Archiv für den Monat: August 2023

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Rechtsfolge II: „Du hast nicht Abstand genommen“, oder: Unzulässige Doppelverwertung

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Doppelt, Kurve

Im zweiten Posting jetzt der BGH, Beschl. v. 23.05.2023 – 2 StR 428/22, eine klassische „Strafzumessungsentscheidung“.

Das LG hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Der Angeklagte hatte mit seiner Revision hinsichtlich der Rechtsfolgen Erfolg:

„3. Hingegen begegnet der Strafausspruch durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Soweit die Strafkammer zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt hat, des sich über einen langen, mehrere Stunden andauernden Tatzeitraums habe ihm – trotz seines eingeschränkten Konfliktbewältigungspotentials – zahlreiche Gelegenheiten geboten, von der Einwirkung auf seine Lebensgefährtin Abstand zu nehmen, besorgt der Senat, dass das Landgericht damit fehlerhaft dem Angeklagten entgegen § 46 Abs. 3 StGB zur Last gelegt hat, dass er die Tat überhaupt vollendete, anstatt davon Abstand zu nehmen und damit vom Versuch der Tötung zurückzutreten (vgl. BGH, Beschluss vom 27. November 2019 – 5 StR 467/19; ausf. mit weiteren Nachweisen zur Rspr. MK-Maier, StGB, 4. Aufl., § 46, Rn. 540). Das Landgericht beschränkt sich insoweit – wie die weitere Formulierung belegt, der Angeklagte habe sich über offenkundige, körperliche Ausfallerscheinungen hinweggesetzt, ohne sich hierdurch in seiner Tatbegehung beirren zu lassen – nicht lediglich darauf, das Tatunrecht in seiner konkreten Ausgestaltung in den Blick zu nehmen. Vielmehr würdigt es zu Lasten des zunächst mit Körperverletzungsvorsatz handelnden Angeklagten, dass dieser schließlich den Todeserfolg vorsätzlich herbeigeführt hat. Dies verstößt gegen § 46 Abs. 3 StGB.

b) Im Hinblick auf die Erwägung des Landgerichts, der Angeklagte habe seiner Tochter durch die Tat seine Mutter genommen, berücksichtigt es das mit nahezu jeder Tötung einhergehende Leid der Angehörigen. Dies stellt – wenn es sich nicht um besondere Auswirkungen der Tat handelt – keinen Strafschärfungsgrund dar (st. Rspr.; vgl. Senat, NJW 2017, 1253, 1255; zuletzt BGH, Urteil vom 4. April 2023 – 1 StR 488/22).“

Rechtsfolge I: Jugendstrafe beim „alten“ Jugendlichen, oder: Erziehungsgedanke im fortschreitenden Alter

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Den Tag gestalte ich hier heute mit Entscheidungen, die mit Rechtsfolgen zu tun haben. „Strafzumessung“ kann ich nicht als „Oberthema“ nennen, da auch eine Entscheidung aus dem Bußgeldverfahren vorgestellt wird.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 06.06.2023 – 2 StR 78/23 -, der sich mit den Anforderungen an die Jugendstrafe befasst. Der BGH hat die Veurteilung des Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten bei Strafaussetzung zur Bewährung aufgehoben:

„1. Es ist zwar rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht bei dem Angeklagten – zur Tatzeit Heranwachsender – Jugendstrafrecht angewendet und wegen Schwere der Schuld Jugendstrafe verhängt hat. Die Erwägungen des Landgerichts zur Höhe der Jugendstrafe erweisen sich hingegen als rechtsfehlerhaft; sie entsprechen nicht den Anforderungen des § 18 Abs. 2 JGG.

a) Nach dieser Vorschrift ist auch dann, wenn eine Jugendstrafe ausschließlich wegen Schwere der Schuld verhängt wird, bei der Bemessung der Strafhöhe der das Jugendstrafrecht beherrschende Erziehungsgedanke (§ 2 Abs. 1, § 18 Abs. 2 JGG) vorrangig zu berücksichtigen. Grundsätzlich ist zwar die in den gesetzlichen Regelungen des allgemeinen Strafrechts zum Ausdruck kommende Bewertung des Ausmaßes des in einer Straftat hervorgetretenen Unrechts auch bei der Bestimmung der Höhe der Jugendstrafe zu beachten. Die Begründung darf aber nicht wesentlich oder gar ausschließlich nach solchen Zumessungserwägungen vorgenommen werden, die auch bei Erwachsenen in Betracht kommen. Die Bemessung der Jugendstrafe erfordert vielmehr von der Jugendkammer, das Gewicht des Tatunrechts gegen die Folgen der Strafe unter erzieherischen Gesichtspunkten abzuwägen. Die Urteilsgründe müssen daher in jedem Fall erkennen lassen, dass dem Erziehungsgedanken die ihm zukommende Beachtung geschenkt worden ist. Eine formelhafte Erwähnung der erzieherischen Erforderlichkeit der verhängten Jugendstrafe genügt insoweit nicht (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 29. November 2017 – 2 StR 460/16, BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 12; Urteile vom 13. November 2019 – 2 StR 217/19 und vom 10. November 2021 – 2 StR 433/20, juris Rn. 29; BGH, Urteil vom 13. Dezember 2021 – 5 StR 115/21, juris Rn. 14; Urteil vom 21. Juli 2022 – 4 StR 177/22, juris Rn. 6; Beschluss vom 7. Februar 2023 – 3 StR 481/22, juris Rn. 14 ff.).

