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StPO III: HVT mit dem Verteidiger abgestimmt, oder: Verlegung scheidet aus

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Und als letzte Entscheidung des Jahres, die nichts mit Gebühren zu tun hat – die kommen morgen noch, hier dann noch der OLG Saarbrücken, Beschl. v.14.12.2022 – 4 Ws 379/22. Es geht noch einmal um die Frage der Anfechtung einer Terminierungsentscheidung.

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen verschiedener Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz erhoben. Der Angeklagte selbst ist wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge angeklagt. Zwei seiner Mitangeklagten befinden sich seit dem 01.07.2022 in Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom 31.10.2022 hat der Vorsitzende der Strafkammer sämtliche Verteidiger über das elektronische Anwaltspostfach über die in Betracht kommenden Hauptverhandlungstermine informiert und um Mitteilung etwaiger Terminsverhinderungen binnen zwei Tagen gebeten. Der Verteidiger des Angeklagten hat die ihm möglichen Hauptverhandlungstermine – darunter den 20.01.2023 – mit Schreiben vom 08.11.2022 mitgeteilt. Mit Verfügung vom selben Tag hat der Vorsitzende der 4. Großen Strafkammer Hauptverhandlungstermine für den 04.01. 2023, 05.01.2023, 20.01.2023, 01.02.2023 und 07.02.2023 festgelegt und die Verteidiger hierüber noch am selben Tag in Kenntnis gesetzt.

Nach der am 30.11.2022 erfolgten Eröffnung des Hauptverfahrens und Ladung der Verfahrensbeteiligten zu den Hauptverhandlungsterminen hat der Verteidiger des Angeklagten die Aufhebung des für den 20.01.2023 bestimmten Hauptverhandlungstermins beantragt. Zur Begründung hat er mitgeteilt, zwischenzeitlich sei in anderer Sache mit dem zuständigen Richter des Amtsgerichts Saarbrücken ein Hauptverhandlungstermin für diesen Tag abgesprochen worden. Die Ladung zu diesem Termin habe er am 21.11.2022 erhalten.  Der Kammervorsitzende hat eine Aufhebung des Verhandlungstermins unter Hinweis darauf abgelehnt, dass in dem umfangreichen Verfahren mit insgesamt sechs Verteidigern die Hauptverhandlungstermine im Vorfeld abgesprochen worden seien.

Gegen die Ablehnung der Verlegung des Termins hat der Verteidiger des Angeklagten ein unbenanntes Rechtsmittel eingelegt. Das OLG sagt dazu: zar zulässig – insoweit verweise ich auf den verlinkten Volltext – aber leider erfolglos:

„2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet.

a) Nach § 213 Abs. 1 StPO wird der Termin zur Hauptverhandlung von dem Vorsitzenden des erkennenden Gerichts anberaumt. Für wann Termin bestimmt wird, entscheidet er nach pflichtgemäßem Ermessen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.; § 213 Rdnr. 6; KK-StPO/Schneider/Gmel, StPO, 8. Aufl., § 213 Rdnr. 1; Löwe-Rosenberg/Jäger, StPO, § 213 Rdnr. 10). Im Falle der Verhinderung des Verteidigers kann die Terminbestimmung ermessensfehlerhaft sein, wenn das Recht des Angeklagten auf freie Wahl des Verteidigers dadurch eingeschränkt wird, dass der Verteidiger das Mandat wegen terminlicher Verhinderung nicht wahrnehmen kann, weil er keinen Einfluss auf die Terminwahl nehmen konnte (Löwe-Rosenberg/Jäger a.a.O.). Umgekehrt kann und darf die Terminlage von Verteidigern in Haftsachen nur insoweit Berücksichtigung finden, wie dies nicht zu einer erheblichen Verzögerung des Verfahrens führt (BGH StV 2006, 680; KG Berlin, Beschluss vom 25. November 2016 – (4) 161 HEs 31/16 (30 – 34/16) –, juris; Löwe-Rosenberg/Jäger, a.a.O., § 213 Rdnr. 18 m.w.N.). Die Terminbestimmung erfolgt im Regelfall alsbald nach Eröffnung des Hauptverfahrens; Terminabsprachen können jedoch auch bereits vorher vorbehaltlich der Anklagezulassung erfolgen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 213 Rdnr. 6). Über Terminverlegungsanträge entscheidet der Vorsitzende unter Berücksichtigung der eigenen Terminplanung, der Gesamtbelastung des Spruchkörpers, des Gebots der Verfahrensbeschleunigung, welchem in Haftsachen besonderes Gewicht zukommt, und der berechtigten Interessen aller Prozessbeteiligten, zu denen auch das Interesse eines Angeklagten gehört, als Ausfluss des Rechts auf ein faires Verfahren und auf eine wirksame Verteidigung durch einen Verteidiger seiner Wahl vertreten zu werden (vgl. BGH, Beschluss vom 21. März 2018 – 1 StR 415/17 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 02. Februar 2015 – III-5 Ws 36/15 –, juris; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 213 Rdnr. 7 m.w.N.; Löwe-Rosenberg/Jäger, a.a.O., § 213 Rdnr. 17 m.w.N.).

b) Die Terminierung überprüft das Beschwerdegericht nur darauf, ob die Verteidigung im Vorfeld ausreichend beteiligt wurde und ob der Vorsitzende sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat (OLG Frankfurt a.a.O.; Löwe-Rosenberg/Jäger, a.a.O., § 213 Rdnr. 18). Die Zweckmäßigkeit der Terminsbestimmung einschließlich der Möglichkeit einer anderen Terminsplanung und Terminierung ist der Nachprüfung des Beschwerdegerichts entzogen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 213 Rdnr. 8 m.w.N.; Löwe-Rosen-berg/StPO, a.a.O., § 213 Rdnr. 8 m.w.N.).

c) Unter Anwendung dieser Grundsätze erweist sich die Beschwerde als unbegründet.

