Schlagwort-Archive: Urteilsgründe

Täteridentifizierung und kein Ende, oder: Das KG zeigt, worauf es ankommt

© fotoknips – Fotolia.com

Die Täteridentifizierung im Bußgeldverfahren anhand eines von dem Verkehrsverstoß gefertigten Lichtbildes war erst gestern Gegenstand eines Postings hier im Blog. Da ging es um den OLG Bamberg, Beschl. v. 06.02.2017 – 3 Ss OWi 156/17 -, der die Rechtsprechung des OLG Bamberg aus der letzten Zeit (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 14. 11. 2016 – 3 Ss OWi 1164/16 und dazu: Täteridentifizierung, oder: Mainstream vom OLG Bamberg)  „fortsetzt“ (vgl. zum Beschl. v. 06.02.2017 Nochmals: Täteridentifizierung, oder: Wie muss die Lichtbildbezugnahme aussehen?). Im Anschluss/als Reaktion auf das Posting hat mit der Kollege Fricke vom AG Tiergarten den KG, Beschl. v. 13.02.2017 – 3 Ws (B) 23/17 – 122 Ss 9/17 – übersandt. Denn stelle ich dann heute hier gleich vor. Er behandelt zwar nicht die Frage der ordnungsgemäßen Bezugnahme i.S. des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO, stellt aber noch einmal sehr schön vor/zusammen, worauf es ankommt:

„a) Der bloße Hinweis auf die „Inaugenscheinnahme der Tatfotos“ war vorliegend – weder für sich genommen noch in der Gesamtschau – ausreichend, um die gericht­liche Überzeugungsbildung zu begründen. Im Fall der Identifizierung eines Betroffe­nen als Täter müssen die Urteilsgründe so abgefasst sein, dass dem Rechtsbe­schwerdegericht die Prüfung möglich ist, ob ein im Rahmen einer Geschwindigkeits­messung gefertigtes Lichtbild überhaupt geeignet ist, die Identifizierung einer Person zu ermöglichen. Ausreichend ist es hierfür, dass in den Urteilsgründen auf das sich in der Akte befindliche Foto gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG Bezug genommen wird, wodurch das Foto zum Bestandteil der Urteilsgründe wird und vom Rechtsbeschwerdegericht dann zur Prüfung der Frage, ob es als Grundlage einer Identifizierung tauglich ist, selbst in Augenschein genommen werden kann. Macht der Tatrichter von dieser Möglichkeit Gebrauch und ist das Foto zur Identifizie­rung uneingeschränkt geeignet, so sind darüber hinausgehende Ausführungen zur Beschreibung des abgebildeten Fahrzeugführers entbehrlich (vgl. BGHSt 41, 376, juris Rn. 21 ff.; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. Juli 2013 – IV-3 RBs 67/13 –, juris Rn. 3 und VRS 112, 43; OLG Hamm, Beschlüsse vom 21. August 2007 – 3 Ss­OWi 464/07 – und 26. November 2007 – 2 Ss OWi 757/07 –, juris Rn. 5). Die Bezug­nahme nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO muss deutlich und zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht sein. Alleine der Hinweis, das Lichtbild sei in Augenschein genommen und mit dem Betroffenen verglichen worden, genügt den Anforderungen nicht (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Köln NJW 2004, 3274; OLG Hamm NStZ-RR 1998, 238). Dadurch wird lediglich der Beweiserhebungsvorgang beschrieben, nicht aber der Wil­le zum Ausdruck gebracht, das Foto zum Bestandteil der Urteilsurkunde zu machen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. Juli 2013 a.a.O.). Sieht der Tatrichter von der erleichternden Verweisung auf das in Augenschein genommene Foto nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG ab, so müssen die Urteilsgründe durch Ausführungen zur Bildqualität (insbesondere zur Bildschärfe) und durch eine Be­schreibung der abgebildeten Person oder mehrerer charakteristischer Identifizie­rungsmerkmale dem Rechtsmittelgericht in gleicher Weise wie durch das Betrachten des Belegfotos die Prüfung eröffnen, ob das Lichtbild zur Identifizierung des Fahrers geeignet ist (vgl. BGH a.a.O., juris Rn. 26; Senat, VRS 111, 145, VRS 114, 38 und Beschluss vom 13. September 2012 – 3 Ws (B) 512/12 –; OLG Bamberg NZV 2008, 211). Das Erfordernis, die Bildqualität darzulegen, ist aber kein Selbstzweck. Es soll dem Rechtsbeschwerdegericht die Überprüfung ermöglichen, ob das (seiner Be­trachtung entzogene) Foto zur Identifizierung generell geeignet ist. Diesen Anforde­rungen ist Rechnung getragen, wenn das Urteil darlegt, dass ein hinzugezogener anthropologischer Sachverständiger das Tatfoto für aussagekräftig gehalten hat und das Urteil alle vom Sachverständigen für relevant gehaltenen Besonderheiten dar­stellt, so dass das Rechtsbeschwerdegericht nachvollziehen kann, dass das Amtsge­richt das Lichtbild als geeignete Grundlage dafür gesehen hat, den Fahrer zu identifi­zieren (Senat, Beschluss vom 25. November 2016 – 3 Ws (B) 587/16 –).

