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Antragseinreichung durch elektronisches Dokument, oder: Zur Bearbeitung durch das Gericht geeignet?

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Im „Kessel Buntes“ dann heute zunächst etwas zum elektronischen Dokument, und zwar den OLG Nürnberg, Beschl. v. 31.01.2022 – 3 W 149/22.

Im Beschluss geht es u.a. um die Zulässigkeit eines Antrags auf Durchführung eines selbständigen Beweissicherungsverfahrens und auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gestellt worden. Das LG hat den Antragsteller auf die Unwirksamkeit des Eingangs der Dokumente nach § 130a ZPO hingewiesen, da die Dokumente nicht kopierbar und durchsuchbar seien. Der Antragsteller übersandte daraufhin die Schriftsätze erneut an das LG. Das wies die Anträge als unzulässig zurück, weil sie nicht formgerecht bei Gericht eingegangen seien. Die Beschwerde hatte dann beim OLG Erfolg:

„Die sofortige Beschwerde ist zulässig (§§ 567 Abs. 1 Nr. 2, 569 ZPO). Sie hat auch in der Sache Erfolg. Zu Unrecht hat das Landgericht Nürnberg-Fürth den Antrag auf Durchführung des selbstständigen Beweissicherungsverfahrens und auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wegen Nichteinhaltung der Vorgaben zum Dateiformat nach § 130a Abs. 2 ZPO als unzulässig verworfen.

1. Nach § 130a Abs. 2 S. 1 ZPO muss das elektronische Dokument für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet sein. Ob ein Dokument zur Bearbeitung bei Gericht geeignet ist, richtet sich gemäß § 130 a Abs. 2 S. 2 ZPO nach den Bestimmungen der Elektronischer-Rechtsverkehr-VO (ERVV) und den ergänzend hierzu erlassenen Bekanntmachungen (ERVB). Genügt das elektronische Dokument diesen Vorgaben, ist es für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet; ein im internen Gerichtsbetrieb auftretender Fehler führt dagegen nicht zur Unwirksamkeit der Einreichung (vgl. BGH, Urteil vom 14.05.2020 – X ZR 119/18, GRUR 2020, 980, Rn. 13 – Aktivitätsüberwachung).

a) Nach § 2 Abs. 1 S. 1 ERVV in der bis zum 31.12.2021 geltenden Fassung ist das elektronische Dokument in druckbarer, kopierbarer und, soweit technisch möglich, durchsuchbarer Form im Dateiformat PDF zu übermitteln. Dies bedeutet, dass in den das Dokument enthaltenen Eigenschaften der Datei nicht die Möglichkeit des Drucks ausgeschlossen werden oder die Datei mit einem Kennwort zum Öffnen versehen sein darf (Kersting/Wettich, in Handbuch Multimedia-Recht, 57. EL Sept. 2021, Teil 24, B. Elektronischer Rechtsverkehr, Rn. 20). Den Bedingungen der ERVV entspricht das Dokument auch dann nicht, wenn es verschlüsselt oder mit Viren verseucht oder mit einer anderen schädlichen Software verbunden ist (Fritsche, in MüKoZPO, 6. Aufl. 2020, § 130a ZPO Rn. 4; BT-Drucksache 19/28399, S. 13). Das Merkmal der „Kopierbarkeit“ bezieht sich (lediglich) auf eine PDF-Sicherheitseigenschaft, mit der die Kopierbarkeit des Inhalts der PDF-Datei mit einem PDF-Anzeigeprogramm ausgeschlossen werden kann (Müller, NZS 2018, 207 [211]).