(1) Der Kammervorsitzende hat den Hauptverhandlungstermin vom 20. Januar 2023 erst anberaumt, nachdem der Verteidiger des Angeklagten ausdrücklich erklärt hatte, an diesem Tag zur Verfügung zu stehen. Die verbindliche Festlegung der Hauptverhandlungstermine erfolgte in zulässiger Weise bereits vor der Eröffnung des Hauptverfahrens durch Schreiben des Vorsitzenden vom 08. November 2022, und nicht – wie der Verteidiger meint – erst mit der Zustellung der Terminladungen.

(2) Die Entscheidung über die Ablehnung des Antrags des Verteidigers, den Termin vom 20. Januar 2023 zu verlegen, weist keine Ermessensfehler auf. Gegenstand der Prüfung des Beschwerdegerichts ist diesbezüglich die Verfügung des Vorsitzenden vom 01. Dezember 2022 in Gestalt der Nichtabhilfeentscheidung der Kammer vom 02. Dezember 2022, da diese mit der Ausgangsentscheidung verfahrensrechtlich eine Einheit bildet und sie ergänzend begründen kann (vgl. OLG Stuttgart NStZ-RR 2016, 383; OLG Hamm, Beschluss vom 21. Dezember 2017 – III-5 Ws 578/17 –, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 306 Rdnr. 8). Die Strafkammer hat im Rahmen ihrer Entscheidung insbesondere nicht verkannt, dass ihr hinsichtlich der Frage einer etwaigen Verlegung des Termins vom 20. Januar 2023 ein Ermessensspielraum zustand, sondern ausdrücklich noch im Nichtabhilfeverfahren ein mögliches Abrücken von der Entscheidung des Vorsitzenden erwogen. Das Interesse des Angeklagten, auch im Termin vom 20. Januar 2023 von einem Verteidiger seiner Wahl vertreten zu werden, hat der Vorsitzende bereits in der Abstimmung des Termins mit dem Verteidiger in der gebotenen Weise berücksichtigt, also erkennbar nicht aus dem Blick verloren, jedoch in der gebotenen Weise zugleich die – hier angesichts der sich bereits über einen Zeitraum von nahezu sechs Monaten erstreckenden Inhaftierung gewichtigen (vgl. BVerfG NJW 2006, 672, 676; BGH NStZ 2007, 163; OLG Hamm, Beschluss vom 6. November 2012 – III-5 Ws 333/12 –, juris) – Interessen zweier Mitangeklagter an einer beschleunigten Verfahrensgestaltung in seine Erwägungen eingestellt. Soweit der Verteidiger meint, im Rahmen der getroffenen Entscheidung sei nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt worden, dass eine Ladung zu dem kollidierenden amtsgerichtlichen Termin bereits vor der in vorliegendem Verfahren erfolgt sei, vermag der Senat dem bereits deshalb nicht zu folgen, weil die Bestimmung der Hauptverhandlungstermine durch den Vorsitzenden der 4. Strafkammer bereits durch Schreiben vom 08. November 2022 erfolgt war, also bevor den Verteidiger am 21. November 2022 die amtsgerichtliche Ladung erreicht hat. Soweit der Verteidiger geltend macht, ihm sei nicht zuzumuten, Termine vorsorglich zu blockieren, liegt ein solcher Fall angesichts der verbindlichen Terminabsprache nicht vor.“

Pflichti III: Nochmals zur rückwirkenden Bestellung, oder: Uneinigkeit im Haus

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Und dann im letzten Beitrag noch einige Entscheidungen zur Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Dazu kann man inzwischen feststellen, dass die wohl herrschende Meinung in der Rechtsprechung der LG/AG die rückwirkende Bestellung als zulässig ansieht. Das lässt sich in etwa folgenden Leitsätzen zusammenfassen:

1. Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist vorzunehmen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde.
2. „Unverzüglich“ im Sinnde des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO bedeutet, dass über den Beiordnungsantrag in der Regel innerhlab von zwei Wochen zu entscheiden ist.
3. Die Möglichkeit, nahc § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Dazu hier dann LG Flensburg, Beschl. v. 05.10.2021 – II Qs 45/21, LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 31.05.2022 – 5/6 Qs 20/22 zur (rückwirkenden) Bestellung im Strafbefehlsverfahren, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung die Bestellungsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen, LG Kiel, Beschl. v. 30.08.2021 – 1 Qs 30/21LG Kiel, Beschl. v. 22.7.2022 – 5 Qs 7/22 und LG Konstanz, Beschl. v. 10.09.2022 – 3 Qs 68/22.

Teilweise wird die rückwirkende Bestellung aber auch als unzulässig angesehen, wie z.B. hier der LG Kiel, Beschl. v. 31.03.2022 – 10 Qs 19722 und der AG Flensburg, Beschl. v. 04.08.2022 – 480 Gs 829/22.

Was mich immer erstaunt ist die teilweise uralte Rechtsprechung, die zur Stützung der ablehnenden Ansicht herangezogen wird, und: Warum ist man sich nicht innerhalb eines Gerichts einig, wie man entscheiden will – siehe die Entscheidungen aus Kiel 🙂 .

BVerfG II: Fingerabdruck und Polizeifotos beim Sprayer, oder: erkennungsdienstliche Maßnahmen zulässig?

entnommen obenclipart.org

Bei der zweiten BVerfG-Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den BVerfG, Beschl. v. 29.07.2022 – 2 BvR 54/22. Die dort vom BVerfG beschiedene Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen die Anordnung mehrerer erkennungsdienstlicher Maßnahmen nach § 81b Alt. 1 StPO.