Vorliegend erfolgt weder eine Bezugnahme im Sinne von § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG in den Urteilsgründen noch die dann erforderliche ausführli­che Beschreibung der Qualität der Lichtbilder und der abgebildeten Person oder mehrerer ihrer charakteristischen Identifizierungsmerkmale. Ob und inwieweit das vom Amtsgericht zum Vergleich herangezogene Lichtbild bzw. die herangezogenen Lichtbilder zur Identifizierung geeignet sind, kann somit anhand der Urteilsfeststel­lungen durch das Rechtsbeschwerdegericht nicht geprüft werden.

Soweit das Gericht darauf abstellt, es habe seine Überzeugung von der Fahrerei­genschaft des Betroffenen auf einen visuellen Vergleich des Tatfotos mit dem Be­troffenen in der Hauptverhandlung gestützt, so stellen die diesbezüglichen Ausfüh­rungen, weder für sich genommen noch in der Gesamtschau, eine ausreichende Be­gründung dar. Weil das Gericht in den Urteilsgründen von einer erleichternden Ver­weisung auf das Beweisfoto abgesehen hat, hätte die Beschreibung des Fotos und des Vergleichs der Abbildung mit dem Betroffenen im oben genannten Sinne ent­sprechend ausführlich erfolgen müssen. Dies ist jedoch nicht geschehen. Das Ge­richt führt aus, dass insbesondere für eine Übereinstimmung des Fahrers auf dem Tatfoto mit dem Betroffenen spreche, „dass sowohl das linke Ohr des Fahrers als auch das linke Ohr des Betroffenen oben nicht oval verlaufen, sondern jeweils eine deutliche, gleich verlaufende Einkerbung“ aufzeigten. Sowohl der Betroffene als auch der Fahrer auf dem Tatfoto, würden darüber hinaus eine „ähnlich hohe Stirn und ei­nen übereinstimmenden Haaransatz“ aufweisen. Auch sei „der Verlauf der oberen Augenbrauenform beim Betroffenen und beim Fahrer auf dem Fahrerfoto aus Sicht des Gerichts identisch“. Einzig mit der geschilderten Einkerbung am linken Ohr hat das Gericht eine charakteristische Eigenart entsprechend dem oben genannten Maßstab beschrieben. Die ferner vom Gericht erkannten Übereinstimmungen im Be­reich der Stirnpartie, des Haaransatzes und des Verlaufs der Augenbrauen sind zu allgemein ausgeführt, um die visuell erkannte Ähnlichkeit für das Rechtsmittelgericht nachvollziehbar erscheinen zu lassen.“

Auch das, was das KG dann zum anthropologischen Sachverständigengutachten ausführt ist lesenswert.

Nochmals Täteridentifizierung, oder: Wie muss die Lichtbildbezugnahme aussehen?