Nicht jeder Verstoß gegen die ERVV soll zur starren Rechtsfolge der (nach § 130 a Abs. 6 ZPO heilbaren) Formunwirksamkeit führen. Denn § 130 a Abs. 2 ZPO, den die ERVV näher ausgestaltet, soll lediglich gewährleisten, dass eingereichte elektronische Dokumente für das Gericht lesbar und bearbeitungsfähig sind (BT-Drs. 17/12634, S. 25). Vor dem Hintergrund dieses Zwecks ist auch die Rechtsfolge eines Verstoßes zu bestimmen: Formunwirksamkeit tritt dann ein, wenn der Verstoß dazu führt, dass eine Bearbeitung durch das Gericht nicht möglich ist, z.B. weil sich die eingereichte Datei nicht öffnen bzw. der elektronischen Akte nicht hinzufügen lässt oder weil sie schadcodebelastet ist. Demgegenüber führen Verstöße gegen die ERVV dann nicht zur Formunwirksamkeit des Eingangs, wenn sie lediglich einen bestimmten Bearbeitungskomfort sicherstellen sollen, nicht aber der Lesbarkeit und Bearbeitbarkeit als solches entgegenstehen (OLG Koblenz, Beschluss vom 23.11.2020 – 3 U 1442/20, NJOZ 2021, 758, Rn. 9; Anders, in Anders/Gehle, ZPO, 80. Aufl. 2022, § 130a Rn. 10a).

b) Mit Gesetz vom 05.10.2021 hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum 01.01.2022 die technischen Rahmenbedingungen entschärft. Zwingend vorgegeben wird nach § 130a Abs. 1 S. 2 ZPO i.V.m. § 2 Abs. 1 ERVV n.F. nunmehr (lediglich) das Dateiformat als PDF. Der Verstoß gegen andere technische Standards soll nur noch dann zur Formunwirksamkeit führen, wenn er dazu führt, dass im konkreten Fall eine Bearbeitung durch das Gericht nicht möglich ist (BT-Drs. 19/28399, S. 33, 40). Damit trägt der Gesetzgeber einzelnen Gerichtsentscheidungen Rechnung, die im Hinblick auf den verfassungsrechtlich gewährleisteten Zugang zu Gericht die Einreichung eines elektronischen Dokuments für wirksam erachtet haben, wenn es trotz Unterschreitens der technischen Anforderungen für das Gericht lesbar und bearbeitbar war (von Selle, in BeckOK ZPO, 43. Ed. 01.01.2022, § 130a Rn. 9.2).

Unter Berücksichtigung dieses rechtlichen Maßstabes kann der gestellte Antrag nicht als unzulässig verworfen werden.

a) Es ist bereits zweifelhaft, ob die Annahme des Landgerichts – wonach die Anträge nicht formgerecht bei Gericht eingegangen seien, da die eingereichten Dokumente nicht in weiterbearbeitbarer Weise kopierbar seien – zutreffend ist.

Die von der Antragstellerseite eingereichten Dokumente wurden als PDF übersandt und besaßen, wie glaubhaft gemacht, unter anderem die Eigenschaft, dass „Kopieren von Inhalt“ zulässig sei. Dem widersprechen auch nicht die Ausführungen des Landgerichts im angegriffenen Beschluss. Denn das Landgericht führte selbst aus, dass es Teile aus den eingereichten Dokumenten kopiert habe.

Soweit das Landgericht bemängelt, dass ein Problem beim nachträglichen Einfügen der kopierten Teile in ein anderes elektronisches Dokument bestanden habe, weil dabei eine unleserliche und sinnentstellte Buchstabenreihung entstanden sei, führt dies nicht zur Unzulässigkeit des Antrags nach § 130a Abs. 2 S. 1 ZPO in der zum Zeitpunkt des Antragseingangs am 20.10.2021 geltenden Fassung. Denn es handelt sich dabei nicht um einen im Verantwortungsbereich des Antragstellers liegenden Mangel der Bearbeitungseignung. Maßgeblich dafür ist, dass die vom Antragsteller übersandten Dokumente nicht mit einem Kennwort zum Öffnen oder schädlicher Software versehen waren oder bei ihnen die Möglichkeit des Kopierens ausgeschlossen wurde. Die vom Landgericht beschriebenen Probleme beim Einfügen in ein Drittdokument sind vielmehr vergleichbar mit einem im internen Gerichtsbetrieb auftretenden Fehler, der nicht zur Unwirksamkeit der Einreichung führt.