Ich nehme den Sach verhalt (wieder) aus der PM des BVerfG:

„….  Anfang Juni 2021 brachte ein zunächst unbekannter Täter an einem Gasverteilergebäude zwei großflächige, mit silberner Sprühfarbe ausgeführte Übermalungen der dort bereits in weißer und schwarzer Farbe angebrachten Schriftzüge „Toni F. Du Jude“ und „Antifa Boxen“ an. Der Täter wurde dabei von einem Zeugen angesprochen, gefilmt und fotografiert. Dieser Zeuge gab bei seiner späteren Vernehmung an, er sei in der Lage, die Person wiederzuerkennen. Die Eigentümerin des betroffenen Gebäudes stellte Strafantrag. Ausgehend von einem anonymen Hinweis erkannten zwei Polizeibeamte den Beschwerdeführer auf den vom Zeugen gefertigten Lichtbildern wieder. Gegen den Beschwerdeführer wurde daraufhin ein Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung eingeleitet.

Anfang Juli 2021 ordnete die Polizei an, den Beschwerdeführer gemäß § 81b Alt. 1 und 2 der Strafprozessordnung (StPO) erkennungsdienstlich zu behandeln und hierzu ein Fünfseitenbild, ein Ganzkörperbild, eine Personenbeschreibung, ein Spezialbild sowie einen Zehnfinger- und Handflächenabdruck anzufertigen. Zur Begründung führte die Anordnung unter anderem unter Bezugnahme auf § 81b Alt. 1 StPO aus, eine erkennungsdienstliche Behandlung sei notwendig, weil die „aufgeführten Maßnahmen“ zur Sachverhaltsaufklärung erforderlich seien. Der Beschwerdeführer sei von einem Zeugen gesehen, gefilmt und auf diesen Bildern von mehreren Polizeibeamten erkannt worden. Um den Beschwerdeführer der Tat beweiskräftig vor Gericht zu überführen, müsse dem Zeugen eine Wahllichtbildvorlage vorgelegt werden. Dies diene dazu, den Beschwerdeführer zu identifizieren oder ihn vom Tatvorwurf zu entlasten. Die Wiedererkennung durch Polizeibeamte allein sei bei fehlendem Geständnis, Inanspruchnahme des ihm zustehenden Aussageverweigerungsrechts oder dem Abstreiten der Tat vor Gericht als Beweis nicht geeignet, zumal das Bildmaterial von schlechter Qualität sei.

Soweit sich die Anordnung auf § 81b Alt. 1 StPO stützt, stellte der Beschwerdeführer beim Amtsgericht einen Antrag auf gerichtliche Feststellung, dass diese aufzuheben sei. Das Amtsgericht bestätigte die Anordnung mit Beschluss vom 12. Oktober 2021. Zur Begründung nahm es auf die Gründe der Anordnung Bezug. Die Anordnung sei – auch ihrem Umfang nach – für die Aufklärung der Straftat erforderlich.

Gegen den Beschluss legte die Verteidigerin des Beschwerdeführers im Oktober 2021 Beschwerde zum Landgericht ein und führte in der Begründung aus, dass ihr Mandant nicht bestreite, die Person zu sein, mit der der Zeuge gesprochen habe. Weiterhin räume der Mandant ein, die Person auf den von dem Zeugen gefertigten Aufnahmen zu sein. Einer Anfertigung von Lichtbildern bedürfe es aus diesem Grund nicht. Eine Anfertigung von Finger- sowie Handflächenabdrücken sei dagegen nicht zulässig, da es kein Vergleichsmaterial gebe.

Nachdem das Amtsgericht der Beschwerde nicht abgeholfen hatte, verwarf das Landgericht diese mit angegriffenem Beschluss vom 6. Dezember 2021 als unbegründet und nahm zur Begründung vollinhaltlich Bezug auf die polizeiliche Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung, der nichts hinzuzufügen sei.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG durch die landgerichtliche Entscheidung.“

Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Auch hier verweise ich wegen der Einzelheiten der Begründung auf den verlinkten Volltext. Hier nur:

„2. Der Beschluss des Landgerichts ist mit diesen Maßstäben nicht in Einklang zu bringen. Soweit er die Anfertigung eines Zehnfinger- und Handflächenabdrucks betrifft, war die Anfertigung dieser Abdrücke für die Strafverfolgung bereits nicht geeignet (a). Hinsichtlich der Anfertigung eines Fünfseiten- und Ganzkörperbildes hat das Landgericht die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Beschwerdeführers auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG mangels Auseinandersetzung mit deren konkreter Notwendigkeit ebenfalls grundlegend verkannt (b).

a) Das Landgericht geht zwar unter Bezugnahme auf die Gründe der polizeilichen Anordnung noch nachvollziehbar davon aus, dass der Beschwerdeführer Beschuldigter in einem Strafverfahren war und gegen ihn ein konkreter Anfangsverdacht nach § 152 2 StPO wegen des Vorwurfs der Sachbeschädigung nach § 303 Abs. 2 StGB bestand. Die Abnahme eines Zehnfinger- und Handflächenabdrucks war zur Erreichung des Zwecks der Maßnahme – der Täterfeststellung und damit der Durchführung des Strafverfahrens – jedoch bereits nicht geeignet. Die Identifizierung des Täters konnte nicht über die Abnahme eines Zehnfinger- und Handflächenabdrucks erfolgen, weil Finger- oder Handflächenabdrücke ausweislich der Ermittlungsakte am Tatort nicht sichergestellt wurden. Ausführungen zur konkreten Notwendigkeit dieser erkennungsdienstlichen Maßnahmen sind weder dem landgerichtlichen Beschluss noch der in Bezug genommenen Begründung der polizeilichen Verfügung zu entnehmen. Die polizeiliche Verfügung, auf welche das Landgericht in seiner Begründung verweist, verhält sich allein zur konkreten Notwendigkeit der Bildaufnahmen nach § 81b Alt. 1 StPO. Eine Begründung der Notwendigkeit der Abnahme von Zehnfinger- und Handflächenabdrücken weist sie lediglich für die erkennungsdienstliche Anordnung nach § 81b Alt. 2 StPO aus, die dem Zweck der Erforschung und Aufklärung zukünftiger Straftaten dienen sollte. Auf diese Begründung der Maßnahme gemäß § 81b Alt. 2 StPO kann für die Rechtmäßigkeit der Anordnung nach § 81b Alt. 1 StPO jedoch kein Bezug genommen werden. Denn die vom Gesetzgeber vorgegebenen präzisen Verwendungszwecke würden konterkariert, wollte man eine nach § 81b Alt. 2 StPO rechtmäßige Datenerhebung zur Kompensation für eine defizitär begründete Anordnung gemäß § 81b Alt. 1 StPO heranziehen.