Zwar verliert der Erziehungsgedanke mit fortschreitendem Alter des Täters an Bedeutung, wohingegen – insbesondere bei besonders gravierenden Straftaten – das Erfordernis des gerechten Schuldausgleichs immer mehr in den Vordergrund tritt. Gleichwohl müssen grundsätzlich auch dann, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Verhängung der Jugendstrafe bereits das 21. Lebensjahr vollendet hat, die erzieherischen Auswirkungen der Strafe beachtet und abgewogen werden (vgl. Senat, Beschluss vom 29. November 2017 – 2 StR 460/16, BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 12; vgl. zum Sonderfall eines fehlenden Erziehungsbedarfs Senat, Urteil vom 13. November 2019 – 2 StR 217/19, NStZ 2020, 301).

b) Ungeachtet des Umstandes, dass in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Frage, in welchem Ausmaß dies zu geschehen hat, nicht abschließend geklärt ist, lassen die Urteilsgründe im vorliegenden Fall besorgen, dass es die zu berücksichtigenden erzieherischen Gesichtspunkte nicht hinreichend in den Blick genommen und das Gewicht des Tatunrechts nicht gegen die Folgen der Strafe gerade für die weitere Entwicklung des im Tatzeitraum 19 Jahre alten Angeklagten abgewogen hat.

Es ist bereits im Ausgangspunkt bedenklich, wenn das Landgericht gestützt auf eine Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 20. März 2019 – 3 StR 452/18, StV 2019, 466) davon ausgeht, bei einem 23 Jahre alten Angeklagten rücke statt des Erziehungsgedankens entsprechend dem Erwachsenenstrafrecht der Strafzweck des gerechten Schuldausgleichs in den Vordergrund. Eine solche Festlegung ist der genannten Entscheidung nicht zu entnehmen. Der Senat hat dort vielmehr betont, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Erziehungsgedanke bei der Bemessung der Jugendstrafe grundsätzlich immer einzustellen sei und die Urteilsgründe in jedem Fall erkennen lassen müssten, dass diesem die ihm zukommende Beachtung geschenkt worden sei. Soweit andere Strafzwecke, etwa derjenige eines gerechten Schuldausgleichs, ebenfalls in Ansatz zu bringen seien, sei vom Tatgericht im Rahmen einer umfassenden Abwägung festzulegen, welches Gewicht den einzelnen Zumessungserwägungen im Einzelfall zukomme.

Ungeachtet des rechtlich bedenklichen Maßstabs, den das Landgericht seiner Würdigung zugrunde gelegt hat, hat es nicht lediglich den Strafzweck des gerechten Schuldausgleichs „in den Vordergrund“ gerückt. Es hat sich vielmehr fast ausschließlich an im Erwachsenenstrafrecht geltenden Strafzumessungserwägungen orientiert, indem es vor allem das Geständnis des Angeklagten, seinen jeweiligen Tatbeitrag sowie das Maß der aufgewendeten kriminellen Energie, das Ausmaß der verursachten Verletzungen bzw. deren Fehlen, den Zeitablauf seit Begehung der Taten, den zeitlichen Zusammenhang zwischen den Taten, die lange Verfahrensdauer, die Belastung durch die erlittene Untersuchungshaft und die Vorstrafen herangezogen hat. Eine Auseinandersetzung mit der Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten und dem sich hieraus ergebenden konkreten Erziehungsbedarf hat es demgegenüber nicht vorgenommen. Der Erziehungsgedanke wird in den Urteilsgründen lediglich einmal formelhaft erwähnt, wenn die Strafkammer mitteilt, dass „bereits die Vollstreckung der – knapp 3-wöchigen – Untersuchungshaft nicht unerheblich erzieherisch auf den Angeklagten eingewirkt“ habe. Angesichts dessen und nicht zuletzt auch mit Blick auf die die Strafbemessung abschließende Erwägung des Landgerichts, wonach „unter Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände eine Jugendstrafe in der ausgeurteilten Höhe als „tat- und schuldangemessen“ erachtet werde, besorgt der Senat, dass es die Ausrichtung der Höhe der Jugendstrafe am Erziehungsgedanken vollständig aus dem Blick verloren hat.“

StPO III: Zustandekommen einer Verständigung, oder: Mitteilungs- und Belehrungspflicht

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Und als letzte Entscheidung heute dann noch der OLG Koblenz, Beschl. v. 20.07.2023 – 4 ORs 4 Ss 16/23 – zur Verletzung der Mitteilungs- und Belehrungspflicht in Zusammenhang mit dem Zustandekommen einer Verständigung. So ganz viele OLG-Entscheidungen gibt es zu der Problematik ja nicht.