b) Darauf kommt es jedoch nicht streitentscheidend an, da es sich jedenfalls bei dem vom Landgericht gerügten Formmangel nicht um einen Verstoß handelt, der – auch vor dem Hintergrund der mit Wirkung zum 01.01.2022 erfolgten Gesetzesänderung – zur Formunwirksamkeit der Anträge führt. Denn die Möglichkeit der Weiterverarbeitung von kopierten Dokumenten soll lediglich einen bestimmten Bearbeitungskomfort sicherstellen, steht aber nicht der Lesbarkeit und Bearbeitbarkeit als solches entgegen. Für Letzteres ist ausreichend, dass sich die Dateien – wie vorliegend unstreitig gegeben – öffnen und lesen lassen, der elektronischen Akte hinzugefügt werden können und nicht schadcodebelastet sind. Folgerichtig bestätigte – wie durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemacht – der zuständige Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des Landgerichts nach telefonischer Nachfrage vom 26.11.2021 dem Antragsteller die Bearbeitbarkeit der versandten Unterlagen. Vor diesem Hintergrund wäre die Zurückweisung des Antrags als unzulässig wegen der Formvorschrift des § 130a Abs. 2 ZPO eine Missachtung der Verfassungsrechtsprechung, die es verbietet, den Zugang zu Gericht durch Anforderungen des formellen Rechts unverhältnismäßig zu erschweren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.10.2004 – 1 BvR 894/04, NJW 2005, 814).“

Zurückverweisung, oder: Wann ist es eine neue Angelegenheit mit neuen Gebühren?

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Und die zweite gebührenrechtliche Entscheidung kommt dann mit dem OLG Koblenz, Beschl. v. 11.09.2019 – 2 Ws 421/19 – auch vom Rhein 🙂 . Er behandelt mal eine Frage in Zusammenhang mit § 21 RVG, also Zurückverweisung. Dazu liest man ja sonst nicht so viel.

Folgender Sachverhalt: In dem der Entscheidung zugrunde liegenden (Umfangs)Verfahren – Stichwort: Aktionsbüro Mittelrhein – findet in der Zeit vom 20.08.2012 – 5.04.2017 an 337 Tagen eine Hauptverhandlung statt. Dann setzt die Strafkammer das Verfahren im Hinblick auf das anstehende Ausscheiden des Vorsitzenden wegen Erreichens der gesetzlichen Altersgrenze aus. Das Verfahren wird schließlich gem. § 206a StPO wegen überlanger Verfahrensdauer eingestellt.

Dagegen legt die Staatsanwaltschaft Beschwerde ein. Das OLG Koblenz hat auf die Beschwerde den Beschluss der Strafkammer aufgehoben und angeordnet, dass das Verfahren beim LG Koblenz fortzusetzen ist.

Der Rechtsanwalt, der dem Angeklagten als Pflichtverteidiger beigeordnet war, macht einen Vorschuss gem. § 47 RVG geltend. U.a. beantragt er auch die Festsetzung einer (weiteren) Verfahrensgebühr Nr. 4118 VV RVG. Das LG setzt die nicht fest, das OLG gewährt die Gebühr:

„Rechtsanwalt pp. hat gegen die Staatskasse einen Anspruch auf Vorschusszahlungen für seine Tätigkeit als Pflichtverteidiger in der Zeit vom 6. April 2017 bis zum 21. November 2018 in Höhe von 5.383,08 Euro. Die Senatsentscheidung vom 4. Dezember 2017 hat bewirkt, dass das weitere Verfahren vor der 12. Strafkammer als Staatsschutzkammer als neuer Rechtszug mit den entsprechenden gebührenrechtlichen Folgen anzusehen ist.

