Die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.10.2022 – 2 RBs 155/22 – ist in mehrfacher Hinsicht interessant.
Das AG hat den Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 71 km/h zu einer Geldbuße von 1.920 EUR (!) verurteilt und ein dreimonatiges Fahrverbot verhängt. Die Hauptverhandlung war nach § 74 Abs. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt worden. Auch der Verteidiger hatte nicht an der Hauptverhandlung teilgenommen. Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen hatte mit der Verfahrensrüge Erfolg:
„1. Die Rüge des Betroffenen, er sei nicht rechtzeitig darauf hingewiesen worden, dass abweichend von dem Bußgeldbescheid auch eine vorsätzliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in Betracht komme, greift durch.
Wenn – wie hier – im Bußgeldbescheid keine Schuldform bezeichnet worden ist, so ist davon auszugehen, dass dem Betroffenen Fahrlässigkeit zur Last gelegt wird (vgl. OLG Jena NStZ-RR 1997, 116). Soll der Betroffene wegen Vorsatzes verurteilt werden, ist daher nach § 71 Abs. 1 OWiG, § 265 Abs. 1 StPO ein Hinweis auf die Änderung der Schuldform erforderlich. Dies gilt auch im Abwesenheitsverfahren, wobei dem Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme binnen angemessenen Frist einzuräumen ist (vgl. OLG Bamberg DAR 2017, 383; KK-OWiG/Senge, 5. Aufl. 2018, § 74 Rdn. 16).
Vor dem Hauptverhandlungstermin vom 14. März 2022 (Montag) ist der Hinweis an den Verteidiger (§ 74 Abs. 1 Satz 3 OWiG) erst mit Telefax vom 10. März 2022, 14.42 Uhr, erfolgt. Es drängt sich auf, dass die bis zum Hauptverhandlungstermin verbleibende Zeit, in die ein Wochenende fiel, für eine etwaige Stellungnahme des Verteidigers schon für sich betrachtet unangemessen kurz war, zumal auch der Zeitbedarf für eine etwaige Rücksprache mit dem Betroffenen zu berücksichtigen war.
Jedenfalls ist der Hinweis nicht rechtzeitig angebracht worden, da das Telefax vom 10. März 2022 irrtümlich nicht an die Kanzlei des Verteidigers in P., sondern an die Zweigstelle in B. übermittelt wurde. Geht ein Schriftsatz bei einem unzuständigen Gericht ein, darf der Absender nicht erwarten, dass bei der Weiterleitung an das zuständige Gericht Eilmaßnahmen getroffen werden. Es ist lediglich die Weiterleitung im normalen Geschäftsgang erforderlich (vgl. Senat NStZ-RR 2002, 216; OLG Hamm NStZ-RR 2008, 283). Umgekehrt kann das Gericht keine Eilmaßnahmen erwarten, wenn es bei einem Telefax irrtümlich nicht die dem Kanzleisitz des Verteidigers zugeordnete Faxnummer verwendet. Vorliegend kann nicht zu Lasten des Betroffenen gehen, dass dem in P. ansässigen Verteidiger das an die Zweigstelle in B. übermittelte Telefax vom 10. März 2022 mit dem gerichtlichen Hinweis erst nach dem Hauptverhandlungstermin vom 14. März 2022 zur Kenntnis gelangt ist.
Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Betroffene, hätte der Verteidiger den nach § 71 Abs. 1 OWiG, § 265 Abs. 1 StPO zur Schuldform (Vorsatz statt Fahrlässigkeit) erforderlichen Hinweis rechtzeitig erhalten, seine Verteidigung in anderer Weise ausgeführt oder den Einspruch zurückgenommen hätte.
Das angefochtene Urteil unterliegt mithin der Aufhebung. Ob das (auch) auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs abstellende Beschwerdevorbringen, das nur unbestimmte Angaben zu der Reaktion, die im Falle rechtzeitiger Hinweiserteilung erfolgt wäre, enthält, den Anforderungen an eine Gehörsrüge genügt, kann dahinstehen, da die Rechtsbeschwerde vorliegend keiner Zulassung bedarf.“
So weit, so gut. Interessant dann aber auch die anderen Ausführungen des OLG. Wegen der Ausführungen zur Verwertbarkeit der mit dem Laserscanner PoliScan M1 HP ermittelten Messergebnisses verweise ich auf den verlinkten Volltext; die Ausführungen entsprechen der OLG-Rechtsprechung.
Aber: Das OLG nimmt auch Stellung zur einem Aussetzungsantrag des Betroffenen, den der im Hinblick auf das beim BVerfG anhängige Verfahren 2 BvR 1167/20 gestellt hatte. Den hat das AG abgelehnt, was das OLG nicht beanstandet.