© fotoknips – Fotolia.com

In der Facebook-Gruppe „Fachanwälte für Strafrecht“ ist gerade gestern in Zusammenhang mit der Täteridentifizierung im Bußgeldverfahren anhand eines von einem Verkehrsverstoß gefertigten Lichtbildes die Frage der ausreichenden Bezugnahme i.S. des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO diskutiert worden. Zu dieser Frage hat es vor einiger Zeit das BGH, Urt. v. 28.01.2016 – 3 StR 425/15  gegeben (vgl. BGH: Wie wird im Urteil „prozessordnungsgemäß“ auf ein Lichtbild verwiesen?). Das ist zwar im Strafverfahren ergangen, seine Grundsätze gelten aber auch im Bußgeldverfahren. Und das Urteil hat dann kurz darauf das OLG Bamberg aufgegriffen (vgl. den OLG Bamberg, Beschl. v. 14. 11. 2016 – 3 Ss OWi 1164/16 und dazu: Täteridentifizierung, oder: Mainstream vom OLG Bamberg). M.E. ist die Rechtsprechung an dieser Stelle in Bewegung und weicht, was die ordnungsgemäße Bezugnahme angeht, ein wenig auf.

Das folgt dann m.E. auch aus dem OLG Bamberg, Beschl. v. 06.02.2017 – 3 Ss OWi 156/17 -, in dem es zu der Problematik dann heißt:

„b) Hier hat das AG seine Überzeugung von der Fahrereigenschaft des Betr. „aufgrund der in Augenschein genommenen Lichtbilder auf Bl. 18 d.A. in Abgleich mit dem in der Hauptverhandlung erschienen Betroffenen“ Damit hat es in noch zureichender und wirksamer Weise, nämlich durch ausdrückliche und genaue Nennung der Fundstellen in den Akten deutlich und zweifelsfrei erklärt, über die Beschreibung des Vorgangs der Beweiserhebung als solchen hinaus auf die am genannten Ort befindlichen Messfotos gemäß § 267 I 3 StPO i.V.m. § 71 I OWiG Bezug zu nehmen und diese so zum Bestandteil der Gründe seines Urteils zu machen. Aufgrund der prozessordnungsgemäßen Bezugnahme kann der Senat deshalb die fraglichen Abbildungen aus eigener Anschauung würdigen und selbst beurteilen, ob sie als Grundlage einer Identifizierung tauglich sind. Da die in Bezug genommenen Lichtbilder zur Identifizierung des Betr. auch nach der Wertung des Senats als uneingeschränkt geeignet anzusehen sind, bedurfte es weiterer Ausführungen zur Beschreibung des abgebildeten Fahrzeugführers, insbesondere einer Auflistung der charakteristischen Merkmale oder Darlegungen zum Maß der Merkmalsübereinstimmungen, auf die sich die Überzeugung von der Identität mit dem Betr. stützt, nicht mehr.

aa) Ob das Tatgericht seinen Willen, zur Erleichterung der Abfassung der Urteilsgründe auf bei den Akten befindliche Abbildungen gemäß 267 I 3 StPO i.V.m. § 71 I OWiG Bezug zu nehmen, um sie zum Bestandteil seiner Urteilsgründe zu machen, hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht hat, kann im Einzelfall nur unter Berücksichtigung der Urteilsgründe in ihrer Gesamtheit beurteilt werden. Die Einhaltung einer besonderen Form, die Wiedergabe des Gesetzeswortlauts, die Verwendung einer verdeutlichenden Floskel oder die ausdrückliche Zitierung der Bestimmung des § 267 I 3 StPO schreibt weder das Gesetz vor (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 08.12.2006 – 5 Ss [OWi] 199/06 = VM 2007, Nr. 20 = VRS 112 [2007], 43), noch lässt sich diese Notwendigkeit aus übergeordneten Erwägungen, etwa aus dem Gesetzeszweck, herleiten. Entscheidend sind letztlich immer die für das Prinzip, dass die Urteilsgründe aus sich selbst heraus verständlich sein müssen, auch sonst zu wahrenden Gebote der Eindeutigkeit und der Bestimmtheit (BGH, Urt. v. 28.01.2016 – 3 StR 425/16 = StraFo 2016, 155 = NStZ-RR 2016, 178 = BGHR StPO § 267 I 3 Verweisung 5; OLG Bamberg, Beschl. v. 14.11.2016 – 3 Ss OWi 1164/16 [bei juris], m.w.N.).

