Im „Kessel Buntes“ heute dann mal wieder zwei verwaltungsrechtliche Entscheidungen zur Entziehung der Fahrerlaubnis.
„Ohne Erfolg bleibt der sinngemäß erhobene Einwand, die vorgenannten Vorschriften über die Fahrungeeignetheit seien nicht anwendbar, weil beim Antragsteller eine Dauerbehandlung mit dem Arzneimittel Medizinal-Cannabis (Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV) vorliege. So ist nach Aktenlage die Annahme gerechtfertigt, dass der Antragsteller neben dem ärztlichen verordneten (legalen) Cannabis über einen längeren Zeitraum regelmäßig zusätzlich (illegales) Cannabis aus eigenem Anbau konsumiert hat.
Am 12. Dezember 2019 entdeckten die Beamten der Kreispolizeibehörde Heinsberg bei der Vollstreckung eines Durchsuchungsbeschlusses eine kleinere Cannabisplantage unter der Anschrift des Antragstellers. Im Rahmen einer Beschuldigtenvernehmung wegen des Vorwurfs des illegalen Anbaus von Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG) gab der Antragsteller an: Die Pflanzen seien seine Medizin. Er habe Atteste, in denen ihm Cannabis als Schmerzmittel verschrieben werde. Er leide an einem abgebrochenen Wirbelkörper im Nackenbereich und an porösen Knochen sowie an Bandscheibenvorfällen. Ohne den Konsum von Cannabis würde er seit fünf Jahren im Rollstuhl sitzen. Er bekomme „Cannabis Flos Bedrocan 4,8 Gramm“ verschrieben, wie ärztliche Atteste vom 25. November 2019 und vom 7. Oktober 2019 zeigten. Dies sei aber zu wenig. Er brauche etwa „50 Gramm im Monat“. Der Anbau von Cannabispflanzen erfolge zum Eigenbedarf als Medikament.
Zu Recht hat der Antragsgegner diesen von der Polizei mitgeteilten Sachverhalt als fahreignungsausschließenden Cannabiskonsum nach Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV gewertet. Eine Dauerbehandlung mit Arzneimitteln (Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV) liegt nicht vor. Der Antragsteller hat nach eigenem Bekunden über einen längeren Zeitraum hinweg nicht ausschließlich Medizinal-Cannabis nach ärztlicher Anweisung, sondern darüber hinaus illegales Cannabis konsumiert. Wer aber außerhalb einer medizinisch-indizierten Medikation Cannabis konsumiert, entspricht typischerweise dem Regelfall, für den der Verordnungsgeber nach Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV eine bindende Bewertung über die (fehlende) Fahreignung getroffen hat, vgl. dazu Satz 1 der Vorbemerkung Nr. 3 der Anlage 4 zur FeV. Eine Abweichung ist in diesem Fall nicht gerechtfertigt, vgl. dazu Satz 2 der Vorbemerkung Nr. 3 der Anlage 4 zur FeV.
Vgl. Verwaltungsgericht Aachen, Beschluss vom 14. Dezember 2018 – 3 L 1028/18 -, juris Rn. 24 und Beschluss vom 19. Oktober 2017 – 3 L 1246/17 -, juris Rn. 37.
Eine für die Fahreignung des Antragstellers günstigere Beurteilung ergibt sich nicht aus den Eingaben, die er nach der Entdeckung seiner Cannabisplantage am 12. Dezember 2019 gemacht hat.
Der „Widerruf“ mit Schreiben vom 25. Dezember 2019 an die Kreispolizeibehörde Heinsberg, wonach er „sämtliche Aussagen und Unterschriften, die am 12. 12. 19 [Tag der Beschuldigtenvernehmung] unter Druck“ gemacht worden seien, widerrufe, geht jedenfalls im fahrerlaubnisrechtlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht ins Leere.
Zunächst fehlt schon jedweder Anhalt, dass der vernehmende Polizeibeamte, KHK L. , bei der Beschuldigtenvernehmung am Vorfallstag einen unzulässigen Druck auf den Antragsteller ausgeübt haben könnte. Insbesondere ist der Antragsteller ausweislich des Protokolls über die Beschuldigtenvernehmung vom 12. Dezember 2019 um 12:26 Uhr ordnungsgemäß über seine Rechte als Beschuldigter belehrt worden. Seine pauschale Distanzierung von den Angaben in der Beschuldigtenvernehmung durch das „Widerrufsschreiben“ vom 25. Dezember 2019 vermittelt den Eindruck, dass er es bereue, gegenüber dem Polizeibeamten den Sachverhalt offenbart zu haben.