b) Die konkrete Notwendigkeit der Anordnung der Anfertigung eines Fünfseiten- und Ganzkörperbildes hat das Landgericht ebenfalls nicht verfassungsrechtlich tragfähig begründet. In der vollinhaltlichen Bezugnahme auf die polizeiliche Anordnung, der nach Ansicht des Landgerichts nichts hinzuzufügen war, ist eine umfassende Abwägung zwischen den Interessen einer wirksamen Strafverfolgung und dem Interesse des Beschwerdeführers im Rahmen der Prüfung der Notwendigkeit der Maßnahme nicht erkennbar. Es fehlt bereits eine Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass der Zeuge der Sachbeschädigung angegeben hatte, in der Lage zu sein, den Täter wiederzuerkennen. Dies hätte auch im Rahmen einer Beweisaufnahme in der – zeitnah zu erwartenden – Hauptverhandlung erfolgen können. Ebenso wenig erörtert die polizeiliche Anordnung, dass es auch dem Tatrichter im Rahmen der Hauptverhandlung grundsätzlich möglich gewesen wäre, einen Abgleich zwischen den in der Akte befindlichen Lichtbildern sowie dem Erscheinungsbild des Beschwerdeführers vorzunehmen. Es ergibt sich auch nicht aus der Akte, dass die von dem Zeugen gefertigten Lichtbilder für einen solchen Abgleich ungeeignet gewesen wären. Vielmehr erkannten die Polizeibeamten den Beschwerdeführer spontan auf diesen Lichtbildern wieder.“

Vollstreckung II: Zulässigkeit einer Teilvollstreckung, oder: Berufung gegen Gesamtfreiheitsstrafe

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Bei der zweiten vollstreckungsrechtlichen Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den OLG Celle, Beschl. v. 21.01.2022 – 2 Ws 5/22, den mir der Kollege Urbaneck aus Minden geschickt hat. Das OLG behandelt eine ganz interessante Frage, mit der übrigens dann auch schon das BVerfG befasst war.

Folgender Sachverhalt: Das AG hat den Verurteilten am 16.07.2019 wegen Betruges in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Die hiergegen eingelegte Berufung hat das LG am 11.05.2021 verworfen.

Am 11.11.2021 verurteilte das AG den Verurteilten wegen Betruges in 5 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 10 Monaten und setzte deren Vollstreckung zur Bewährung aus. Dabei bezog das AG die in dem o.g. Urteil vom 16.07.2019 verhängten Einzelstrafen unter gleichzeitiger Auflösung der dort gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe ein. Über das gegen die Verurteilung vom 11.11.2021 eingelegte Rechtsmittel ist noch nicht entschieden worden.

Nach Einleitung der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 16.07.2019 wurde der Verurteilte auf der Grundlage eines Vollstreckungshaftbefehls am 22.11.2021 vorläufig festgenommen und am 23.11.2019 (Edit: Muss wohl 23.11.2021 heißen) in Strafhaft überführt. Seinem Antrag vom 26.11.2021 auf Einstellung der weiteren Vollstreckung und seine sofortige Entlassung aus der Strafhaft hat die Staatsanwaltschaft nicht stattgegeben und die Sache zur Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vorgelegt. Die hat die Einwendungen zurückgewiesen. Dagegen hat der Verurteilte sofortige Beschwerde eingelegt. Das BVerfG hat im Wege einer einstweiligen Anordnung die weitere Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 16.07.2019 bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die vom Verurteilten nach § 458 Abs. 1 StPO erhobenen Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Vollstreckung, längstens für die Dauer von 6 Monaten, ausgesetzt.

Die sofortige Beschwerde hat dann jetzt beim OLG Celle Erfolg:

„1. Die vom Beschwerdeführer gegen die Zulässigkeit der Vollstreckung seiner rechtskräftigen Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Stadthagen vom 16.07.2019 i.V.m. dem Urteil des Landgerichts Bückeburg vom 11.05.2021 erhobenen Einwände sind begründet. Denn die Teilvollstreckung dieser Gesamtfreiheitsstrafe würde bei dem Beschwerdeführer im Hinblick auf sein anhängiges Rechtsmittel gegen die Nachverurteilung vom 11.11.2021, in welcher die der Gesamtstrafe zugrunde liegenden Einzelstrafen bei der neu gebildeten und zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe einbezogen wurden, zu einem rechtswidrigen Nachteil führen.