bb) Nach diesem Maßstab dürfen die keinem Selbstzweck dienenden Anforderungen an die Abfassung der tatrichterlichen Urteilsgründe, die nicht dazu dienen, den Inhalt der in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise (womöglich lückenlos) zu dokumentieren, sondern lediglich das Ergebnis der Hauptverhandlung wiedergeben und die rechtliche Nachprüfung der getroffenen Entscheidung ermöglichen sollen (st.Rspr.; vgl. neben BGH, Beschl. v. 04.09.1997 – 1 StR 487/97 = NStZ 1998, 51; BGH, Beschl. v. 11.04.2012 – 3 StR 108/12 = StV 2012, 706 = NStZ-RR 2012, 212; vgl. auch OLG Bamberg, Beschl. v. 01.12.2015 – 3 Ss OWi 834/15 = StraFo 2016, 116 m.w.N.; KK-OWiG/Senge § 71 Rn. 107), nicht grundlos überspannt werden. Hierauf liefe es jedoch gerade im auf verwaltungsrechtliche Pflichtenmahnung angelegten verkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren als Massenverfahren hinaus, eine den Anforderungen des § 267 I 3 StPO genügende Bezugnahme auf bei den Akten befindliche Abbildungen unter Ausblendung des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe unterschiedslos und pauschal mit der Begründung in Frage zu stellen, dass für deren Wirksamkeit die Angabe der Fundstellen in den Akten regelmäßig nicht als ausreichend anzusehen sei, wenn an seinem auch nach außen erkennbaren eindeutigen Willen, die Abbildungen durch Bezugnahme zum Gegenstand der Urteilsgründe zu machen, keine Zweifel bestehen. Bereits nach allgemeiner Anschauung enthält die unter den gegebenen Umständen verfasste – wenn auch knappe – Angabe der Fundstelle in den Akten die über die bloße Berichterstattung über den in der Hauptverhandlung als Teil der dortigen Beweisaufnahme genommenen Augenschein hinaus die unmissverständliche Aufforderung an den Leser, sich bei Gelegenheit durch unmittelbare Betrachtung des Augenscheinobjekts einen eigenen Eindruck zu verschaffen (BGH, Urt. v. 28.01.2016 – 3 StR 425/16 = StraFo 2016, 155 = NStZ-RR 2016, 178 = BGHR StPO § 267 I Satz 3 Verweisung 5; OLG Bamberg a.a.O.). Der Verständniszusammenhang der Urteilsgründe wird hierdurch nicht tangiert, da mit der vom AG gewählten Formulierung klar das Wiedererkennen des Betr. zum Ausdruck gebracht wird. Dass das AG auf eine deskriptive Beschreibung einzelner ‚wiedererkannter‘ Merkmale des Physiognomie des Betr. verzichtet oder den Grad der Übereinstimmung mit den auf dem Messfoto erkennbaren Merkmalen nicht eingehender dargelegt hat, ist unschädlich. Dem Postulat einer „inhaltlichen Erörterung“ ist schon dadurch ausreichend Rechnung getragen, dass der Tatrichter seine Überzeugung von der Täterschaft des Betr. durch den Vergleich des Betr. mit dem Messfoto zum Ausdruck gebracht hat. Mehr bedarf es nicht, zumal die Überprüfung, ob der Betr. mit dem abgebildeten Fahrzeugführer tatsächlich identisch ist, dem Rechtsbeschwerdegericht ohnehin nicht zusteht und ihm auch gar nicht möglich wäre. Die Nachprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht ist vielmehr auf die durch die wirksame Bezugnahme und den hierdurch statthaften ‚Blick in die Akten‘ ermöglichte Überprüfung der generellen Ergiebigkeit der in Bezug genommenen Lichtbilder beschränkt (OLG Bamberg a.a.O.; BGH, Beschl. v. 19.12.1995 – 4 StR 170/95 = BGHSt 41, 376/382 = DAR 1996, 98 = NJW 1996, 1420 = NZV 1996, 413 = MDR 1996, 512 = BGHR StPO § 267 I Satz 3 Verweisung 2 = StV 1996, 413 = VerkMitt 1996, 89).“

Klingt m.E. ein bisschen anders als in früheren/anderen Entscheidungen.