Ferner kann aus dem vom Antragsteller erklärten „Widerruf“ nicht etwa ein Beweisverwertungsverbot abgeleitet werden mit der Folge, dass die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung vom 12. Dezember 2019 als mittelbares Beweismittel unberücksichtigt bleiben müsste.
Die strengen strafprozessualen Regeln über die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (vgl. u.a. §§ 250 Satz 2, 254 der Strafprozessordnung – StPO -) sind auf den Prozess vor den Verwaltungsgerichten nicht übertragbar. Insbesondere lässt der für den Verwaltungsprozess in § 96 Abs. 1 VwGO normierte Grundsatz der (lediglich formellen) Unmittelbarkeit der Beweiserhebung es regelmäßig zu, dass das Verwaltungsgericht – wie hier – seine Beweiswürdigung auf den Inhalt der beigezogenen Akten und damit auf ein mittelbares Beweismittel stützt.
Vgl. zum Unterschied zwischen formeller und materieller Unmittelbarkeit ausführlich: OVG NRW, Urteil vom 23. Juli 2009 – 1 A 2084/07 -, juris Rn. 54 ff. (58); für die mit § 96 Abs. 1 Satz 1 VwGO identische Regelung des § 81 Abs. 1 Satz 1 FGO: Rüsken, Beweis durch beigezogene Akten, BB 1994, 761 ff. (765 f.); Böhm, Die Verwertung mittelbarer Beweismittel im Verwaltungsgerichtsprozess, NVwZ 1996, 427 ff. (431).
Eine analoge Anwendung des § 250 StPO im fahrerlaubnisrechtlichen Verwaltungsprozess kommt nicht in Betracht. Diese zentrale Norm der Strafprozessordnung verbietet für den Fall, dass der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person beruht, die Vernehmung dieser Person in der Hauptverhandlung durch die Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung zu ersetzen. Eine analoge Anwendung dieser Vorschrift im Verwaltungsprozess verbietet sich schon deshalb, weil der Gesetzgeber ein solches striktes Verbot erkennbar bereichsspezifisch allein für den Strafprozess aufgestellt, aber im Rahmen der (vielfach geänderten) Verwaltungsgerichtsordnung bis heute darauf verzichtet hat, eine vergleichbare Regelung oder eine Verweisung auf Regelungen der Strafprozessordnung zu schaffen. Der letztgenannte Umstand fällt deshalb besonders ins Gewicht, weil die Verwaltungsgerichtsordnung, wie insbesondere § 173 Satz 1 VwGO zeigt, durchaus die Regelungstechnik der Verweisung auf eine andere Prozessordnung – die Zivilprozessordnung – kennt, welcher im Übrigen eine Regelung wie die des § 250 StPO ebenfalls fremd ist.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23. Juli 2009 – 1 A 2084/07 -, juris Rn. 64.
Das Schreiben des Antragstellers vom 26. Dezember 2019 an das Landgericht Mönchengladbach rechtfertigt ebenso wenig eine günstigere Beurteilung der Fahreignung. Darin erhebt der Antragsteller Einwände gegen die polizeiliche Durchsuchung vom 12. Dezember 2019 und macht geltend, er sei „nach ärztlicher Anweisung auf 1,5 Gramm Bedrocan Flos 26 %“ eingestellt, und zwar „täglich“. Eine entsprechende ärztliche Verschreibung bzw. Anweisung ist dieser Eingabe nicht beigelegt. Unabhängig davon würde die ärztliche Verschreibung im angegebenen Umfang nichts daran ändern, dass Überwiegendes dafür spricht, dass der Antragsteller jedenfalls in der Vergangenheit Cannabis aus illegalem Anbau konsumiert hat und sich daher nicht darauf berufen kann, er habe Medizinal-Cannabis eingenommen.
Ohne Erfolg weist der Antragsteller mit Schreiben vom 29. Mai 2020 darauf hin, dass ihm ausweislich einer – in Kopie beigefügten – ärztlichen Verschreibung vom 20. Dezember 2019 Cannabis Flos Bedrocan verschrieben worden sei, und zwar monatlich 45 Gramm bzw. täglich 1,5 Gramm. Dazu ergänzt er: In der Vergangenheit sei die Quantität und Qualität von ihm genau nach ärztlicher Anweisung erfolgt und sei „bis zu dem Raub am 12.12.19“ [Vorfall] mittels Feinwaage exakt eingehalten, danach aufgrund seiner Erfahrung geschätzt worden.
Hier genügt der erneute Hinweis des Gerichts, dass im Sinne des Fahrerlaubnisrechts ein Cannabiskonsum und nicht etwa eine Arzneimitteleinnahme vorliegt, wenn das ärztlich verordnete Cannabis – auch nur teilweise – durch illegalen Eigenanbau beschafft wird.