1. Gemäß §§ 21 Abs. 1 RVG ist, soweit eine Sache an ein untergeordnetes Gericht zurückverwiesen wird, das weitere Verfahren vor diesem Gericht ein neuer Rechtszug. Diese Vorschrift ist Ausnahmeregelung zu dem in §§ 15 Abs. 1 RVG enthaltenen Grundsatz, wonach der Anwalt die Gebühren in demselben Rechtszug nur einmal erhält (Thiel in: Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 2. Aufl. §§ 21 Rn. 2). Eine Zurückverweisung im Sinne von §§ 21 Abs. 1 RVG liegt vor, wenn das Rechtsmittelgericht durch eine den Rechtszug beendende Entscheidung einem in dem Instanzenzug untergeordneten Gericht die abschließende Entscheidung überträgt. Das Gericht eines höheren Rechtszuges muss auf Rechtsmittel, wozu auch die Beschwerde zählt, mit der Sache befasst gewesen sein und darf nicht endgültig über die Sache entschieden haben, sondern muss diese zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Untergericht verwiesen haben (vgl. Mayer in: Gerold/Schmidt, RVG-Kommentar, 23. Aufl. §§ 21 Rn. 2 mwN.). Der Begriff der Zurückverweisung nach §§ 21 RVG ist nicht im engen prozessualen Sinne der §§ 538 ZPO, 354 StPO zu verstehen. Eine Zurückverweisung im gebührenrechtlichen Sinne liegt immer dann vor, wenn das Rechtsmittelgericht die abschließende Entscheidung dem untergeordneten Gericht überträgt (vgl. Mayer/Kroiß, RVG §§ 21 Rn. 4, beck-online).

Eine Zurückverweisung in diesem Sinn ist durch den Senat mit Beschluss vom 4. Dezember 207 ausgesprochen worden. Der Senat hat durch Sachentscheidung im Beschwerdeverfahren beschlossen, dass ein Verfahrenshindernis nicht vorliegt, das einmal eröffnete, durch das Erstgericht abgeschlossene Verfahren also fortzusetzen ist. Der Fall liegt nicht anders, als wenn das Revisionsgericht auf entsprechende Rüge der Staatsanwaltschaft gegen ein Prozessurteil nach §§ 260 Abs. 3 StPO dieses aufgehoben und die Sache gemäß §§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere als Staatsschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen hätte. Es kann gebührenrechtlich keinen Unterschied machen, ob das Erstgericht das Verfahren durch Prozessurteil oder – wie hier außerhalb der Hauptverhandlung im Beschlussverfahren nach §§ 206a StPO einstellt.

2. Dies hat zur Folge, dass alle Gebühren und Auslagen erneut entstehen, auch die Pauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen (Nr. 7002 W-RVG), und zwar nach dem zum Zeitpunkt der Zurückverweisung maßgeblichen Gebührenrecht. Wird – wie vorliegend – in einem vor dem Stichtag begonnenen Rechtsstreit die Sache von dem Rechtsmittelgericht nach dem Stichtag an die Vorinstanz zurückverwiesen, so gilt für das Verfahren nach der Verweisung neues Gebührenrecht (vgl. Mayer in: Gerold/Schmidt, aaO. §§ 60 Rn. 82; Thiel in: Schneider/ Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 2. Aufl. §§ 60 Rn. 52; s.a. NJW-Spezial 2015, 316, beckonline). Dies erhellt auch aus §§ 60 Abs. 1 Satz 2 RVG, denn wenn schon die Vergütung des vor einer Gebührenrechtsänderung tätigen Rechtsanwalts im Rechtsmittelverfahren nach Maßgabe einer zwischenzeitlich erfolgten Änderung zu entgelten ist, so muss dies erst recht gelten, wenn – wie im Falle von §§ 21 RVG – durch Zurückverweisung ein neuer Rechtszug entsteht. Eine Anrechnung der Verfahrensgebühr in Straf- und Bußgeldsachen ist nicht vorgesehen (Mayer in Gerold/Schmidt, aaO. §§ 21 Rn. 12)…..“

Zutreffend (vgl. dazu auch den RVG-Kommentar, 5. Auflage 🙂 .