a) Die Teilvollstreckung von rechtskräftigen Einzelfreiheitsstrafen, selbst wenn sie in eine nichtrechtskräftige Gesamtstrafe eingegangen sind, ist nach herrschender Meinung in Rechtsprechung und Literatur nach § 449 StPO in formeller Hinsicht grundsätzlich möglich (vgl. KG Berlin, Beschl. v. 18.05.2018 — 5 Ws 65 – 66/18 —, juris, mwN). Denn es handelt sich bei rechtskräftigen Einzelstrafen nicht nur um bloße Rechnungsfaktoren für die Bemessung der Gesamtstrafe, sondern um rechtlich selbständige, der Rechtskraft fähige richterliche Entscheidungen, die der Teilvollstreckung zugänglich sind. Indes darf die im Ermessen der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde stehende Teilvollstreckung nur angeordnet werden, wenn hierfür ein echtes und unabweisbares Bedürfnis besteht. In keinem Fall darf dem Verurteilten durch die Teilvollstreckung ein Nachteil entstehen. Daher scheidet eine Teilvollstreckung nach §§ 449, 458 Abs. 1 StPO aus, wenn nach Wegfall der angefochtenen Gesamtfreiheitsstrafe die Möglichkeit besteht, dass dem Angeklagten eine Strafaussetzung zur Bewährung gewährt werden könnte (vgl. KG Berlin, aaO; OLG Hamm, Beschl. v. 17.01.2012 – 3 Ws 14/12 – juris; Appl in KK-StPO, 8. Auflage, § 449 Rd. 16 f.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage, § 449 Rd. 11). Eine solche Möglichkeit ist bereits dann anzunehmen, wenn es abstrakt — unabhängig von konkreten Strafzumessungserwägungen — nicht ausgeschlossen ist, dass eine neue Gesamtfreiheitsstrafe in aussetzungsfähiger Höhe gebildet wird. Die Teilvollstreckung einer in Rechtskraft erwachsenen Einzelfreiheitsstrafe ist daher nur dann zulässig, wenn sie über zwei Jahren liegt oder wenn neben einer Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren eine weitere Einzelstrafe rechtskräftig ist.

b) In Ansehung der vorstehenden Grundsätze ist die Vollstreckung der durch das Urteil des Amtsgerichts Stadthagen vom 16.07.2019 in Verbindung mit dem Urteil des Landgerichts Bückeburg vom 11.05.2021 ausgesprochenen Gesamtfreiheitsstrafe unzulässig, da die ihr zugrundeliegenden Einzelstrafen im nachfolgenden Urteil des Amtsgerichts Stadthagen vom 11.11.2021 in die neu gebildete und zur Bewährung ausgesetzte Gesamtstrafe von 1 Jahr und 10 Monaten einbezogen wurden. Unerheblich ist, dass dieses Urteil noch nicht rechtskräftig geworden ist. Der Teilvollstreckung der rechtskräftigen Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 16.07.2019 steht insoweit entgegen, dass es sich bei den ihr zugrundeliegenden Einzelstrafen jeweils um aussetzungsfähige Einzelfreiheitsstrafen handelt und die Möglichkeit besteht, dass im Zuge der Entscheidung über das Rechtsmittel des Beschwerdeführers gegen die Nachverurteilung vom 11.11.2021 unter Einbeziehung dieser Einzelstrafen erneut eine zur Bewährung ausgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe gebildet wird. Denn es ist zum einen nichts dafür ersichtlich, dass der Beschwerdeführer in dem Rechtsmittelverfahren von den im Urteil vom 11.11.2021 gegen ihn erhobenen neuen Tatvorwürfen freigesprochen wird und somit die Bildung einer neuen, zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe ausgeschlossen wäre. Zum anderen ist angesichts des lediglich vom Beschwerdeführer eingelegten Rechtsmittels und des daraus folgenden Verschlechterungsverbots selbst bei einer Bestätigung des erstinstanzlichen Schuldspruchs bzgl. der neuen Tatvorwürfe die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als 1 Jahr und 10 Monaten sowie die Ablehnung der Bewilligung einer Strafaussetzung zur Bewährung ausgeschlossen.

Überdies würde die Teilvollstreckung der Gesamtstrafe aus dem Urteil vom 16.07.2019 den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzen. Denn die mit der Wiederaufnahme der Teilvollstreckung verbundene erneute Inhaftierung in Strafhaft könnte er nur durch die Rücknahme seines Rechtsmittels gegen die Nachverurteilung vom 11.11.2021 abwenden. Er wäre mithin gezwungen, auf sein verfassungsmäßiges Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG auf Gewährung von effektivem Rechtsschutz zur gerichtlichen Überprüfung der Nachverurteilung zu verzichten. Den hiermit verbundenen unmittelbaren Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG sieht der Senat, anknüpfend an die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts in der auf Antrag des Beschwerdeführers erlassenen einstweiligen Anordnung vom 10.12.2021, als unverhältnismäßig und daher grundrechtswidrig an. Konkrete Umstände, welche ein tatsächliches und unabweisbares Bedürfnis für die Wiederaufnahme der Teilvollstreckung und ihre Verhältnismäßigkeit begründen könnten, sind insoweit nicht ersichtlich….“

AE I: Was darf der Verteidiger dem Mandanten aus der Akte mitteilen?, oder: Alles, daher Abfuhr vom OLG

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Und dann geht es auf in die 4. KW, und zwar heute mit Beiträgen zur Akteneinsicht. Montags habe ich zwar an sich in der letzten Zeit meist „Corona-Entscheidungen“ vorgestellt, derzeit habe ich aber nur eine in meinem Ordner und die ist nicht so wichtig, dass ich sie nun heute unbedingt vorstellen müsste. Sie behandelt materielle Fragen und ich kann sie daher auch gut in anderem Zusammenhang vorstellen.

Ich mache heute also Akteneinsicht. Das hat vor allem aber auch folgenden Grund. Mir hat nämlich der Kollege Siebers vor einigen Tagen den OLG Jena, Beschl. v. 18.01.2022 – 1 Ws 487/21 – übersandt. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren betreffend den Ausschluss einer Verteidigerin aus einem Verfahren mit dem Vorwurf eines Verstoßes gegen das BtMG (§§ 138a ff. StGB), und zwar nach § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO wegen des Vorwurfs der (versuchten) Strafvereitelung. Und den Beschluss möchte ich nun doch alsbald den sicherlich „staunenden“ Lesern vorstellen.