Hier ist in einem Verfahren wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung unmittelbar nach der Belehrung des Angeklagten über seine Aussagefreiheit ein von der Verteidigung angeregtes Verständigungsgespräch geführt worden, wozu die Verhandlung unterbrochen wurde. Eine nachfolgende Wiedergabe vom wesentlichen Ablauf, Inhalt sowie Ergebnis von Verständigungsgesprächen nach §§ 257c, 273 Abs. la Satz 1 StPO sowie einer damit einhergehende Belehrung des Angeklagten lässt sich dem Hauptverhandlungsprotokoll ebenso wenig entnehmen wie das Negativattest gemäß § 273 Abs. 1 a Satz 3 StPO.

Das Hauptverhandlungsprotokoll verhält sich hierzu wie folgt:

Der Verteidiger erklärte:

Die Verteidigung regt ein Verständigungsgespräch an.

Die Hauptverhandlung wird um 12:35 Uhr unterbrochen.

Die Hauptverhandlung wird um 13:06 Uhr fortgesetzt.

Zur Sache erklärte der Verteidiger:

Mein Mandant räumt den Verstoß ein. Die Straßenverkehrsgefährdung in Verbindung mit der Nötigung. Er hat beschleunigt und dann kam der LKW immer näher, er musste dann schnell links rüber ziehen und ist dann vom Gas gegangen. Sein Fahrzeug hat stark entschleunigt, dadurch hat sich dann die Notbremsung des Geschädigten eingeschaltet.

Auf Nachfrage des Gerichts erklärte der Angeklagte:

Ich stimme dem zu.“

Der Angeklagte ist dann wegen Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit Nötigung zu einer Geldstrafe verurteilt, worden, zudem wurde ihm  unter Verhängung einer Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis von sechs Monaten diese entzogen. Dagegen dann die Revision, die mit der Verfahrensrüge Erfolg hatte:

2. Die Revision hat bereits mit der Verfahrensrüge Erfolg, sodass die ebenfalls erhobene Sachrüge keiner weiteren Prüfung bedarf.

Es liegt eine Verletzung formellen Rechts vor, da eine erforderliche Verfahrenshandlung unterblieben ist. Der Revisionsführer rügt zu Recht die – auch bewiesene – Verletzung von § 243 Abs. 4 Satz 2 iVm. § 273 Abs. 1 a Satz 2 StPO dadurch, dass die Tatrichterin nicht nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO über außerhalb der Hauptverhandlung tatsächlich geführte Verständigungsgespräche berichtet und den Angeklagten nicht nach § 257c Abs. 5 StPO belehrt hat.

a) Die Rüge des Verstoßes gegen Mitteilungspflichten nach § 243 Abs. 4 StPO im Zusammenhang mit einem vorgetragenen Verständigungsgespräch in unterbrochener Hauptverhandlung ist zulässig, denn das Vorbringen genügt den gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zu stellenden Anforderungen.

Grundsätzlich sind die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen so vollständig und genau darzulegen, dass das Revisionsgericht allein auf Grund dieser Darlegung das Vorhandensein eines Verfahrensmangels feststellen kann, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen sind oder bewiesen werden (vgl. BGH, Beschl. 1 StR 602/12 v. 08.01.2013 – NStZ 2013, 672 ; MüKo-StPO/Knauer/Kudlich, 1. Aufl. § 344 Rn. 57). Eine Verfahrensrüge ist daher im Allgemeinen unzulässig, wenn sich dem Revisionsvorbringen nicht die bestimmte Behauptung entnehmen lässt, dass ein Verfahrensfehler vorliegt, sondern nur, dass er sich aus dem Protokoll ergebe (vgl. BGH, Beschl. 4 StR 181/11 v. 13.07.2011 – juris).

Soweit der Revisionsführer – wie hier – die fehlende Dokumentation aller mit dem Ziel einer Verständigung geführten Erörterungen rügt, genügt sein Vorbringen den strengen Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO indes bereits dann, wenn Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung geführt wurden und eine Mitteilung des Vorsitzenden über deren wesentlichen Inhalt tatsächlich nicht erfolgt ist oder jedenfalls nicht im Protokoll dokumentiert wurde und der Revisionsführer nur auf das Fehlen dieser Dokumentation hinweist (BGH, Urt. 2 StR 195/12 v. 10.07.2013 – juris).

Diesen Anforderungen wird die Begründungsschrift gerecht, denn der Revisionsführer führt detailliert aus, dass auf Anregung seines damaligen Verteidigers, Rechtsanwalt pp., während unterbrochener Hauptverhandlung ein ohne den Angeklagten geführtes Verständigungsgespräch zwischen diesem, der Vorsitzenden und der Vertreterin der Staatsanwaltschaft stattgefunden habe. Er stellt weiter den wesentlichen Inhalt der Gespräche dahingehend dar, dass es zu einer Absprache gekommen sei, der sowohl Staatsanwaltschaft als auch Gericht zugestimmt hätten. Gegenstand derselben sei es gewesen, den angeklagten Fall 2, eine falsche Verdächtigung nach § 164 StGB, gemäß § 154 Abs. 2 StPO einzustellen und für den angeklagten Fall 1, der letztlich auch zur Verurteilung gelangte, eine Geldstrafe von höchstens 90 Tagessätzen zu verhängen. Zudem wird unter Darstellung der entsprechenden Protokollstellen dargestellt, dass sich darin keine Ausführungen zu diesen Vorgängen finden.

