von der Verteidigung – wie erörtert – ausdrücklich auch als Beleg dafür herangezogen, dass am Schluss der Hauptverhandlung eine Auslagenentscheidung zu Gunsten des Angeklagten getroffen worden ist.“

Tja, das war es dann. Voraussetzung für eine Umdeutung ist eben ein hinreichend erkennbarer Willen des Verurteilten gegen die Kostengrundentscheidung vorzugehen (neben KG, Beschl. v. 26.02.2004 – 5 Ws 696/03 u.a. auch KG, Beschl. v. 14.08.2007 – 1 AR 1086/071 Ws 107/07; OLG Rostock, Beschl. v. 11.04.2008 – 5 W 63/08). Das wird aber insbesondere dann verneint, wenn der Antragsteller zu erkennen gibt, dass er erst im Kostenfestsetzungverfahren auf das Fehlen einer Kostengrundentscheidung hingewiesen wurde und ihm dies zunächst nicht aufgefallen ist. Dabei macht es natürlich einen Unterschied, ob es sich um eine rechtskundige Person, wie z.B. hier ein Rechtsanwalt, handelt.

Und: Vorsicht ist geboten, wenn in der Hauptverhandlung auf Rechtsmittel verzichtet wird. Denn ein Rechtsmittelverzicht ist endgültig. Wiedereinsetzung ist, wenn der Verzicht dann ins Protokoll aufgenommen worden ist, nicht mehr möglich.

Absehen von der Kostenauferlegung im JGG-Verfahren, oder: Wirtschaftliche Gefahr versus Erziehungsgedanke

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Am „Gebührenfreitag“ heute dann mal keine gebührenrechtlichen Entscheidungen, sondern zwei kostenrechtliche Beiträge.

Ich beginne mit dem OLG Nürnberg, Beschl. v. 09.11.2023 – Ws 982/23, den mir die Kollegin Braun aus München geschickt hat. Es geht um die Kostenauferlegung im JGG-Verfahren. Dort sieht § 74 JGG vor, dass im JGG-Verfahren von der Auferlegung von Kosten und Auslagen auf den Jugendlichen abgesehen werden kann. Dazu hat das OLG Stellung genommen.

In dem Verfahren hatte die Jugendkammer beim LG die zum Tatzeitpunkt jugendliche Verurteilte mit Urteil v. 24.4.2023 unter Anwendung von Jugendstrafrecht wegen fünf Fällen der Beihilfe zum Diebstahl mit Sachbeschädigung schuldig gesprochen, ihr eine Geldauflage in Höhe von 500 EUR erteilt und sie für die Dauer von einem Jahr der Aufsicht und Betreuung eines Betreuungshelfers unterstellt. Die Mitverurteilten wurden jeweils wegen fünf Fällen des schweren Bandendiebstahls mit Sachbeschädigung zu Gesamtfreiheitsstrafen oder einer Einheitsjugendstrafe mit Bewährung verurteilt. Der Verurteilung lag zu Grunde, dass die Verurteilte die Mitangeklagten bei Begehung von Diebstählen unterstützte, indem sie während der Taten im Fahrzeug wartete, um diese vor etwaiger Entdeckung zu warnen.

Nachdem die Staatsanwaltschaft beantragt hatte, bei der Verurteilten von der Auferlegung von Kosten abzusehen, hat das LG angeordnet, dass die Verurteilte und zwei Mitverurteilte die Kosten des Verfahrens zu tragen haben. Von der Möglichkeit des § 74 JGG, aus erzieherischen Gründen von der Auferlegung von Kosten abzusehen. hat das LG keinen Gebrauch gemacht.

Hiergegen wendet sich dann die Verurteilte über ihre Verteidigerin mit der sofortigen Beschwerde. Sie ist der Auffassung, dass das LG sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt habe, weil die Kostenentscheidung nicht berücksichtige, dass ein Großteil der angefallenen Kosten nicht auf den Tatbeitrag der Verurteilten zurückzuführen sei. Zudem sei es aus erzieherischen Gründen geboten, dass die Verurteilte, die derzeit in einem befristeten Arbeitsverhältnis arbeite, eine Berufsausbildung beginne, was angesichts der Kostentragungslast von geschätzt 20.000 EUR erschwert werde. Hinzu komme, dass sie als jüngste der Verurteilten wegen der Inhaftierung der anderen kostentragungspflichtigen Verurteilten voraussichtlich allein die Kosten tragen müsse, was unverhältnismäßig sei. Schließlich ergebe sich aus der Urteilsbegründung des LG, dass die Auferlegung der Kosten der zusätzlichen Sanktionierung dienen solle, was mit dem Erziehungsgedanken des JGG unvereinbar sei.