Der der Beschluss zugrunde liegende Sachverhalt/“Vorwurf“ ist ganz einfach: Die betroffene Kollegin verteidigt in einem BtM-Verfahren. In dem fand am 02.06.2021 in der Wohnung des Beschuldigten eine Wohnungsdurchsuchung statt, in deren Zuge u.a. BtM aufgefunden wurde. Mit Verfügung der StA Erfurt vom 07.06.2021 wurde gegen den Beschuldigten beim AG Erfurt der Erlass eines auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls beantragt und zugleich angeordnet, dass eine Duploakte erstellt, der Kollegin auf deren Akteneinsichtsgesuch vom 03.06.2021 Akteneinsicht gewährt und hierzu die erstellte Duploakte der Verteidigerin sowie die Originalakte dem AG Erfurt mit dem Antrag, Haftbefehl gemäß einem beiliegendem Haftbefehlsentwurf zu erlassen, übersandt werden sollen. Der Haftbefehl wurde am 07.06.2021 erlassen. Der Kollegin wurden per Post die Duploakten – in denen sich auch der Haftbefehlsentwurf der Staatsanwaltschaft befand – übersandt, die sie am 10.062021 erhielt. Bei einer am 05.10.2021 im Rahmen der Vollstreckung des Haftbefehls in der Wohnung des dort nicht aufhältigen Beschuldigten erfolgten Durchsuchung wurde auf dem Tisch im Wohnzimmer eine – zwei jeweils in der rechten oberen Ecke handschriftlich mit den Seitenzahlen 118 und 119 versehene Seiten umfassende – Kopie des Entwurfes des Haftbefehls des AG Erfurt vom 07.06.2021, vom Richter nicht unterzeichnet, festgestellt.

Die Staatsanwaltschaft Erfurt leitete daraufhin ein Verfahren wegen versuchter Strafvereitelung (§ 258 StGB) gegen die Kollegin ein. Der Beschuldigte befindet sich inzwischen in Untersuchungshaft.

Mit Verfügung vom 09.12.2021 beantragte die Staatsanwaltschaft Erfurt beim AG Erfurt, gemäß § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO die Kollegin als (Pflicht)Verteidigerin von der Mitwirkung im Verfahren auszuschließen. Das AG hat das dann mit Vorlagebeschluss vom 15.12.2021 beantragt und die Akten dem OLG Jena vorgelegt. Die GStA beim OLG Jena ist dem Antrag beigetreten.

Die GStA beim OLG Jena, die StA Erfurt und das AG Erfurt haben sich dann aber beim OLG Jena mit dem OLG Jena, Beschl. v. 18.01.2021 – 1 Ws 487/21 – eine Abfuhr abgeholt, die sich m.E. „gewaschen“ hat:

„Die Vorlage ist bereits unzulässig; weil sie den Ausschließungsgrund schon nicht schlüssig darlegt.

1. Der Inhalt des Ausschließungsantrages nach § 138a StPO muss substantiiert und detailliert alle Tatsachen, aus denen sich im Falle ihres Nachweises das den Ausschluss rechtfertigende Verhalten des Verteidigers ergeben soll, mitteilen und die jeweiligen Beweismittel für die vorgetragenen Tatsachen angeben (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 138c Rdnr. 9 m.w.N.). Dies folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO (vgl. Senatsbeschluss vom 15.01.2009, Az, 1 Ws 21/09)

2. Das in dem Antrag der Staatsanwaltschaft Erfurt sowie dem daraufhin ergangenen Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Erfurt – beide gemeinsam bilden die Vorlage und damit die Grundlage für die Senatsentscheidung (Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 138c Rdnr. 7; Frye, NStZ 2005, 50) – dargelegte Handeln der Verteidigerin, das den objektiven und subjektiven Tatbestand der versuchten‘ Strafvereitelung erfüllen soll, legt einen Tatverdacht in dem nach, § 138a Abs. 1 StPO erforderlichen Maße bereits nicht schlüssig dar.

a) Voraussetzung für die Annahme des – hier allein in Rede stehenden – Ausschließungsgrundes der versuchten Strafvereitelung nach § 138a Abs. 1 ‚Nr. 3 StPO in Verbindung mit 258 Abs. 1 und 4, 22, 23 StGB – auch eine (nur) versuchte Strafvereitelung würde für die Ausschließung genügen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 138a Rdnr. 11 m.w.N.)- ist ein Vorgehen der Verteidigerin, mit welchem sie sich der Begehung einer Tat, die für den Fall der Verurteilung des Beschuldigten versuchte Strafvereitelung wäre, dringend oder aber hinreichend in einem die Eröffnung des. Hauptverfahrens rechtfertigenden Grade verdächtig gemacht hat (vgl. Mey-er-Goßner/Schmitt, a.a.O., §.138a Rdnr. 12), Versuchte Strafvereitelung liegt vor, wenn jemand nach seiner Vorstellung von der Tat unmittelbar dazu ansetzt, absichtlich oder wissentlich ganz oder zum Teil zu vereiteln, dass ein anderer wegen einer rechtswidrigen Tat bestraft wird.

b) Ein entsprechender Tatverdacht in dem nach § 138a Abs. 1 StPO erforderlichen Maße ergibt sich aus dem Antrag der Staatsanwaltschaft sowie dem nachfolgend ergangenen Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Erfurt jedoch nicht.