Die Revision stellt damit insbesondere nicht auf eine nur fehlende Protokollierung ab, ohne zugleich darzustellen, ob der nicht protokollierte Vorgang tatsächlich stattgefunden hat oder nicht. Die Grundsätze zur Unzulässigkeit einer bloßen Protokollrüge gelten nicht, wenn – wie hier – ein Verfahrensfehler behauptet wird, der in seinem Kern darin besteht, dass das Hauptverhandlungsprotokoll den Inhalt außerhalb der Verhandlung geführter Verständigungsgespräche nicht wiedergibt (BGH, Urt. 2 StR 195/12 v. 10.07.2013 – juris).

b) Der Rügeinhalt ist auch als bewiesen anzusehen.

Zwar findet sich weder in der Urteilsurkunde noch im Hauptverhandlungsprotokoll gemäß den §§ 267 Abs. 3 Satz 5, 273 Abs. 1 Satz 2, Abs. 1 a Satz 1 und 2 StPO die Feststellung, dass eine Verständigung im Laufe des Verfahrens stattgefunden habe. Andererseits fehlt im Hauptverhandlungsprotokoll auch das sogenannte Negativattest des § 273 Abs. la Satz 3 StPO, dass eine Verständigung nicht stattgefunden habe. Mithin enthält das Protokoll auf Grund seiner jeweils negativen Beweiskraft sich widersprechende Feststellungen zur Frage, ob in der Hauptverhandlung eine Verständigung stattgefunden hat, womit seine Beweiskraft insoweit entfällt (vgl. BGH, Urt. 2 StR 395/61 v. 20.11.1961 – juris; Mey-er-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. § 274 Rn 16). Aufgrund dessen hatte der Senat die Frage, ob in der Hauptverhandlung eine Verständigung erfolgt ist, im Freibeweisverfahren aufzuklären (vgl. BGH, Urt. 1 StR 125/62 v. 10.04.1962 – juris; Meyer-Goßner aaO. Rn 18 mwN.).

Der Senat hat hierzu (dienstliche) Stellungnahmen der Beteiligten eingeholt, die in würdigender Gesamtschau belegen, dass es in unterbrochener Hauptverhandlung zu Verständigungsgesprächen gekommen ist, die nachfolgend nicht ordnungsgemäß protokolliert wurden.

Sowohl der in der fraglichen Hauptverhandlung anwesende Verteidiger des Angeklagten als auch die entscheidende Richterin haben durch Schriftsatz vom 5. April 2023 sowie dienstliche Stellungnahme vom 23. Mai 2023 klar bestätigt, dass (Anm. d. Senats: entsprechend dem Gesetzeswortlaut des § 257c Abs. 1 Satz 1 StPO) „Gespräche zwischen dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung stattgefunden haben, in denen über den weiteren Fortgang und das Ergebnis des Verfahrens gesprochen wurde.“

Dies fügt sich darüber hinaus plausibel in das – wenn auch lückenhaft – dokumentierte prozessuale Geschehen, insbesondere die protokollierte Anregung des Verteidigers, die folgende Verhandlungspause, die anschließende geständige Verteidigererklärung zu Fall 1 der Anklage sowie – vor dem Hintergrund der nach § 257c Abs. 4 StPO erforderlichen Zustimmungen – der nach der Verteidigererklärung protokollierten Erklärung des Angeklagten „Ich stimme dem zu“ ein.

Diesem insoweit stimmigen Gesamtbild steht auch nicht die dienstliche Stellungnahme der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft entgegen, nach deren Ansicht „das Rechtsgespräch nicht das Gepräge einer Verständigung im Strafverfahren“ gehabt habe und die „an eine Zusage über die Höhe der zu erwartenden Geldstrafe“ keine Erinnerung hat. Zum Einen weist sie darauf hin, sich aufgrund des Zeitablaufes an die Hauptverhandlung nur noch vage erinnern zu können. Zudem spricht der Gesamtinhalt ihrer dienstlichen Stellungnahme auch nicht gegen das Vorliegen einer Verständigung, sondern der Umstand, dass sie in der staatsanwaltlichen Handakte unter anderem vermerkte „Aufgrund kurzer Verständigung bzw. Besprechung wurde das Geständnis abgegeben hinsichtlich Fall 1″ neben den – bereits dargestellten – weiteren Stellungnahmen und dem zu einer Verständigung „passenden“ äußeren Geschehensablauf auch eher für als gegen deren Vorliegen.

c) Die Rüge ist auch begründet. Es fehlt an einer Information durch das Gericht sowie einer ordnungsgemäßen Protokollierung über den wesentlichen Inhalt des geführten Verständigungsgesprächs, in dem für den Fall eines Geständnisses von Fall 1 der Anklageschrift eine bestimmte Rechtsfolge in Aussicht gestellt wurde. Bei diesem Gespräch handelt es sich um eine Erörterung, die auf eine einvernehmliche Verfahrenserledigung gerichtet war; es unterfällt mithin der Regelung des § 257c StPO. Dies stellt einen Verfahrensfehler dar, auf dem das Urteil auch beruht.

Nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO teilt der Vorsitzende nach Verlesung des Anklagesatzes mit, ob Erörterungen im Sinne der §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung gewesen ist, und gegebenenfalls deren wesentlichen Inhalt (vgl. dazu auch OLG Koblenz, Urt. 2 StR 47/13 v. 10.07.2013). Diese Mitteilungspflicht ist gemäß § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO weiter zu beachten, wenn – wie hier Erörterungen erst nach Beginn der Hauptverhandlung stattgefunden haben (vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 12; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. § 243 Rn. 18c). Zur Gewährleistung der Möglichkeit einer effektiven Kontrolle ist die Mitteilung des Vorsitzenden hierüber gemäß § 273 Abs. 1 a StPO in das Protokoll der Hauptverhandlung aufzunehmen. Das Fehlen der Protokollierung ist ein Rechtsfehler des Verständigungsverfahrens (vgl. BVerfG Urt. 2 BvR 2628/10 v. 19.03.2013 – NJW 2013, 1058 <1067>). Ein Mangel des Verfahrens an Transparenz und Dokumentation der Gespräche, die mit dem Ziel der Verständigung außerhalb der Hauptverhandlung geführt wurden, führt – ebenso wie die mangelhafte Dokumentation einer Verständigung – regelmäßig dazu, dass ein Beruhen des Urteils auf dem Rechtsfehler des Verstoßes gegen § 257c StPO nicht auszuschließen ist (vgl. BVerfG, aaO.; BGH, Beschl. 1 StR 315/15 v. 18.07.2016 – juris).

Die Generalstaatsanwaltschaft hat ergänzend dazu in ihrem Votum vom 6. März 2023 wie folgt ausgeführt:

„Eine Ausnahme kommt nur dann in Betracht, wenn das gesetzliche Schutzkonzept der §§ 243 Abs. 4, 273 Abs. 1 a, 257c StPO nicht unterlaufen wird (BVerfG, BGH – wie vor). In besonders gelagerten Einzelfällen ist dies insbesondere denkbar, wenn etwa feststeht, dass es tatsächlich keine Verständigungsgespräche gegeben hat oder der Prozessverlauf trotz stattgefundener Gespräche nicht beeinflusst worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 15.01.2015, 1 StR 315/14, bei juris Rn. 17 m.w.N.). Nach Maßgabe dessen liegt jedenfalls unter den vorliegenden Umständen hier kein Ausnahmefall vor, in dem das Beruhen des Urteils auf dem Verstoß gegen § 243 Abs. 4 S. 1 StPO ausgeschlossen werden kann. Aufgrund nicht lediglich einer Beschränkung der Mitteilung, sondern ihres vollständigen Unterlassens, liegt ein Ausschluss des Beruhens schon aus Transparenzgründen fern (vgl. hierzu auch BGH, Beschluss vom 15.01.2015, 1 StR 315/14, juris Rn. 19). Selbst wenn der Angeklagte von seinem Verteidiger über den Inhalt des Gesprächs hinreichend informiert wurde – was dieser indes bestreitet (BI. 158 d. A.) -, ist das gesetzliche Schutzkonzept dennoch berührt, denn jedenfalls die Gewährleistung effektiver Kontrolle des mit der Verständigung verbundenen Geschehens durch die Öffentlichkeit konnte hierdurch nicht ersetzt werden.“

Dem schließt sich der Senat nach eigener Wertung vollumfänglich an. 3.

Im Zusammenhang mit der vorstehenden Verfahrensrüge hat der Angeklagte darüber hinaus auch eine Verletzung der sich aus § 257c Abs. 5 StPO ergebenden Belehrungspflicht gerügt, der ebenfalls ein Erfolg nicht zu versagen ist.

Soweit der Angeklagte hinsichtlich der auszuführenden Verfahrenstatsachen auf die vorherige Rüge Bezug nimmt, steht dies der Einhaltung der strengen Erfordernisse des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ausnahmsweise nicht entgegen, da die mitzuteilenden Tatsachen sich insoweit als identisch darstellen, da sie auf ein und demselben Verfahrensvorgang beruhen. Der Rügevortrag ist damit weiterhin – trotz Bezugnahme – aus sich heraus so verständlich, dass das Revisionsgericht ohne Weiteres daran anknüpfen kann (vgl. BGH Beschl. 3 StR 486/09 v. 18. Februar 2010; 1 StR 75/14 v. 04.09.2014 – jew. n. juris).