Nochmals: Der nach Zurückverweisung nicht verlesene Anklagesatz, oder: Kein Hellseher

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Die 7. KW. eröffne ich mit zwei verfahrensrechtlichen Beschlüssen des BGH.

Zum „Warmwerden“ stelle ich zunächst den BGH, Beschl. v. 06.12.2018 – 4 StR 424/18, der sich (nochmals) zur Erforderlichkeit der Verlesung der Anklageschrift erhält. „Nochmals, weil der BGH dazu erst vor kurzem Stellung genommen hatte (vgl. hier: Der nach Zurückverweisung nicht verlesene Anklagesatz, oder: Anfängerfehler?). 

Daher macht der 4. Strafsenat es dieses Mal auch recht kurz:

„Das Landgericht hatte die Angeklagten im ersten Rechtsgang mit Urteil vom 21. September 2016 wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen (K. C.) bzw. gefährlicher Körperverletzung (Ka.C.) zu Freiheitsstrafen verurteilt. Mit Beschluss vom 13. April 2017 (4 StR 35/17) hob der Senat dieses Urteil mit den Feststellungen auf. Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten K. C. wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten sowie den Angeklagten Ka.C. wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Ferner hat es Kompensationsentscheidungen getroffen.

Die hiergegen gerichteten Revisionen der Angeklagten haben mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg und führen zur Aufhebung der Strafaussprüche. Im Übrigen sind die Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Die formgerecht ausgeführte Verfahrensrüge einer Verletzung des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO hat keinen Erfolg. Insoweit bemerkt der Senat:

a) Gemäß 243 Abs. 3 Satz 1 StPO ist nach der Vernehmung des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen der Anklagesatz durch den Staatsanwalt zu verlesen. Die Verlesung des Anklagesatzes ist wesentliches Verfahrenserfordernis und elementarer Teil der Hauptverhandlung, deren Unterlassung im Allgemeinen schon deshalb die Revision begründet (vgl. BGH, Beschluss vom 23. August 2006 – 1 StR 466/05, NJW 2006, 3582, 3586). Darüber hinaus dient die Verlesung dem Zweck, den Angeklagten, die ehrenamtlichen Richter und die Öffentlichkeit über die Einzelheiten des Tatvorwurfs zu unterrichten (vgl. BGH, Urteil vom 24. April 2018 – 1 StR 481/17, juris Rn. 4). Dem Angeklagten soll durch die Verlesung der Anklage der Tatvorwurf in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht aktuell vor Augen geführt werden, damit klar wird, wogegen er sich verteidigen kann (vgl. LR-StPO/Becker, 26. Aufl., § 243 Rn. 39). Auf die Verlesung kann nicht verzichtet werden; sie hat grundsätzlich vor Eintritt in die Beweisaufnahme zu erfolgen (LR-StPO/Becker, aaO).

Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt auch für eine Hauptverhandlung nach Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht (vgl. LR-StPO/Becker, aaO, § 243 Rn. 51). Einschränkungen können sich in dieser besonderen prozessualen Konstellation gegebenenfalls infolge eingetretener Teilrechtskraft oder aufgrund sonstiger Beschränkungen oder Erweiterungen des Verfahrensgegenstandes nach § 154a Abs. 2 und 3 StPO ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 24. April 2018, aaO). Nur bei Zurückverweisung der Sache allein im Strafausspruch sind statt des Anklagesatzes das in Teilrechtskraft erwachsene Urteil sowie die Revisionsentscheidung zu verlesen.

b) Gemessen hieran entsprach die vom Vorsitzenden gewählte Vorgehensweise, im Rahmen des Berichts über den bisherigen Verfahrensgang zunächst die Feststellungen aus dem im ersten Rechtsgang ergangenen Urteil vom 21. September 2016 sowie die Revisionsentscheidung des Senats und erst hieran anschließend – anstelle des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft – den Anklagesatz zu verlesen, angesichts der gewählten Reihenfolge sowie des Umstands, dass nicht der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, sondern der Vorsitzende den Anklagesatz verlesen hat, nicht den gesetzlichen Vorgaben.“

