Archiv für den Monat: November 2022

Keine Verwirkung der Erinnerung nach 3 Monaten, oder: BayLSG zu § 14 RVG

Bild von mohamed Hassan auf Pixabay

Heute stelle ich dann mal wieder zwei Entscheidungen zum RVG bzw. zu Kostenfragen vor. I

Ich beginne mit dem BayLSG, Beschl. v. 15.09.2022 – L 12 SF 159/20. Ja, sozialgerichtliches Verfahren. Aber zumindest die Ausführungen des BayLSG zur Frage der Verwirkung einer Erinnerung haben auch über das Sozialgerichtsverfahren hinaus Bedeutung.

Gestritten wird zwischen den Beteiligten um die Höhe der aus der Staatskasse zu erstattenden Vergütung nach Beiordnung im Rahmen der Bewilligung von PKH sowie daüber, ob das Erinnerungsrecht der Beschwerdeführerin verwirkt ist. Nach Abschluss des Verfahrens hat die bestellte Rechtsanwältin mit Antrag vom 11.01.2019 ihren Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse in Höhe von insgesamt 470,05 EUR geltend gemacht. Dabei wurden eine Verfahrensgebühr in Höhe von 375,00 Euro sowie die Postpauschale zuzüglich Umsatzsteuer angesetzt. Mit Beschluss vom 07.02.2019 setzte die zuständige Urkundsbeamtin abweichend vom Antrag die Vergütung auf insgesamt 380,80 EUR fest. Sie setzte dabei neben der wie beantragt festgesetzten Postpauschale die Verfahrensgebühr auf 300,00 Euro fest. Hiergegen wandte sich die Rechtsanwältin mit ihrer Erinnerung vom 09.01.2020. Die angesetzte Verfahrensgebühr in Höhe von 375,00 EUR entspreche billigem Ermessen. Der Erinnerungsgegner und Beschwerdegegner (Bg) hält die nach Ablauf von mehr als drei Monaten nach Erlass des Vergütungsfestsetzungsbeschlusses eingelegte Erinnerung für verwirkt.

Das SG hat die Erinnerung als zwar nicht verwirkt, aber als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen dann die Beschwerde an das LSG. Die hatte Erfolg.

Zur Erinnerung führt das LSG u.a. aus:

„Unabhängig vom zeitlichen Moment bedarf die Annahme einer Verwirkung auch im Kostenrecht noch eines Umstandsmoments (vgl. Keller, in: jurisPR-SozR 8/2019, Anm. 3, E.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10.12.2018 – L 7 AS 4/17 B, juris Rn. 17; Thüringer LSG, Beschluss vom 23.07.2018 – L 1 SF 497/16 B, juris Rn. 18 ff.; LSG NRW, Beschluss vom 30.04.2018 – L 9 AL 223/16 B, juris Rn. 35 f.). Soweit sich das BayLSG in der Vergangenheit darauf festgelegt hat, dass im Rahmen einer Gesamtbetrachtung eine Verwirkung zumindest der Staatskasse regelmäßig schon nach Ablauf eines Jahres nach Wirksamwerden der Gebührenfestsetzungsentscheidung eintritt (grundlegend Bayerisches LSG, Beschluss vom 04.10.2012 – L 15 SF 131/11 B E, juris Rn. 18 ff.), ohne zwischen Zeit- und Umstandsmoment zu unterscheiden, hält der Senat hieran nicht mehr fest (vgl. hierzu Grundsatzbeschluss des Senats vom 29.08.2022, L 12 SF 298/18). Denn allein der Zeitablauf begründet keine Verwirkung. Zwar kann das Erinnerungsrecht sowohl der Staatskasse als auch des Rechtsanwalts nicht „bis in alle Ewigkeit“ bestehen bleiben. Dies ergibt sich aus dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzprinzip, wonach Entscheidungen von Behörden und Gerichten innerhalb angemessener Zeit bestandskräftig bzw. rechtskräftig werden können und diejenigen Entscheidungen, die bestands- bzw. rechtskräftig geworden sind, grundsätzlich nicht mehr abgeändert werden; dabei hat letzt-endlich eine Abwägung gegen das Prinzip der materiellen Richtigkeit zu erfolgen (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 4. Oktober 2012 – L 15 SF 131/11 B E, nach juris). Dem wird durch das Rechtsinstitut von Treu und Glauben nach § 242 das Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in Gestalt des Rechtsinstituts der Verwirkung Rechnung getragen. Anhaltspunkte für eine absolute Obergrenze bereits nach einem Jahr sind nicht ersichtlich und können auch nicht mit entsprechenden Anfechtungsfristen bei falscher oder unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung begründet werden (Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 26. September 2018 – L 1 SF 803/16 B –, juris). Demnach scheidet erst recht die Annahme des Vorliegens eines Zeitmoments nach nur drei Monaten, wie das SG unter Verweis auf die Rechtsprechung des OLG Koblenz annimmt, aus.