Wie sich bereits aus den Darlegungen unter II. 2. ergibt, hat in einer Unterbrechung der Hauptverhandlung am 8. August 2022 vor dem Amtsgericht ein Erörterungsgespräch nach § 257c StPO stattgefunden, dem sodann in der Hauptverhandlung ein Geständnis – das hier in Form einer Verteidigererklärung mit anschließender Zustimmung des Angeklagten erfolgte – nachging. Dieses Verfahrensgeschehen löste die Belehrungspflicht des § 257c Abs. 5 StPO aus, sodass der Angeklagte vor Abgabe seines Geständnisses über die Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichts von dem in Aussicht gestellten Ergebnis hätte belehrt werden müssen. Die Belehrung gemäß § 257 c Abs. 5 StPO ist eine wesentliche Förmlichkeit, die in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen gewesen wäre (§ 273 Abs. 1 a S. 2 StPO). Da es hieran fehlt, ergibt sich im Hinblick auf die negative Beweiskraft des Protokolls (§ 274 S. 1 StPO), dass der Angeklagte nicht wie erforderlich belehrt wurde. Der Angeklagte wurde daher vom Gericht nicht in die Lage versetzt, eine autonome Entscheidung über seine Mitwirkung an der Verständigung zu treffen (vgl. hierzu BVerfG, Urt. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10 und 2 BvR 2155/11 v. 19.03.2013 – NJW 2013, 1058). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beruht ein solches Geständnis auf dem Unterlassen der Belehrung und mithin dem Verstoß gegen die Belehrungspflichten, wenn sich nicht ausnahmsweise feststellen lässt, dass der Angeklagte das Geständnis auch bei ordnungsgemäßer Belehrung abgegeben hätte (BVerfG, aaO.; 2 BvR 85/13 v. 30.06.2013; 2 BvR 2048/13 v. 25.08.2014 – jew. n. juris).

Ein solcher Einzelfall liegt in der vorliegenden Situation nicht vor, da der Revisionsführer insbesondere anbringt, dass er weder über den Inhalt noch das Ergebnis des geführten Verständigungsgesprächs unterrichtet worden sei. Zudem sei ihm nicht klar gewesen, dass mit dem abgelegten Geständnis auch die Entziehung der Fahrerlaubnis und eine Sperre verbunden waren. Der Angeklagte konnte die Tragweite seiner Zustimmung zu der Verteidigererklärung im Moment der Erklärung mangels ausreichender Informationsgrundlage demnach nicht beurteilen.

StPO II: Der nicht unterschriebene Strafbefehl, oder: Wesentlicher Mangel, der zur Einstellung führt?

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Ich hatte im vergangenen Herbst über den LG Arnsberg, Beschl. v. 16.09.2022 – 3 Ns – 110 Js 1471/21 – 92/22 – berichtet (vgl. hier: StPO II: Der nicht unterschriebene Strafbefehl, oder: Wesentlicher Mangel, der zur Einstellung führt. Ich bin jetzt darauf hingewiesen worden, dass das OLG Hamm in der Sache inzwischen entschieden und den LG-Beschluss aufgehoben hat. Das war mir bisher durchgegangen. Ich hole die Entscheidung dann heute mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 17.11.2022 – 5 Ws 289/22 – nach:

„Die zulässige sofortige (§ 206a Abs. 2 StPO) Beschwerde ist begründet.

1. Dabei kann dahinstehen, ob ein nicht unterschriebener Strafbefehl einem fehlenden Eröffnungsbeschluss gleichsteht (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21. Dezember 1992 – 2 Ss 155/92 -, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, 65. Auflage, § 409, Rn. 13) oder bereits der Antrag der Staatsanwaltschaft die ausreichende Verfahrensgrundlage bildet (vgl. BayObLG, Beschluß vom 30. 5. 1961 – RReg. 4 St. 147/61 = NJW 1961, 1782, beckonline).

2. Denn selbst bei fehlender Unterzeichnung ist ein Strafbefehl wirksam, wenn sich die entsprechende Willensäußerung des Richters aus den Akten ergibt und die entscheidende Person hinreichend zuverlässig dem Vorgang entnommen werden kann (vgl. BayObLG StV 1990, 397; OLG Düsseldorf StV 1983, 408; OLG Hamm JR 1982, 389; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 21.12 .1981 – 3 Ws 368/81; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21. Dezember 1992 – 2 Ss 155/92, Rn. 2, juris; Brauer in: Gercke/Julius/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2019, § 409, Rn. 15; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 13; BeckOK StPO/Temming, 44. Ed. 1.7.2022, StPO § 409 Rn. 12; MüKoStPO/Eckstein, 1. Aufl. 2019, StPO § 409 Rn. 34).

3. Zwar trägt der hiesige Strafbefehl keine Unterschrift. Allerdings wird aus den aus der Akte ersichtlichen Begleitumständen bei einer Gesamtwürdigung ausreichend deutlich, dass nicht bloß ein Strafbefehlsentwurf vorliegt. Für den Willen zum Erlass des Strafbefehls spricht, dass auf dem übersandten Strafbefehlsformular das gerichtliche Aktenzeichen nebst Datum und die Dienstbezeichnung des erkennenden Richters vermerkt sind. Anders als der ursprüngliche – bis auf die Tagessatzhöhe gebilligte – Strafbefehlsentwurf der Staatsanwaltschaft ist das Formular auch nicht durch diagonalen Strich zum Entwurf degradiert worden. Zudem wird aus der – mit Schriftzeichen des erkennenden Richters versehenen – vom Datum und Inhalt korrespondierenden Begleitverfügung offenkundig, dass eine Willensäußerung nach Außen vorliegt.