Aber:

„Der Senat vermag jedoch auszuschließen, dass das angegriffene Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Die gewählte Verfahrensweise beeinträchtigte die der Verlesung des Anklagesatzes zugedachte Funktion, die Angeklagten vor Eintritt in die Beweisaufnahme in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht vollständig über den Tatvorwurf zu informieren, um ihnen eine sachgerechte Verteidigung zu ermöglichen, nicht. Auch die Schöffen und die Öffentlichkeit wurden ausreichend über den Gegenstand des Verfahrens informiert.

Soweit die Revisionen darauf hinweisen, dass ein Beruhen des Urteils auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler nicht auszuschließen sei, weil die Schöffen durch die Verlesung des aufgehobenen Urteils und die hierin liegende Vermittlung von Aktenkenntnis zum Nachteil der Angeklagten beeinflusst worden sein könnten, wäre dies keine Folge eines Verfahrensverstoßes gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO. Dass der Vorsitzende (auch) das im ersten Rechtsgang ergangene Urteil sowie die darauf bezogene Entscheidung des Senats verlesen hat, begegnet unabhängig davon für sich genommen auch keinen rechtlichen Bedenken (vgl. BGH, Urteil vom 23. März 1976 – 1 StR 9/76, GA 1976, 368).“

Man kann übrigens dem LG Essen nicht vorwerfen, die BGH-Rechtsprechung nicht zu kennen, denn: Das der Entscheidung des BGH zugrunde liegende Urteil stammt vom 17.04.2018, die Entscheidung des 1. Strafsenats in 1 StR 481/17 vom 24.04.2018. Hellseher muss der Richter nicht sein.

Und: <<Werbemodus an>>: Die Entscheidung vom 11.04.2018 findet man natürlich auch in der Neuauflage von „Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl.“ – alles andere wäre schlecht. Die Neuauflage bzw. die daraus vom Verlag zusammen mit anderen Handbüchern von mir aufgelegten Pakete kann man hier bestellen. Und für die Neuauflage gibt es dann auch schon eine erste Rezension (mit Kaufempfhelung 🙂 hier. <<Werbemodus aus>>

OWi III: Keine Entscheidungsgründe – aber dennoch keine Zulassung, oder: Nur schwer vermittelbar…

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Und den Abschluss des Tages macht dann heute der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.08.2018 – 1 RBs 200/18. Ergangen ist die Entscheidung in einem Bußgelverfahren nach der Verurteilung des Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Der Betroffene hatte mit seinem Zulassungsantrag u.a. eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend gemacht. Ohne Erfolg:

„2. Soweit der Betroffene beanstandet, das Amtsgericht habe seinen Antrag auf Aussetzung oder Unterbrechung der Hauptverhandlung und Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zwecks Beiziehung weiterer Unterlagen unter Verletzung des rechtlichen Gehörs verfahrensfehlerhaft beschieden, genügt sein diesbezügliches Vorbringen nicht den gesetzlichen Darlegungsanforderungen der §§ 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Nach diesen Vorschriften sind die Tatsachen, aus denen eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG) hergeleitet wird, im Zulassungsverfahren in Form einer Verfahrensrüge geltend zu machen, die nur dann zulässig erhoben ist, wenn der Antragsteller einen Sachverhalt vorträgt, aus dem sich — bei unterstellter Richtigkeit des Tatsachenvorbringens — der gerügte Verfahrensverstoß bereits schlüssig ergibt (KK¬Hadamitzky, OWiG, 5. Aufl. [2018] § 80 Rdnr. 41b).