Zudem fehlt es hier an einem Umstandsmoment. Allein aufgrund der Tatsache, dass die Bfin nicht innerhalb eines Jahres Erinnerung eingelegt hatte, durfte sich der Bg nicht darauf einrichten, die Bfin werde ihr Recht auf Erinnerung nicht mehr geltend machen. Andere Umstände, aus denen dem Bg ein Vertrauensschutz hätte erwachsen können, liegen nicht vor, zumal die Bfin umfangreich begründet hat, warum sie ihr Erinnerungsrecht erst nach 11 Monaten ausgeübt hat.“

Und zu § 14 RVG heißt es dann:

„Bei der Bestimmung der billigen Gebühr anhand der Kriterien von § 14 Abs. 1 RVG wird dem Rechtsanwalt zu Recht und im Einklang mit der Systematik des § 315 BGB ein gewisser Spielraum bzw. Toleranzrahmen zugestanden. In Übereinstimmung mit der ober-gerichtlichen Rechtsprechung hält der Senat nach wie vor eine vom Rechtsanwalt bestimmte Gebühr für noch verbindlich, wenn sie bis zu 20% von der Gebühr abweicht, die der Kostenbeamte und ggf. das Gericht bzw. Beschwerdegericht für angemessen halten (vgl. auch Mayer, in: Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl., § 14, Rdnr. 12, m.w.N.; Toussaint, Kostengesetze, 52. Aufl., § 14, Rdnr. 24; vgl. zur Berechnung der Toleranzgrenze Be-schluss des Senats vom 24.03.2020, L 12 SF 271/16 E). Auch unter Berücksichtigung des Toleranzrahmens war die Gebührenanforderung der Bfin unbillig. Bei Betrachtung der o.g. Kriterien des § 14 Abs. 1 Satz 1 und 3 RVG lag der Rechtsstreit im leicht überdurchschnittlichen Bereich anderer Streitigkeiten.

Der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit war im Vergleich mit den übrigen sozialgerichtlichen Verfahren (vgl. Bayer. Landessozialgericht, Beschluss vom 19.08.2011, Az.: L 6 SF 872/11 B m.w.N., nach juris) leicht überdurchschnittlich. Der Senat geht davon aus, dass eine anwaltliche Tätigkeit jedenfalls dann durchschnittlich umfangreich ist, wenn Klage erhoben, Akteneinsicht genommen, die Klage begründet und zu den (z.B. medizinischen, sonstigen tatsächlichen oder auch rechtlichen) Ermittlungen des Gerichts Stellung genommen wird, einschließlich der eben genannten Tätigkeiten. Zu berücksichtigen ist dabei der zeitliche Aufwand, den der Rechtsanwalt tatsächlich in der Sache betrieb und objektiv verwenden musste (vgl. Bundessozialgericht BSG, Urteil vom 01.07 2009, Az.: B 4 AS 21/09 R, nach juris). Gleiches gilt auch für Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. In diesen findet zwar nur eine summarische Prüfung durch das Gericht statt, allerdings hat der Antragsteller sowohl den Anordnungsgrund als auch den Anordnungsanspruch so darzulegen, dass das Gericht innerhalb kurzer Zeit zu einer Entscheidung in der Lage ist. Insbesondere die Darstellung des Anordnungsgrundes, also der Eilbedürftigkeit, kompensiert die aufgrund der kurzen Verfahrensdauer häufig eingeschränkte Anzahl an gewechselten Schriftsätzen. Die Tatsache, dass es sich um ein Eilverfahren handelt, darf sich demnach grundsätzlich nicht gebührenmindernd auswirken (vgl. hierzu auch Beschluss des Senates vom 15.11.2018, L 12 SF 124/14 sowie bereits BayLSG, Beschluss vom 05.10.2016, L 15 SF 282/15).