Die Stellung als Verteidiger in einem Strafprozess und das damit verbundene Spannungsverhältnis zwischen Organstellung und Beistandsfunktion erfordert eine besondere Abgrenzung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten. Denn der Beschuldigte hat nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) MRK Anspruch auf konkrete und wirkliche Verteidigung, der ernsthaft gefährdet wäre, wenn der Verteidiger wegen einer Prozessual zulässigen Verteidigungstätigkeit selbst strafrechtlich verfolgt würde.

Prozessual zulässige Handlungen des Verteidigers können bereits nicht tatbestandsmäßig sein (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., § 28 Rdnr. 17 m.w.N.). Eine sachgerechte Strafverteidigung setzt dabei voraus, dass der Beschuldigte weiß, worauf sich der gegen ihn erhobene Vorwurf stützt. Der Verteidiger ist deshalb in der Regel auch berechtigt und sogar verpflichtet, dem Beschuldigten zu Verteidigungszwecken mitzuteilen, was er, aus den Akten erfahren hat (vgl. L-R/Jahn, StPO, 27. Aufl., § 147 Rdnr. 141 m.w.N.). Im gleichen Umfang, wie er ihm den Akteninhalt mitteilen darf, ist er prozessual auch berechtigt, den Beschuldigten über das Verfahren zu unterrichten und ihm sogar Aktenauszüge und Abschriften aus den Akten, auszuhändigen (vgl. L-R/Jahn, a.a.O., m.w.N.). Ausnahmen kommen von diesem Grundsatz grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Information des Mandanten zu verfahrensfremden Zwecken erfolgt oder der Untersuchungszweck gefährdet würde oder dies zu befürchten ist (vgl. BGHSt 29, 99, 103).

Dies ist aber stets von den. Umständen des Einzelfalles abhängig (so ausdrücklich BGH, a.a.O.), womit sich jegliche generalisierende Betrachtung von vornherein verbietet.

Deshalb wird in der Rechtsprechung zu Recht differenziert; ob der Verteidiger die weiter übermittelte Kenntnis des Bestehens eines von den Ermittlungsbehörden geheim gehaltenen Haftbefehls bzw. Haftbefehlsentwurfs in zulässiger, zufälliger oder unzulässiger Weise erlangt hat (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 17.02.1987, Az. (33) 28/96 Ns, 51 Js 85/84, bei juris).

c) Anhaltspunkte dafür, dass Rechtsanwältin pp. in objektiv unlauterer Art Lind Weise, bspw. durch Täuschung, sich bei den Strafverfolgungsbehörden Kenntnis von dem Haftbefehlsentwurf verschafft hat, ergeben sich aus der Vorlage aber gerade nicht. Denn die teilt ausdrücklich mit, dass die Duploakten per Post an Rechtsanwältin pp. versandt worden. sind, „versehentlich“ mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft Erfurt auf Erlass eines Haftbefehls, weshalb Rechtsanwältin pp. in zulässiger Weise Kenntnis von dem Haftbefehlsentwurf erhalten halt.

Die Auffassung, dass es einem Verteidiger schlechthin verboten ist, seinen Mandanten über drohende Zwangsmaßnahmen zu informieren und ihm etwa auch darauf gerichtete, aus den Akten ersichtliche. Schritte mitzuteilen, findet im Gesetz aber keinen Anhalt. Der Verteidiger ist auch als Organ der Rechtspflege in der Regel nicht gehalten, im Ablauf derartiger Maßnahmen der Staatsanwaltschaft oder dem: Gericht einschließlich seiner Geschäftsstelle unterlaufende Fehler (etwa hinsichtlich eines in den Akten befindlichen Haftbefehls) durch Geheimhaltung ihm durch Akteneinsicht .bekanntgewordener Vorgänge gegenüber seinem Mandanten auszugleichen (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., bei juris .= BRAK-Mitt. 3/1987; S. 163 mit zust. Anm. Dahs; vgl. L-R/Jahn. a.a.O., § 147 Rdnr. 143 m.w.N.). Denn dies liefe darauf hinaus, dass der Verteidiger die Beurteilung. der Verfolgungsbehörde zu korrigieren hätte, die ja gegebenenfalls nach § 147 Abs. 2 Satz 1 StPO die Akteneinsicht grundsätzlich hätte verweigern dürfen. Das Gegenargument, die Akteneinsicht werde dem. Verteidiger im Vertrauen auf eine gewisse Solidarität mit der Strafverfolgungsbehörde gewährt, ist schon mit Blick auf die Entstehungsgeschichte nicht haltbar. Die Klausel des § 147 Abs. 2 StPO ist nämlich überhaupt nur deswegen in das Gesetz aufgenommen worden, weil als selbstverständlich untersteht worden ist, dass der Verteidiger seinen Mandanten über den Akteninhalt informieren werde (vgl. L-R/Jahn, a.a.O., § 147.Rdnr. 144 m.w.N.).