Daran fehlt es hier. Aus der beanstandeten Ablehnungsentscheidung kann sich schon deshalb kein Gehörsverstoß ergeben, weil die — überdies von der hier nicht vorliegenden Zustimmung der Staatsanwaltschaft abhängige — Zurückverweisung an die Verwaltungsbehörde gem. § 69 Abs. 5 Satz 1 OWiG im Ermessen des Tatrichters steht. Auch bei offensichtlich ungenügender Aufklärung des Sachverhalts kann dieser von der Zurückverweisung absehen (Seitz/Bauer, a.a.O., § 69 Rn. 57). Dem Betroffenen steht es dann frei, durch die Stellung von Beweisanträgen auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken. Dass der Betroffene einen auf Beiziehung der vermissten Unterlagen (u.a. Rohmessdaten sowie Betriebsanleitung und „Lebensakte“ des Messgeräts) gerichteten Beweisantrag gestellt hätte, ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen hingegen nicht.“

Im Übrigen auch aus anderen Gründen eine OLG-Entscheidung, die der Verteidiger seinem Mandanten nur schwer wird vermitteln können, und zwar: Das AG-Urteil hatte keine Gründe, dennoch aber – wie die h.M. in der Rechtsprechung – keine Zulassung der Rechtsbeschwerde:

„a) Zwar weist das amtsgerichtliche Urteil entgegen § 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 267 StPO keine Entscheidungsgründe auf. Das — auch unter Berücksichtigung der Vorgaben des § 77b OWiG — unzulässige Fehlen von Urteilsgründen rechtfertigt jedoch im Anwendungsbereich des § 80 OWiG für sich allein noch nicht die Zulassung der Rechtsbeschwerde; vielmehr bedarf es auch in einem solchen Fall einer Prüfung der Zulassungsvoraussetzungen, für die das Rechtsbeschwerdegericht auch auf Er-kenntnisquellen außerhalb der Urteilsurkunde zurückgreifen darf. Das Fehlen von Urteilsgründen führt daher nur dann zur Begründetheit des Zulassungsantrags, wenn der Senat weder aufgrund des abgekürzten Urteils noch aufgrund des Bußgeldbe-scheids, des Zulassungsantrags, eventuell nachgeschobener Urteilsgründe, dienstlicher Erklärungen oder sonstiger Umstände beurteilen kann, ob die Zulassungsvo-raussetzungen vorliegen (BGHSt 42, 187 ff.; Senat, Einzelrichterbeschlüsse vom 18. Januar 2017 — IV-1 RBs 2/17, vom 27. Juni 2012 — IV-1 RBs 98/12, vom 3. Februar 2012 — IV-1 RBs 14/12 und vom 18. Februar 2010 — IV-1 RBs 9/10; OLG Celle NdsRpfl 1997, 52; KG NZV 1992, 332, 333)….“

Der nach Zurückverweisung nicht verlesene Anklagesatz, oder: Anfängerfehler?

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Bei der zweiten verfahrensrechtlichen Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um das BGH, Urt. v. 24.04.2018 – 1 StR 481/17. Es geht um die Nichtverlesung des Anklagesatze in der Hauptverhandlung. Das LG hat den Angeklagten in einem Verfahren wegen betruges verurteilt. In dem Verfahren war der Angeklagte schon einmal verurteilt worden, und zwar im Januar 2016. Das Urteil hatte der BGH im  September 2016 auf eine Verfahrensrüge des Angeklagten hin teilweise aufgehoben und das Verfahren zurückverwiesen. Gegen das neu ergangene Urteil hat sich der Angeklagte nun wiederum mit einer Verfahrensrüge gewendet, die erneut Erfolg hatte:

„I.
Die Revision rügt mit der Verfahrensrüge, dass in der vom 3. bis zum 30. Mai 2017 andauernden, neu durchgeführten Hauptverhandlung der die vorliegende Tat betreffende Anklagesatz aus der Anklageschrift vom 20. August 2015 nicht verlesen wurde.

II.

Auf die zulässig erhobene Verfahrensrüge war die Entscheidung des Landgerichts Kempten aufzuheben, sodass es auf die weitere Verfahrensrüge sowie auf die Sachrüge nicht ankommt.