Hier fertigte die Bfin zur Begründung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens eine Antragsschrift samt umfangreicher Antragsbegründung, die eine Sachverhaltsdarstellung sowie rechtliche Ausführungen zum Anordnungsanspruch sowie zum Anordnungsgrund enthielt. Es wurden zur Glaubhaftmachung umfangreiche Unterlagen beigefügt. Zudem musste die Bfin auf vier Schreiben des Antragsgegners replizieren und auch hierzu gezielt Unterlagen zur Untermauerung ihres Vorbringens anfügen. Akteneinsicht hat die Bfin nicht genommen, Gutachten oder medizinische Ermittlungen waren nicht erforderlich. Besprechungen sowie Schriftwechsel mit dem Mandanten wurden glaubhaft vorgetragen. Die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit bewertet der Senat objektiv als durchschnittlich. Die Bedeutung der Angelegenheit für den Antragsteller bewertet der Senat angesichts der Sanktionen in Höhe von 100% als überdurchschnittlich, die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Antragstellers als unterdurchschnittlich. Ein besonderes Haftungsrisiko der Bfin ist nicht ersichtlich.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass von einer leicht überdurchschnittlichen Angelegenheit auszugehen ist, die nach Auffassung des Senats unter Berücksichtigung der Toleranzgrenze von 20% den Ansatz einer Verfahrensgebühr von 375,00 Euro gerade noch rechtfertigt.“

Pflichti III. Bestellungsantrag in der Hauptverhandlung, oder: Wer muss/darf/soll entscheiden?

Bild von Venita Oberholster auf Pixabay

Im dritteN Posting des Tages stelle ich dann noch den OLG Hamm, Beschl. v. 11.10.2022 – 5 Ws 270/22 – vor. Es geht um die funktionelle Zuständigkeit für einen in laufender Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Wer muss entscheiden?

Das AG hatte den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung abgelehnt. In der Hauptverhandlung vor der Berufungskammer des LG hat der Verteidiger dann für die Berufungsverhandlung die Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt. Diesen Antrag hat das LG in der Hauptverhandlung per Kammerbeschluss mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Voraussetzungen des § 140 StPO nicht vorlägen. Dagegen sofortige Beschwerde, die im Ergebnis keinen Erfolg hatte:

„2. Das Rechtsmittel führt zwar zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, da dieser unter Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften ergangen ist, hat im Ergebnis aber keinen Erfolg.

a) Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls der Berufungsinstanz vom 28. Juni 2022 hat das Landgericht über den Beiordnungsantrag als Kammer unter Mitwirkung der Schöffen entschieden. Funktionell zuständig war gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO jedoch alleine die Vorsitzende. Dies gilt – über den Wortlaut der Vorschrift hinausgehend – nicht nur für die Bestellung, sondern auch für die Ablehnung eines Antrags auf Beiordnung als Pflichtverteidiger (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 142 Rn. 18).

Der Verstoß gegen die funktionelle Zuständigkeit führt aufgrund der eingelegten Beschwerde zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und eigenen Sachentscheidung des Senats.

Soweit teilweise vertreten wird, eine Entscheidung des Kollegialgerichts sei unschädlich, weil sich der Vorsitzende seiner Entscheidungsmöglichkeit nicht begebe (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, ebenda, § 142 Rn. 18, unter Bezugnahme auf BGH, Beschluss vom 18. November 2003 – 1 StR 481/03 – juris und BVerwG, Beschluss vom 14. Juli 1969 – II WDB 3/69 – juris), teilt der Senat diese Rechtsauffassung nicht (ebenso OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 – 1 Ws 260/21 – juris; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 22. November 2021 – 1 Ws 278/21 – juris). Dagegen spricht bereits der eindeutige Wortlaut des § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO, der Ausnahmen nicht vorsieht. Auch handelt es sich bei der Ablehnung eines Antrags auf Pflichtverteidigerbestellung nicht um eine auf die Sachleitung bezügliche Anordnung, gegen die nach § 238 Abs. 2 StPO eine Entscheidung des Gerichts herbeigeführt werden kann (Senatsbeschluss vom 21. Juni 2022 – 5 Ws 118/22 – juris m.w.N.). Anders als bei § 238 Abs. 2 StPO ist es bei Einhaltung der Zuständigkeitsvoraussetzungen daher nicht möglich, dass es im Ergebnis zu einer von der Entscheidung des Vorsitzenden abweichenden Beschlussfassung kommt.

Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die in Bezug genommene höchstrichterliche Rechtsprechung nicht ohne weiteres auf den vorliegenden Fall übertragen. Gegenstand der Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Jahr 2003 war nicht – wie hier – die Ablehnung der Bestellung eines Pflichtverteidigers, sondern dessen Bestellung. Hier sei der Verstoß – so der Bundesgerichtshof – angesichts der „Bedeutung einer ordnungsgemäßen Verteidigung“ unschädlich. Das Bundesverwaltungsgericht ging in seiner Entscheidung im Jahr 1969 bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers von einer Auffangzuständigkeit des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO im Rahmen der Hauptverhandlung aus.

b) Eine von dem Grundsatz des § 309 Abs. 2 StPO abweichende Zurückverweisung an die Vorsitzende der kleinen Strafkammer ist nicht geboten. Nachdem die zuständige Vorsitzende an der Entscheidung mitgewirkt hat, ist willkürliches Verhalten des Gerichts nicht erkennbar. Bei einer alleinigen Entscheidung durch die Vorsitzende wäre der Senat gleichermaßen für die Entscheidung über die Beschwerde zuständig gewesen. Damit wird dem Beschwerdeführer auch keine weitere Instanz genommen.

c) In der Sache war der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers unbegründet. Ein Fall der notwendigen Verteidigung war nicht gegeben. …..

Pflichti II: Entpflichtung des Pflichtverteidigers, oder: häufige Verhinderung, gestörtes Vertrauen, Ermessen

© ernsthermann – Fotolia.com

Im zweiten Posting stelle ich drei Entscheidungen zur Entpflichtung vor, und zwar einmal BGH, einmal OLG Köln und einmal LG Hamburg. Ich stelle hier aber nur die Leitsätze der Entscheidungen ein. Die genauen Einzelhieten dann bitte ggf. in den verlinkten Volltexten nachlesen. Hier kommen dann.

Es ist aus einem „sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet, wenn der Pflichtverteidiger an acht von 16 Hauptverhandlungstagen verhindert ist. Bei der Prüfung der insoweit maßgeblichen Grundsätze ist das Interesse des Angeklagten an der Beibehaltung des bisherigen, terminlich verhinderten Pflichtverteidigers gegenüber der insbesondere in Haftsachen gebotenen Verfahrensbeschleunigung abzuwägen.

    1. Das Strafverfahren im Sinne von § 143 Abs. 1 StPO umfasst auch dem Urteil nachfolgende Entscheidungen, die den Inhalt des rechtskräftigen Urteils zu ändern oder zu ergänzen vermögen. Hierzu gehören auch Entscheidungen nach § 57 JGG.
    2. Liegen die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bestellung eines Pflichtverteidigers vor, ist diese grundsätzlich gemäß § 143 a Abs: 1 Satz 1 StPO vorzunehmen. Ein Ermessen des Vorsitzenden des Gerichts, die Bestellung eines Verteidigers gleichwohl fortdauern zu lassen, besteht schon nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht.
    1. Der Beschuldigte muss die für eine etwaige Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses sprechenden Umstände, die zu einer Entpflichtung des Pflichtverteidigers führen soll,  hinreichend konkret vorbringen. Pauschale, nicht näher belegte Vorwürfe rechtfertigen, eine Entpflichtung nicht.
    2. Hinsichtlich des Entpflichtungsantrag eines Verteidigers gilt, dass die Frage, ob das Vertrauensverhältnis endgültig gestört ist, vom Standpunkt eines vernünftigen und verständigen Beschuldigten aus zu beurteilen ist. Der Beschuldigte soll die Entpflichtung nicht durch eigenes Verhalten erzwingen können. Ein im Verhältnis des Beschuldigten zum Verteidiger wurzelnder wichtiger Grund ist deshalb regelmäßig nicht anzuerkennen, wenn dieser Grund allein vom Beschuldigten verschuldet ist.

 

Pflichti I: Bestellung in der Strafvollstreckung, oder: War die vollstreckungsrechtliche Lage schwierig?

© Haramis Kalfar – Fotolia.com

Heute dann mal wieder ein „Pflichti-Tag“. Allerdings: So viele Entscheidungen wie sonst kann ich nicht vorstellen. Und: Es gibt nichts zur Rückwirkung: Versprochen 🙂 .