Zwar enthält illegal angebautes Cannabis denselben Wirkstoff, den das Medizinal-Cannabis aus der Apotheke besitzt. Es unterfällt aber nicht der gesetzlichen Privilegierung betäubungsmittelhaltiger Arzneimittel. Anders als bei der Einnahme des aus der Apotheke bezogenen Medizinal-Cannabis ist bei der Einnahme von illegal angebautem Cannabis keine exakte Kontrolle über die Menge des Konsums und deren Wirkstoffgehalt möglich. Eine gleichbleibende Dosierung kann nicht entsprechend sichergestellt werden. Damit können auch die Auswirkungen des Konsums auf die Fahreignung nicht zuverlässig überprüft werden.
Vgl. dazu: Verwaltungsgericht Karlsruhe, Urteil vom 30. Juni 2016 – 3 K 3375/15 -, juris Rn. 31.
Des Weiteren steht die Vorschrift des § 3 Abs. 3 Satz 1 StVG der Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung nicht entgegen.
Danach darf die Fahrerlaubnisbehörde, solange gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis ein Strafverfahren anhängig ist, in dem die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 des Strafgesetzbuchs (StGB) in Betracht kommt, den Sachverhalt, der Gegenstand des Strafverfahrens ist, in einem Entziehungsverfahren nicht berücksichtigen. Sinn des in § 3 Abs. 3 Satz 1 StVG angeordneten Vorrangs der Entscheidung der Strafgerichte vor derjenigen der Fahrerlaubnisbehörde ist es, überflüssige und aufwändige Doppelprüfungen zu vermeiden und die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen hinsichtlich der Frage der Fahreignung auszuschließen. Der Fahrerlaubnisbehörde fehlt daher in den in Absatz 3 geregelten Fällen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens die Entscheidungsbefugnis. Ob eine Entziehung der Fahrerlaubnis im Sinne der Vorschrift „in Betracht kommt“, beurteilt sich danach, ob das Strafverfahren eine Straftat zum Gegenstand hat, die von ihrer Art her eine Entziehung der Fahrerlaubnis zu rechtfertigen vermag, ob es mit anderen Worten in dem Strafverfahren um eine Straftat geht, wie sie § 69 StGB für eine Entziehung der Fahrerlaubnis voraussetzt.
Im vorliegenden Fall kommt für den hier Gegenstand des Strafverfahrens bildenden Sachverhalt eine Entziehung der Fahrerlaubnis nicht in Betracht. Das Strafverfahren gegen den Antragsteller wegen eines Verstoßes gegen § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG, (illegaler Anbau von Betäubungsmitteln) eingeleitet.
Im Hinblick auf den Verstoß gegen § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG ist die gerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB als ausgeschlossen anzusehen. Es handelt sich hierbei zunächst nicht um ein Vergehen, das gemäß § 69 Abs. 2 StGB bereits im Regelfall ohne weitere Gesamtprüfung die Ungeeignetheit des Fahrerlaubnisinhabers zum Führen von Kraftfahrzeugen indiziert und damit die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtfertigt.
Eine Entziehung der Fahrerlaubnis nach Maßgabe von § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB dürfte ebenfalls ausscheiden. Die Vorschrift setzt für die Anordnung dieser Maßregel der Besserung und Sicherung (vgl. § 61 Nr. 5 StGB) eine rechtwidrige Tat voraus, die bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen worden ist. Da § 69 StGB den Schutz der Sicherheit des Straßenverkehrs bezweckt, erfordert die strafgerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis wegen charakterlicher Ungeeignetheit bei Taten im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs, dass die Anlasstat tragfähige Rückschlüsse darauf zulässt, der Täter werde bereit sein, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen. Maßstab ist die Gefährlichkeit des Täters für den öffentlichen Straßenverkehr. Die Ungeeignetheit des Täters kann sich bei Begehung verkehrsunspezifischer Anlasstaten nur dann aus der Tat ergeben, wenn konkrete Umstände der Tatausführung im Zusammenhang mit einer Gesamtwürdigung von Tat und Täterpersönlichkeit Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Täter bereit ist, zur Erreichung seiner eigenen Ziele die Sicherheit des Verkehrs zu beeinträchtigen.
Vgl. Bundesgerichtshof (BGH), Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 27. April 2005 – GSSt 2/04 -, NJW 2005, 1957.
Dafür bestehen hier keinerlei Anhaltspunkte. Vor diesem Hintergrund ist nach Aktenlage nicht davon auszugehen, dass im gegen den Antragsteller noch anhängigen Strafverfahren eine Entziehung der Fahrerlaubnis zu erwarten ist.
Die weitere Interessenabwägung fällt ebenfalls zu Ungunsten des Antragstellers aus……“