Die sofortige Beschwerde der Verurteilten hatte beim OLG Erfolg:

„1. Die Entscheidung, der zur Tatzeit jugendlichen Verurteilten gemäß § 74 JGG die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, ist eine Ermessensentscheidung, die von dem Beschwerdegericht lediglich auf Ermessensfehler überprüfbar ist. Maßstab der Ermessensentscheidung ist es. einerseits eine wirtschaftliche Gefährdung der Verurteilten zu vermeiden, andererseits, ihr durch die Auferlegung von Kosten zu zeigen, dass sie für die Folgen ihres Tuns unter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens einzustehen hat. Dabei ist im Rahmen der pflichtgemäßen Ermessens-ausübung die Möglichkeit gemäß § 74 JGG – um Folgewirkungen im Sinne einer negativen Sanktionierung durch die Auferlegung der Kosten zu vermeiden – bei Jugendlichen tendenziell ausgedehnt zu nutzen (Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Auflage, § 74 Rn. 8c). Auch die Gesamtbelastung, die die Kostenentscheidung bewirkt, ist abwägungsrelevant (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14.02 2011, III – 4 Ws 59/11, juris: OLG Hamm, Beschluss vom 28.11.2017, III- 4 Ws 213/17, juris).

2. Die vom Landgericht getroffene Entscheidung genügt diesen Anforderungen nicht.

Zum einen führt das Landgericht aus, dass die festgesetzte Geldauflage der Höhe nach nur deshalb so gering bemessen wurde, weil die Verurteilte mit der Kostentragungspflicht belastet wird. Angesichts der Höhe der Kosten des Verfahrens tritt die eigentliche Rechtsfolge in den Hintergrund, was mit dem Erziehungsgedanken nicht zu vereinbaren ist (Eisenberg/Kölbel JGG/Kölbel, 24. Aufl. 2023, JGG § 74 Rn. 8d, LG Freiburg NStZ-RR 2000, 183).

Zum anderen begründet das Landgericht seine Entscheidung damit, dass die Verurteilte bei Berücksichtigung ihrer gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage bei einem Nettoverdienst von 1.500 Euro durch ihre auf sechs Monate befristete Tätigkeit in pp. imstande ist, die Kosten des Verfahrens in Raten zu begleichen. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass zum einen das Arbeitsverhältnis befristet ist und zum anderen die Jugendliche plant, eine Ausbildung zur Verkäuferin oder im Bereich Kosmetik zu machen. Für die – unter Erziehungsaspekten wünschenswerte – Beendigung der Hilfstätigkeit in pp. und Absolvierung einer Ausbildung ist die Belastung mit den gesamten Verfahrenskosten kontraproduktiv. Der Verurteilten, die derzeit noch bei ihren Eltern wohnt, wird damit die Gründung einer tragfähigen selbständigen Existenz durch eine Berufsausbildung über einen nicht absehbaren Zeitraum massiv erschwert.

Schließlich erscheint es fraglich, ob die gesamtschuldnerische Haftung mit den beiden Mitangeklagten, gegen die mehrjährige Freiheitsstrafen verhängt wurden, zu einer Entlastung der Verurteilten führt., wovon das Landgericht offenbar ausgeht.

3. Dies führt zur Aufhebung der Kostenentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Entscheidung (OLG Hamm Beschluss vom 28.11.2017, 4 Ws 213/17, beck-online).

Bei der neuen Entscheidung wird zu berücksichtigen sein, dass Maßstab der Ermessensentscheidung ist, einerseits eine wirtschaftliche Gefährdung der Verurteilten zu vermeiden, andererseits, ihr durch die Auferlegung von Kosten zu zeigen, dass sie für die Folgen ihres Tuns unter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens einzustehen hat (OLG Hamm, aaO), was auch mit einem teilweisen Absehen von der Auferlegung von Kosten möglich ist (Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Auflage, § 74 Rz. 8a).“

Das LG hat übrigens dann die – zutreffenden – Vorgaben des OLG verstanden und hat im LG Regensburg, Beschl. v. v. 22.11.2023 – KLs 403 Js 23928/22 jug von der Auferlegung der Kosten des Verfahrens und der gerichtlichen Auslagen auf die verurteilte Jugendliche abgesehen.