Ich starte mit dem LG Halle, Beschl. v. 19.09.2022 – 3 Qs 104/22. Er nimmt zur Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafvollstreckungsverfahren Stellung, und zwar im Verfahren über den Widerruf von Strafaussetzung zur Bewährung. Dazu führt das LG aus:

„In einem Strafvollstreckungsverfahren liegt entsprechend § 140 Abs. 2 StPO ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn die Schwere des Vollstreckungsfalls für den Verurteilten, besondere Schwierigkeiten der Sach- und Rechtslage im Vollstreckungsverfahren oder die Unfähigkeit des Verurteilten, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen, dies gebieten (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage, § 140 Rn. 33, Krafczyk in: Beck’scher Online-Kommentar zur StPO, 44. Edition 01.07.2022, § 140 Rn. 51; OLG Celle, Beschluss vom 03. 12 2019 — 2 Ws 352/192 Ws 355/19 —, Rn. 12; OLG Koblenz, Beschluss vom 25. 03. 2019 — 2 Ws 156/19 —, Rn. 4, jeweils zitiert nach juris). Dabei sind die Voraussetzungen einschränkend auszulegen, da im Vollstreckungsverfahren grundsätzlich in deutlich geringerem Maße als im Erkenntnisverfahren ein Bedürfnis für die Mitwirkung eines Verteidigers besteht, da Tatschwere und Rechtsfolgen bereits feststehen (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.., OLG Celle a.a.O.., OLG Koblenz a.a.O.., s. a. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 02. 05. 2002 —2 BvR 613/02 —, Rn. 11, zitiert nach juris).

Nach diesen Maßstäben liegt hier zwar nicht allein deswegen ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, weil sich das Verfahren über den Bewährungswiderruf auf eine Freiheitsstrafe von neun Monaten bezieht. Bei der Entscheidung, ob wegen der Schwere des Vollstreckungsfalles ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, hat die Dauer der nach einem Bewährungswiderruf zu vollstreckenden Strafe außer Betracht zu bleiben (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 22.11.2021 — 1 Ws 278/21 —, Rn. 7, m. w. N., zitiert nach juris). Selbst im Erkenntnisverfahren gilt im Übrigen in der Regel erst eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe als ausreichend schwere Rechtsfolge, um für sich genommen die Beiordnung eines Verteidigers zu erfordern (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.. Rn. 23).

Maßgeblich ist hier vielmehr, ob die vollstreckungsrechtliche Lage schwierig ist. Das ist dann der Fall, wenn das Widerrufs-. Und Beschwerdeverfahren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Fragen aufwirft, die Aktenkenntnis erfordern oder über die regelmäßig auftretenden Probleme hinausgehen (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 17.11. 2021 —1 Ws 123/21 (S) Rn. 4; KG Berlin, Beschluss vom 14.09.2005 — 1 AR 951/055 Ws 399/05 —, Rn. 8; jeweils zitiert nach juris). Davon geht die Kammer hier allerdings aus. Zu beachten ist, dass nach dem Antrag der Staatsanwaltschaft der Widerruf der Strafaussetzung auf die Begehung eines nicht einschlägigen, fahrlässig und — vor Verlängerung der Bewährungszeit —nur wenige Tage vor Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit begangenen Bagatelldelikts gestützt werden soll. Dabei führte die erste Nachverurteilung wegen einer nur drei Tage nach der zweitinstanzlichen Bewährungsverurteilung begangenen einschlägigen Tat, nämlich einer vorsätzlichen Körperverletzung, sowie eines weiteren, nur wenige Wochen später begangenen Verbrechens nur zu einer Verlängerung der Bewährungszeit. Inwieweit das der jetzigen Nachverurteilung zu Grunde liegende Delikt denkbar geringen Gewichts — allein oder unter Berücksichtigung der der ersten rechtskräftigen Nachverurteilung zu Grunde liegenden Delikte — geeignet ist, die Ausgangsprognose in Frage zu stellen und auch, inwieweit bei der Prognose, wie von der Staatsanwaltschaft in den Raum gestellt, die bisher noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen weiteren gegen den Verurteilten geführten Strafverfahren Berücksichtigung finden dürfen, ist eine Frage, die über das hinausgeht, was in Verfahren wegen eines möglichen Bewährungswiderrufs nach § 56f StGB regelmäßig zu prüfen ist. Es handelt sich um eine in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht schwierige Frage, die Aktenkenntnis zum zeitlichen Ablauf der Ereignisse und juristisches Fachwissen voraussetzt, das der Verurteilte nicht hat.“