4. Die Argumentation der Kammer in der angefochtenen Entscheidung in Anlehnung an § 275 Abs. 2 StPO, dass die fehlende Unterzeichnung einer auch nicht durch eine vom erkennenden Richter unterzeichnete Verfügung ersetzt werden könne, verfängt nicht. Bei der von der prozessualen Situation vergleichbaren Konstellation der fehlenden Unterschrift unter einem Eröffnungsbeschluss ist allgemein anerkannt, dass die fehlende Unterschrift keinen gravierenden Mangel darstellt (vgl. BeckOK StPO/Ritscher, 44. Ed. 1.7.2022, StPO § 207 Rn. 13; KG Urt. v. 27.7.1998 – (3) 1 Ss 118-98(57/98) = BeckRS 2014, 11690, m.w.N.). Der hiesige Verfahrensablauf nach dem Einspruch in Anwendung von § 411 Abs. 1 S. 2 StPO ist eben nicht mit dem – so die Argumentation der Kammer in der angefochtenen Entscheidung – rechtskräftigen Strafbefehl im Sinne von § 410 Abs. 3 StPO gleichzusetzen. Zudem stellt die Vorschrift des § 409 StPO nicht die gleichen Anforderungen an den Strafbefehl wie § 275 Abs. 2 StPO an die Urteilsurkunde.“

StPO I: DNA-Untersuchung nach Speichelprobe, oder: Anforderungen an die Prognoseentscheidung

Zur Wochenmitte dann ein Tag mit StPO-Entscheidugen,

Ich starte mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 31.07.2023 – 1 Ws 87/23 – zur Frage der Entnahme einer Speichelprobe und deren molekulargenetischer Untersuchung (§ 81g StPO)

Der Angeklagte ist mit Urteil vom 06.12.2022 wegen des sich Verschaffens kinderpornographischer Schriften in 5 Fällen sowie wegen Besitzes von kinderpornographischen Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden hat, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nachdem die StA den Angeklagten zur Abgabe einer Speichelprobe zum 05.07.2022 geladen hatte und dieser durch seine Rechtsanwältin mit Schriftsatz vom 05. Juli 2022 hat mitteilen lassen, eine solche freiwillig nicht abzugeben, beantragte sie gemäß § 81g StPO bei der Berufungskammer des Landgerichts Potsdam unter dem 23.03 2023 die Anordnung der Entnahme einer Speichelprobe sowie deren molekulargenetische Untersuchung.

Die Strafkammer hat angeordnet, dass dem Beschwerdeführer Körperzellen entnommen und diese zur Feststellung der DNA-Identifizierungsmuster sowie des Geschlechts molekulargenetisch untersucht werden dürfen. Dagegen die Beschwerde des Angeklagten, die beim OLG Erfolg hatte:

„Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.

Die Voraussetzungen für die Anordnung der DNA-Identitätsfeststellung nach § 81g Abs. 1 und 4 StPO liegen nicht vor.

Nach § 81g Abs. 1 und 4 StPO dürfen einem wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung rechtskräftig Verurteilten (Anlasstat) zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren Körperzellen entnommen und zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters sowie des Geschlechts molekulargenetisch untersucht werden, wenn wegen der Art oder Ausführung der Tat, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftige Strafverfahren wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden (Wiederholungsgefahr). Hinzutreten muss, dass das DNA-Identifizierungsmuster einen Aufklärungsansatz für einen Spurenabgleich bezüglich der Straftat von erheblicher Bedeutung bieten muss (BVerfG [Kammer], Beschl. v. 14.12.2000 – 2 BvR 1741/99).

a) Eine vom Gesetz geforderte Anlasstat besteht, da der Beschwerdeführer wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung rechtskräftig verurteilt wurde.

aa) Das Amtsgericht Brandenburg an der Havel hat mit Urteil vom 25. April 2012, rechtskräftig seit dem 03. Mai 2012, gegen ihn wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit versuchtem schweren Missbrauch von Kindern und dem sexuellen Missbrauch von Kindern auf eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren erkannt, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Strafaussetzung zur Bewährung wurde später widerrufen und die Strafe bis zum 23. Januar 2017 verbüßt.

bb) Das Amtsgericht Brandenburg an der Havel hat sodann mit Urteil vom 16. Januar 2017, rechtskräftig seit dem 24. Januar 2017, gegen ihn wegen Verbreitung kinderpornographischer Schriften in 23 Fällen sowie wegen Besitzes von kinderpornographischen Schriften in 12 Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verhängt, die teilweise verbüßt wurde.