1. Gemäß § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO ist nach der Vernehmung des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen der Anklagesatz zu verlesen. Dies erfüllt unter anderem den Zweck, den Angeklagten und die übrigen Verfahrensbeteiligten, insbesondere die Schöffen, aber auch die Öffentlichkeit über weitere Einzelheiten des Vorwurfs zu unterrichten (BGH, Urteil vom 28. April 2006 – 2 StR 174/05, NStZ 2006, 649, 650) und ihnen zu ermöglichen, ihr Augenmerk auf die Umstände zu richten, auf die es in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ankommt (Gorf in BeckOK/StPO, 29. Ed., § 243 StPO Rn. 17). Auf die Verlesung kann daher auch nicht verzichtet werden (LR-Becker, StPO, 26. Aufl., § 243 Rn. 39). Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt auch nach Zurückverweisung der Sache durch ein Rechtsmittelgericht, wobei nur insoweit Einschränkungen durch eine eingetretene Teilrechtskraft oder vorgenommene Beschränkungen oder Erweiterungen des Verfahrensgegenstandes nach § 154a Abs. 2 und 3 StPO zu berücksichtigen sind (LR-Becker, StPO, 26. Aufl., § 243 Rn. 51; Gorf in BeckOK/StPO, 29. Ed., § 243 StPO Rn. 25). Nur bei Zurückverweisung der Sache allein im Strafausspruch sind statt des Anklagesatzes insoweit das Ausgangsurteil und die zurückverweisende Revisionsentscheidung zu verlesen.

Vorliegend betraf die Aufhebung der Entscheidung vom 18. Januar 2016 auch den Schuldspruch, weshalb der entsprechende Teil des Anklagesatzes zu verlesen war. Die Verlesung des Anklagesatzes gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten im Sinne des § 273 Abs. 1 StPO, deren Einhaltung gemäß § 274 StPO nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (BGH, Urteil vom 13. Dezember 1994 – 1 StR 641/94, NStZ 1995, 200, 201). Nachdem das Sitzungsprotokoll hierzu schweigt, muss der Senat davon ausgehen, dass der Anklagesatz in der neuen Hauptverhandlung nicht verlesen wurde.

2. Die Verlesung des Anklagesatzes ist ein so wesentliches Verfahrenserfordernis, dass die Unterlassung im Allgemeinen die Revision begründet (BGH, Beschluss vom 7. Dezember 1999 – 1 StR 494/99, NStZ 2000, 214). Allenfalls in einfach gelagerten Fällen, in denen der Zweck der Verlesung des Anklagesatzes durch die Unterlassung nicht beeinträchtigt worden ist, kann ein Beruhen des Urteils auf der Nichtverlesung des Anklagesatzes unter Umständen ausgeschlossen werden (BGH, Beschluss vom 7. Dezember 1999 – 1 StR 494/99, aaO). Wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 9. Oktober 2017 ausführlich dargelegt hat, liegt der vorliegenden Strafsache schon angesichts des Umfangs der Tatschilderung in der angefochtenen Entscheidung kein einfach gelagerter Sachverhalt zu Grunde, was auch durch die umfangreiche Beweiswürdigung bestätigt wird. Auch wenn Teile des Revisionsbeschlusses und des angefochtenen Urteils in der Hauptverhandlung zur Verlesung kamen, reichte dies zur Information der Prozessbeteiligten, welche den Akteninhalt nicht kannten, erst recht nicht zur Information der Öffentlichkeit aus. Der Senat vermag daher nicht auszuschließen, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensverstoß beruht.“

In meinen Augen (mal wieder) so eine Entscheidung, bei der man sich fragt, warum es die eigentlich gibt. Oder: Merkt das denn eigentlich nieman, und zwar entweder in der Hauptverhandlung, dass der Anklagesatz noch nicht verlesen worden ist oder später, dass die Verlesung des Anklagesatzes – wenn sie erfolgt ist – nicht m Protokoll steht. Ob das ein „Anfängerfehler“ ist, mag jeder Leser selbst für sich entscheiden.