3. Ferner hat das Amtsgericht den Antrag des Betroffenen, das vorliegende Verfahren bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren 2 BvR 1167/20 auszusetzen, rechtsfehlerfrei abgelehnt.
In diesem Verfahren geht es um eine Verfassungsbeschwerde betreffend die Frage, ob und ggf. welche verfassungsrechtlichen Konsequenzen aus einer fehlenden Speicherung von Messdaten bei Geschwindigkeitsmessungen im Bußgeldverfahren folgen (vgl. Übersicht für das Jahr 2022, Zweiter Senat, lfd. Nr. 48, abrufbar bei www.bundesverfassungsgericht.de). In diesem Fall wurde die Geschwindigkeitsmessung mit dem Infrarot-Lasermessgerät Leivtec XV3 durchgeführt (vgl. Beitrag „Bundesverfassungsgericht: Müssen Blitzer Rohmessdaten speichern?“ bei www.zimmer-gratz.de). Anzumerken ist, dass Geschwindigkeitsmessungen mit diesem Gerätetyp wegen unzulässiger Messwertabweichungen inzwischen nicht mehr als standardisiertes Messverfahren anerkannt werden (vgl. OLG Oldenburg BeckRS 2021, 7922; BeckRS 2021, 19614 = NdsRpfl 2021, 321; OLG Celle BeckRs 2021, 15516 = DAR 2021, 524; BeckRS 2021, 35584 = ZfSch 2021, 650: OLG Hamm BeckRS 2021, 28656; BeckRS 2021, 37766; OLG Dresden BeckRS 2021, 36733; OLG Koblenz BeckRS 2021, 42233).
Vorliegend wurde der Laserscanner PoliScan M1 HP eingesetzt. Wegen der gleichgelagerten Fragestellung hinsichtlich der Nichtspeicherung der Messdaten kommt jedenfalls in Betracht, dass die Entscheidung in dem Verfahren 2 BvR 1167/20 auch von grundsätzlicher Bedeutung für die Verwertbarkeit der mit dem Laserscanner PoliScan M1 HP erzielten Messergebnisse sein wird.
Die nach §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG anwendbaren Vorschriften der StPO sehen in einer solchen Konstellation unmittelbar keine Aussetzung des Verfahrens vor. Allerdings ist die entsprechende Anwendung des § 262 Abs. 2 StPO in Betracht zu ziehen (vgl. Miebach in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Auf. 2016, § 262 Rdn. 19; Ott in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl. 2019, § 262 Rdn. 7). Die entsprechende Anwendbarkeit des § 262 Abs. 2 StPO ist etwa bei anderweitiger Anhängigkeit eines Normenkontrollverfahrens zur Gültigkeit einer entscheidungsrelevanten Rechtsnorm (vgl. BayObLG NJW 1994, 2104) und im Falle einer anderweitigen Divergenzvorlage nach § 121 Abs. 2 GVG zu einer für die Entscheidung bedeutsamen Rechtsfrage (vgl. OLG Karlsruhe BeckRS 2017, 102231) bejaht worden. Auf derselben Ebene liegt die Verfassungsbeschwerde eines Dritten, bei der die grundsätzliche Klärung einer im vorliegenden Verfahren entscheidungsrelevanten Rechtsfrage zu erwarten ist.
Es besteht indes keine Rechtspflicht, ein Bußgeldverfahren deshalb auszusetzen, weil anderweitig eine solche Verfassungsbeschwerde anhängig ist. Vielmehr steht die Entscheidung über die Aussetzung des Bußgeldverfahrens im Ermessen des Gerichts, dessen Sachentscheidungskompetenz durch die Anhängigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht berührt wird.
Das Amtsgericht hat sich bei seiner rechtsfehlerfreien Ermessensentscheidung die Rechtsprechung nahezu sämtlicher Bußgeldsenate der Oberlandesgerichte zu eigen gemacht, wonach die Verwertbarkeit des Messergebnisses nicht von der nachträglichen Überprüfbarkeit anhand gespeicherter Messdaten abhängt (vgl. zu einem Aussetzungsantrag: OLG Brandenburg BeckRS 2022, 28361). Im Bereich der Fachgerichte ist die Fragestellung als geklärt anzusehen Das Amtsgericht hat ferner zutreffend darauf hingewiesen, dass eine funktionsfähige Verkehrsüberwachung empfindlich gestört würde, wenn Bußgeldverfahren, denen Geschwindigkeitsmessungen mit nicht speichernden Messgeräten zugrunde liegen, massenhaft ausgesetzt werden würden.