Pflichti III: Fahrerlaubnisentziehung beim Kraftfahrer, oder: Pflichtverteidiger trotz Betreuer

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Und dann zum Tagesschluss hier noch zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen (§ 140 Abs 1 oder 2 StPO), allerdings jeweils nur die Leitsätze, und zwar:

Droht dem Beschuldigten im Falle der Entziehung der Fahrerlaubnis der Verlust des Arbeitsplatzes und wäre er daran gehindert, den ausgewählten Beruf bis zu einem etwaigen Wiedererwerb der Fahrerlaubnis auszuüben, wiegt die zu erwartende Rechtsfolge schwer, so dass dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist.

Die Tatsache, dass dem Angeklagten ein Betreuer bestellt ist, ändert nichts an der Voraussetzung des § 140 Abs. 2 StPO, da sich die Aufgaben eines Betreuers und die eines Verteidigers grundlegend unterscheiden.

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Petitionsausschuss empfiehlt Prüfung der Frage

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Und im zweiten Posting dann eine Entscheidung des LG Halle zur „Dauerbrennerproblematik“ der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger. Um die Frage wird ja nach wie vor heftig gestritten, wobei die wohl h.N. inzwischen davon ausgeht – was m.E. auch richtig ist -, dass die nachträgliche/rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers zumindest dann zulässig ist, wenn der Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1 oder 2 StPO vorlagen und die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.

So jetzt dann auch noch einmal das LG Halle im LG Halle, Beschl. v. 21.11.2023 – 3 Qs 109/23 -, in dem das LG seine bisherige Rechtsprechung in der Frage bestätigt hat. Wegen der Einzelheiten der Begründung der Entscheidungen verweise ich auf den verlinkten Volltext. Die stelle ich nicht mehr ein, da ich über die Problemati in der letzten Zeit ja schon häufiger berichtet habe.

In meinen Postings habe ich auch immer wieder darauf hingewiesen, dass der Streit in der Rechtsprechung: Nachträgliche Bestellung zulässig ja oder nein?, letztlich wohl nicht eine Frage ist, die die Rechtsprechung (abschließend) entscheiden kann/wird, sonder m.E. der Gesetzgeber an der Stelle tätig werden muss. Sonst wird sich dieses Hin und Her und das Kleben – vor allem der Obergerichte – an alten Zöpfen, nämlich an Rechtsprechung aus der Zeit vor der Neuregelung der §§ 140 ff. StPO nie ändern/enden.

Und an der Stelle habe ich jetzt ein wenig Hoffnung, dass sich vielleich etwas bewegt. Denn es hat im Bundestag eine Petition gegeben, mit der der Petent gefordert hat, gesetzlich zu regeln, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers auch nach Abschluss des Strafverfahrens erfolgen kann, sofern die Beiordnung rechtzeitig beantragt worden war. Auf die hat mich der Kollege M. Höpfner aus Berlin hingewiesen. Diese Petition ist im Petitionsausschuss des Bundestages beraten worden. Und der Ausschuss hat empfohlen, die Petition der Bundesregierung, und zwar dem BMJ – zu überweisen. Wer Interesse an der Beschlussempfehlung hat, der Kollege hatte sie mir zur Verfügung gestellt. Ich habe sie hier eingestellt. Im Übrigen verweise ich auf die BT-Drucks. 20/9210.

Ich bin gespannt, was „unser (?) BMJ M. Buschmann macht. Im Zweifel wahrscheinlich (leider) gar nichts. Denn in der „Beschlussempfehlung“ heißt es (schon):

„Der Petitionsausschuss weist allerdings darauf hin, dass der BGH bislang noch nicht Gelegenheit gehabt hat, darüber zu entscheiden, ob und wie sich die Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung auf seine bisherige Rechtsprechung auswirkt. Angesichts dessen hat die Bundesregierung mitgeteilt, dass die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung abzuwarten“

Also: Abwarten? Na ja, der Petitionssausschuss hat zumindest ein wenig Druck gemacht, wenn es in der Beschlussempfehlung heißt:

„Demgegenüber ist der Petitionsausschuss der Ansicht, dass die überragende Bedeutung, die dem Recht auf ein faires Verfahren Zukommt, sowie das mit dem Gesetz zur Neuregelung. des Rechts der notwendigen Verteidigung verfolgte Ziel, auch mittellosen. Beschuldigten einen frühzeitigen Zugang zum Recht zu Bewähren, hinreichend Anlass geben, unter eben diesen Gesichtspunkten die Notwendigkeit der vom Petenten geforderten gesetzlichen Klarstellung zumindest zu prüfen.

Anderenfalls wäre unter Umständen eine Beeinträchtigung des notwendigen Rechts auf Verteidigung allein deshalb zu besorgen, weil die Frage nicht bzw. nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraumes höchstrichterlich geklärt wird.“