cc) Mit Urteil des Amtsgerichts Brandenburg an der Havel vom 06. Dezember 2022 (Az. 21 Ls 1951 Js 16680/20) wurde der Beschwerdeführer – wie eingangs erwähnt – wegen des sich Verschaffens kinderpornographischer Schriften in 5 Fällen sowie wegen Besitzes von kinderpornographischen Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Wegen der Einzelheiten wird auf die Feststellungen des Urteils, die die Beschwerde nicht in Zweifel zieht, Bezug genommen.

b) Es liegen indes die Voraussetzungen für eine Anordnung nach § 81g Abs. 1 StPO jedenfalls deshalb nicht vor, weil kein ausreichender Grund zu der Annahme besteht, dass gegen den Betroffenen künftig Strafverfahren wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden, bei denen der Täter deliktstypisch Identifizierungsmaterial am Tatort hinterlassen wird.

Bei der Frage, ob Grund zu einer solchen Annahme besteht, handelt es sich um eine Prognosefrage, deren Beantwortung unter Prüfung und Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles zu erfolgen hat, wobei insbesondere auf die Anlasstat, Vorstrafen, Rückfallgeschwindigkeit, Prägung in Richtung bestimmter Delikte, Motivationslage bei früheren Straftaten, das Verhalten des Betroffenen in einer Bewährungszeit oder nach einem Straferlass sowie frühere und derzeitige Lebensumstände abzustellen ist (vgl. BVerfGE 103, 21; BVerfG 2 BvR 2391/07). Die Prognoseentscheidung muss sich dabei mit den Umständen des Einzelfalls auseinandersetzen. Eine bloß abstrakte Wahrscheinlichkeit eines künftigen Strafverfahrens genügt für die Anordnung der Maßnahme nach § 81g StPO nicht.

Zwar hat sich der Beschwerdeführer in der Vergangenheit wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit versuchten schweren Missbrauchs von Kindern und sexuellen Missbrauchs von Kindern strafbar gemacht. Der Beschwerdeführer hatte an einem nicht näher zu bestimmenden Tag im Zeitraum 15. Oktober 2009 bis 04. März 2010 seine damals bei ihm wohnende, etwa 12 Jährige Tochter veranlasst, sich auf die Couch im Wohnzimmer der Wohnung zu legen. Dort hatte er ihr die Schlafanzughose ausgezogen, mit seinen Händen an deren Geschlechtsteil manipuliert und versucht, einen Vibrator in die Scheide des Mädchens einzuführen. Da das Kind durch diese Handlung Schmerzen empfunden und begonnen hatte, Abwehrhandlungen zu tätigen, hatte der Beschwerdeführer von dem weiteren Vorhaben abgelassen, wonach das Kind das Wohnzimmer verlassen hatte.

Diese Tat, die einmalig war und ihrer Schwere nach wohl eher im unteren Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern einzustufen sein wird, liegt inzwischen bereits mehr als 13 Jahre zurück. Zudem hat der Angeklagte diese Tat im familiären Kontext begangen, welcher durch das Heranwachsen seiner Tochter so nicht mehr besteht.

Auch ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer nach den Urteilsfeststellungen inzwischen bereits mehr als 2 ½ Jahre an einer Sexualtherapie teilnimmt, in der ihm Vermeidungsstrategien vermittelt werden, er Medikamente zur Dämmung seines Sexualtriebes einnimmt und gegenüber seiner Familie offen mit seiner sexuellen Neigung umgeht. Diese halte zu ihm und unterstütze ihn bei der Therapie.

Unter Gesamtwürdigung dieser Umstände ist dem Beschwerdeführer jedenfalls hinsichtlich möglicher Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung mit Körperkontakt eine positive Kriminalprognose zu stellen. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer wiederholt wegen in § 184b StGB genannten Straftaten verurteilt werden musste.

Anzeichen dafür, dass der Beschwerdeführer seine Neigungen künftig auch durch Körperkontakt mit Kindern ausleben könnte und somit auch Strafverfahren wegen sog. „Hands-on-Delikte“ im Bereich der Sexualstraftaten geführt werden könnten, bestehen in Ansehung der beim Beschwerdeführer zu verzeichnenden abnehmenden Deliktschwere und der o.g. Umstände gegenwärtig nicht (vgl. LG Dresden, Beschluss vom 6. Dezember 2022 – 15 Qs 63/22).

Es fehlt mithin an konkreten Anhaltspunkten dafür, dass der Beschwerdeführer künftig Straftaten von erheblichem Gewicht begehen wird, bei denen er DNA-Material hinterlassen wird. Das dem Beschwerdeführer im erstinstanzlichen Urteil des Amtsgerichts Brandenburg vom 06. Dezember 2022 keine positive Sozialprognose gestellt wurde, da die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist, spricht nicht dagegen. Zum einen liegen die letzten vom Beschwerdeführer begangenen Taten zwischenzeitlich 2 ¾ Jahre zurück, zum anderen ist das Urteil mit der Berufung angefochten und es ergeben sich aus ihm keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die vom Amtsgericht gestellte Prognose auch auf Delikte bezieht, bei denen DNA-Material hinterlassen wird.“