Die Verfassungsbeschwerde ist seit mehr als zwei Jähren anhängig. Eine Aussetzung entsprechend § 262 Abs. 2 StPO führt nicht zum Ruhen der Verfolgungsverjährung (vgl. Gertler in: BeckOK, OWiG, 36. Edition 2022, § 32 Rdn. 23; Ellbogen in: Karlsruher Kommentar, OWiG, 5. Aufl. 2018, § 32 Rdn. 15 Rdn. 7). Gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 StVG tritt im gerichtlichen Bußgeldverfahren vor Erlass des Urteils (§ 32 Abs. 2 OWiG) bereits nach sechs Monaten Verfolgungsverjährung ein. Im Falle erstinstanzlicher Aussetzung zwecks Abwarten der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren 2 BvR 1167/20 wären inzwischen zahlreiche Bußgeldverfahren in die Verfolgungsverjährung gelaufen. Eine Aussetzung in entsprechender Anwendung des § 262 Abs. 2 StPO liegt in Massenverfahren mit kurzer Verfolgungsverjährung fern und erscheint hier ohne gesetzliche Ruhensregelung ungeeignet. Vor diesem Hintergrund ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn der Tatrichter seine Entscheidungskompetenz wahrnimmt und in Ausübung seines Ermessens von der Aussetzung des Verfahrens absieht. Dies gilt umso mehr, als das Beschleunigungsgebot auch im Bußgeldverfahren zu beachten ist (vgl. OLG Hamm BeckRS 2009 = SVR 2009, 465, 12428; OLG Stuttgart BeckRS 2018, 13726).“
Dazu kurz Folgendes: Die Ausführungen des OLG zur Aussetzungsfrage sind m.E. erkennbar vom Ergebnis – drohender Verjährungseintritt – getragen. Sie sind im Übrigen aber auch nicht überzeugend. Denn, dass das AG sich eine – nach der ausstehenden Entscheidung des BVerfG ggf. falsche – Auffassung aller OLG zu eigen gemacht hat, rechtfertigt die Ablehnung der Aussetzung, für die auch mal wieder die „funktionsfähige Verkehrsüberwachung“ herhalten muss, nicht. Wenn die Verkehrsüberwachung eben nicht „funktionsfähig“ erfolgt, dann müssen die Verwaltungsbehörden die daraus entstehenden Folgen eben hinnehmen. Es erschließt sich mir auch nicht, warum man einerseits eine entsprechende Anwendung von § 262 Abs. 2 StPO grundsätzlich bejaht, dann aber andererseits, weil es dann doch nicht passt, die Regelung als „ungeeignet“ ansieht.
Für das weitere Verfahren hat das OLG übrigens darauf hingewiesen, dass eine Rücknahme oder Beschränkung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid nicht mehr wirksam erfolgen kann. Das ist zutreffend, denn die Rücknahme des Einspruchs ist grundsätzlich nur bis zur Verkündung des Urteils im ersten Rechtszug zulässig (§ 71 Abs. 1 OWiG, § 411 Abs. 3 Satz 1 StPO).
Und eine allgemeine Anmerkung – meinetwegen auch „Mecker“ 🙂 : Das OLG hat in seiner Entscheidung fast alle zitierten Entscheidungen anderer OLG nur mit „BeckRS“-Fundstellen angeführt. Das macht die Entscheidung zwar (noch) nicht unlesbar, aber: Das alleinige Anführen dieser Fundstellen ohne Entscheidungsdatum und Aktenzeichen macht das Auffinden der angeführten Entscheidung an anderen Stellen zwar nicht unmöglich, aber erschwert es ggf. ungemein. Denn die betreffende Entscheidung, die als Beleg angeführt worden ist, kann nur über Umwege, wenn überhaupt, gefunden werden kann. Diese „Unsitte“ muss nicht sein, zumal ja auch bei Beck-Online bei den „BeckRS“ Fundstellen Entscheidungsdatum und Aktenzeichen angeführt werden. Es sollte m.E. einem OLG keine Mühe machen, diese dann auch in einer Entscheidung, die man veröffentlicht, anzuführen, um so ein einfacheres Umgehen mit den Zitaten, vor allem eine Überprüfung der angeführten Entscheidungen darauf, ob sie tatsächlich dieselben Auffassung wie das OLG vertreten, zu ermöglichen. Zudem kann man m.E. auch nicht davon ausgehen, dass – anders als die Justiz – alle anderen Interessierten auch über einen „Beck-Zugang“ verfügen-