Revision III: Hauptverhandlung ohne Dolmetscher, oder: Anforderungen an die Verfahrensrüge

Bild von Tessa Kavanagh auf Pixabay

Und im dritten Posting komme ich dann noch einmal auf den KG, Beschl. v. 17.03.2022 – 3 Ws (B) 33/22 – zurück. Über den hatte ich schon hier unter Rechtsmittel II. Beschränkung des Einspruchs in der HV, oder: Erinnerungslücke beim Verteidiger? berichtet.

Heute weise ich auf die Ausführungen des KG zur Rüge des Betroffenen, das AG habe die Hauptverhandlung ohne Hinzuziehung eines Dolmetschers durchgeführt, hin. Dazu das KG:

„a) Soweit der Betroffene rügt, die Hauptverhandlung vom 30. November 2021 sei ohne Hinzuziehung eines Dolmetschers durchgeführt worden, obwohl er über keine ausreichenden Deutschkenntnisse verfüge, ist die Rechtsbeschwerde bereits unzulässig, weil sein Vorbringen nicht den Darlegungsvoraussetzungen von §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt.

Will ein Betroffener – gestützt auf §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 338 Nr. 5 StPO, 187 Abs. 1 Satz 1 GVG – rügen, es sei ohne Dolmetscher verhandelt worden, obwohl dies zur Ausübung seiner prozessualen Rechte erforderlich gewesen sei, ist im Einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen er der Hauptverhandlung wegen mangelnder Sprachkenntnisse nicht folgen konnte. Ist ein Betroffener nur teilweise des Deutschen mächtig, liegt die Entscheidung des Gerichts, ob es die Hinzuziehung eines Dolmetschers für geboten hält – anders als bei Verfahrensbeteiligten, die keinerlei Deutschkenntnisse haben – in seinem Ermessen (vgl. BGH NStZ 1984, 328). Damit das Rechtsbeschwerdegericht feststellen kann, ob die Rechtsfolge von § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG vom Tatgericht zwingend anzuwenden war oder in seinem Ermessen stand, bedarf es der Angabe, ob der Betroffene der deutschen Sprache nicht oder nur teilweise mächtig war. War ein Betroffener nur teilweise der deutschen Sprache mächtig, sind zudem genaue Angabe der einzelnen Umstände, die bei einem wesentlichen Verfahrensteil die Zuziehung eines Dolmetschers geboten (Franke in Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. § 338 Rdn. 138), erforderlich. Insbesondere ist darzulegen, wie weit die sprachlichen Fertigkeiten des Betroffenen reichten und was Gegenstand des in Rede stehenden Verhandlungsteiles war, zu dem er der Mitwirkung eines Dolmetschers bedurft hätte (vgl. BGH StV 1992, 54; BayObLG, Beschluss vom 28. Juni 2001 – 5St RR 168/01 -, juris).

Diesen Anforderungen genügt das Rechtsbeschwerdevorbringen nicht, denn es wird schon nicht mit der gebotenen Klarheit mitgeteilt, bei welchem – wesentlichen – Teil der Hauptverhandlung der Betroffene eines Dolmetschers bedurft hätte. Zudem finden sich keine hinreichend genauen Angaben zu den sprachlichen Fähigkeiten des Betroffenen, denn dieser hat lediglich pauschal behauptet, er sei des Deutschen nur “sehr eingeschränkt” mächtig bzw. seine Deutschkenntnisse seien “rudimentär”, zugleich aber vorgetragen, er habe sich in der Hauptverhandlung vom 30. November 2021 zur Sache eingelassen. Auf der Grundlage dessen vermag der Senat die Entscheidung des Amtsgerichts, ohne Dolmetscher zu verhandeln, auf seine Ermessensfehlerhaftigkeit und dem folgend auch nicht darauf zu überprüfen, ob die Hauptverhandlung im Sinne von §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 338 Nr. 5 StPO, 187 Abs. 1 Satz 1 GVG in Abwesenheit einer Person stattgefunden hat, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt.“