d) Selbst wenn – wie aber nach dem Vorgenannten nicht – anzunehmen wäre, dass die (auf das Vorhandensein eines etwaigen Haftbefehlsentwurfs ungeprüfte) Weiterleitung der zur Akteneinsicht übersandten Duploakte mit dem dort enthaltenen Haftbefehlsentwurf der Staatsanwaltschaft an den Beschuldigten die Grenze prozessualer Zulässigkeit – in deren Rahmen schon der objektive Tatbestand des § 258 StGB nicht erfüllt ist – überschritten hätte, wären nach dem im Vorlageantrag und -beschluss mitgeteilten Sachverhalt Feststellungen zur subjektiven Seite des Tatbestands des § 258 Abs. 1 und 4 StGB im Sinne einer Vereitelungsabsicht – an die bei einem Verteidigerhandeln erhöhte Beweisanforderungen zu stellen sind (vgl. BGHSt 46, 53) – nicht zu treffen. Soweit der. Vorlagebeschluss in Bezug auf die Erfüllung des subjektiven Tatbestands der versuchten Strafvereitelung hierzu ausführt, die Verteidigerin habe mit Absicht gehandelt, sie habe durch die – den Untersuchungszweck gefährdende – Weiterleitung .des in der seit 10.06.2021 in ihrem Besitz befindlichen Akte enthaltenen Entwurfs des Haftbefehls, von dessen Erlass sie habe ausgehen können, eine Besserstellung des Beschuldigten (sich der Festnahme für geraume Zeit zu entziehen) erstrebt, sind über die hier lediglich erfolgte Weiterleitung der den Haftbefehlsentwurf enthaltenden Verfahrensakte hinausgehende Tatsachen, aus denen sich eine solche Zielrichtung der Verteidigerin herleiten ließe, aus dem Vorlagebeschluss in Verbindung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft nicht ersichtlich. Abgesehen davon, dass schon nicht festzustellen ist, dass die Verteidigerin bei Weiterleitung Kenntnis von dem in der Duploakte; BI. 118 f., befindlichen Haftbefehlsentwurf gehabt hatte und sie auch nicht gehalten war, die ihr zur Akteneinsicht überlassene Duploakte vor Weiterleitung an den Beschuldigten auf darin ggfls. vorhandene Entscheidungsentwürfe einzusehen bzw. zu kontrollieren, bestehen Anhaltspunkte für eine Vereitelungsabsicht nicht. Denn soweit im Vorlagebeschluss darauf abgestellt wird, für eine solche spreche bereits der Umstand, dass – wie es der Fall war – allein die Kopie des aus zwei Seiten bestehenden Haftbefehlsentwurfs (und nicht auch weitere Aktenbestandteile/Kopien) arn.05.10.2021 in der Wohnung des Beschuldigten aufgefunden wurde, ist die hieraus gezogene Schlussfolgerung, die Verteidigerin habe allein die Kopie des Haftbefehlsentwurfs dem Beschuldigten übergeben/übersandt, keinesfalls zwingend und letztlich auch nicht ausreichend tatsachenbasiert. Denn das Vorbringen lässt die nicht fernliegende Möglichkeit gänzlich unberücksichtigt, dass dem Beschuldigten die komplette Verfahrensakte von Rechtsanwältin pp. elektronisch zur Verfügung gestellt worden ist und er sich selbst den Haftbefehlsantrag ausgedruckt hat.

Wie durch ihren Verteidiger mitgeteilt, erfolgte die Zurverfügungstellung der gesamten Verfahrensakten an den Beschuldigten durch Rechtsanwältin pp. (wie auch- sonst üblich) mittels „Webakte“, dergestalt, dass die Akte in der Kanzlei gescannt und über die Anwaltssoftware dem Beschuldigten an die für diesen hinterlegte Emailadresse gesandt worden ist, mit der sich daraus für diesen ergebenden Möglichkeit, Einsicht in die Akte zu nehmen, sie herunterzuladen und ggfls. auch (einzelne Seiten) auszudrucken.

Vor diesem Hintergrund hätte zur Schlüssigkeit des Ausschlussbegehrens eine nähere Darlegung der Umstände gehört, die der Verteidigerin vorwerfen ließen, außerhalb in ihrer Amtsführung liegender rechtmäßiger Erwägungen mit der Mitteilung des Haftbefehlsantrags an den Beschuldigten auf dessen Flucht im Sinne von § 258 StGB hingewirkt oder ihm dazu verholfen zu haben.“

Das OLG Jena reibt es der GStA, der StA und dem AG dann noch einmal – recht subtil, wie OLGs das können 🙂 , damit es auch jeder merkt,- unter die Nase:

„3. Der Senat hat entgegen dem im Übrigen obligatorischen § 138d Abs. 1 StPO ohne mündliche Verhandlung entschieden, was möglich ist, wenn – wie hier- die Vorlage mangels Schlüssigkeit bereits unzulässig ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 138d Rdnr. 1. m.w.N.).“

Also unzulässig. Deutlicher kann m.E. die Abfuhr kaum noch nicht ausfallen.

Man fragt sich dann, was GStA, StA und AG „geritten“ haben, die entschiedene Frage zum OLG zu tragen. Das ist ein nicht nur alter, sondern ein uralter Hut: Der Verteidiger darf Informationen aus der Akte an den Mandanten weitergeben. In den Fällen, in denen die Informationen „unredlich“ erlangt sind, mag etwas anderes gelten, aber das war hier nicht der Fall. Sondern: Es war die Dusseligkeit der StA, dass der Haftbefehlsentwurf der StA in der Akte geblieben ist, als man die der Kollegin übersandt hat. Anstatt sich dann verschämt in die Ecke zu stellen und lieber das Mäntelchen des Schweigens über den „Faux pas“ zu decken, hat man sich offenbar gedacht: Angriff ist der beste Weg der Verteidigung, machen wir doch aus dem ganzen ein „Verteidigerausschlussverfahren“.

Aber eben nicht mit dem OLG Jena, das sehr schön, die – seit langem vorliegende Rechtsprechung und Literatur zu der Frage zitiert und der GStA, der StA und dem AG „unter die Nase reibt“. Man fragt sich wirklich, ob man bei GStA, der StA und dem AG nichts anderes zu tun, als solche Anträge zu schreiben.

Also ganz klar: Daumen nach unten.

Allerdings geht dann doch ein herzliches Dankeschön an GStA, StA und AG. Denn sie haben durch ihre „unzulässige“ Vorlage dafür gesorgt, dass es mal wieder einen aktuellen Beschluss zu dieser Frage gibt. Nötig war der allerdings wegen der bisher schon einhelligen Meinung in Rechtsprechung und Literatur zu der Fallgestaltung nicht.