Arbeitsverweigerung beim AG, oder: „Setzen Herr Amtsrichter. Ungenügend/Sechs….“

© J.J.Brown - Fotolia.com

© J.J.Brown – Fotolia.com

Der eine oder andere Leser wird sich vielleicht noch an das Posting: Da „springt mir der Draht aus der Mütze“, oder: Arbeitsverweigerung zum OLG Karlsruhe, Beschl. v. 04.08.2016 – 2 (4) Ss 356/16 – AK 124/16 erinnern. Dazu passt ganz gut bzw. in die Kategorie gehört das LG Köln, Urt. v. 28.07.2016 – 152 Ns 59/15, über das der Kollege Siebers in seinem Blog ja auch schon berichtet hat. Der Kollege meint: Kein Urteil sondern eine Frechheit. Ich habe mir daraufhin den Volltext beim LG Köln besorgt – das geht in NRW über NRWE recht fix. Und in der Tat. Schon außergewöhnlich, was für das AG-Urteil noch eine gelinde Umschreibung ist. Der Kollege Siebers liegt mit „Frechtheit“ im Grund genommen gar nicht so verkehrt. Jedenfalls aber auch „Arbeitsverweigerung“, für die der Vorsitzende der Strafberufungskammer beim LG Köln mehr als deutliche Worte gefunden hat, die man „sich auf der Zunge zergehen lassen“ muss.

Allein schon der erste Satz des landgerichtlichen Urteils ist „bemerkenswert“:

Obwohl die Staatsanwaltschaft bereits Berufung eingelegt hatte, erschöpfte sich das Urteil in einem ordnungsgemäßen Tenor.

Und dann geht es weiter:

„Anstatt einer auch nur ansatzweise an der Vorschrift des § 267 StPO ausgerichteten Begründung ließ der Erstrichter lediglich die Anklageschrift und das vollständige Sitzungsprotokoll einschließlich sämtlicher Streichungen ablichten und die Kopien nach dem Tenor in das Urteil einfügen. Der Sinn seines Vorgehens erschließt sich der Kammer nicht. Die bloße Wiedergabe von Zeugenaussagen ersetzt keine Beweiswürdigung. Erst recht entbindet das rein mechanische Kopieren des Sitzungsprotokolls – noch dazu mit sämtlichen Streichungen – den Richter nicht davon, die von ihm erhobenen Beweise in ihrer Gesamtheit zu würdigen.

Dieses Vorgehen setzte der Erstrichter in der Folge fort. Als angebliche Einlassung des Angeklagten ließ er den vom Verteidiger im Ermittlungsverfahren zur Akte gebrachten Schriftsatz vom 20. Dezember 2013 vollständig in das Urteil hineinkopieren. Abgesehen davon, dass der Schriftsatz überhaupt nicht in die Hauptverhandlung eingeführt worden war, handelte es sich bei der vom Angeklagten nicht übernommenen Erklärung des Verteidigers gerade nicht um die Einlassung des Angeklagten. Diese erschöpfte sich vielmehr nicht nur in der Berufungsverhandlung in seiner Erklärung, sich aufgrund seines Rauschs an überhaupt nichts mehr erinnern zu können. Er habe lediglich eine „emotionale“ Erinnerung dahingehend, sich damals in irgendeiner Form bedroht gefühlt zu haben.

Schließlich hielt der Erstrichter ohne nähere Ausführungen oder eine Würdigung unter Verweis auf ein inhaltlich ebenfalls nicht mitgeteiltes rechtsmedizinisches Gutachten fest, die „Einlassung“ des Angeklagten lasse sich nicht widerlegen.

Die Kammer unterstreicht vor diesem Hintergrund ihre in der Hauptverhandlung bekannt gegebene Wertung, bei dem von einem Richter unterschriebenen Dokument handele es sich nicht um ein auch nur ansatzweise nach Maßgabe des § 267 StPO begründetes Urteil, sondern schlicht um eine Frechheit. Das Vorgehen des Erstrichters, völlig sinnfrei zu großen Teilen überhaupt nicht in die Hauptverhandlung eingeführte Aktenteile in sein Urteil hineinkopieren zu lassen, wird nicht nur dem Angeklagten und dem Geschädigten sowie den Besonderheiten der abzuurteilenden Taten, sondern auch und gerade dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit in keiner Weise mehr gerecht. Die Fassung eines solchen „Scheinurteils“ bleibt auch vor dem Hintergrund der hohen Arbeitsbelastung der Amtsgerichte unerklärlich. Sie ist schon mit Blick auf §§ 258a, 339 StGB höchst bedenklich.

Schon vor diesem Hintergrund war die Kammer aufgefordert, das auch noch in der Sache (zugunsten des Angeklagten) grob fehlerhafte Urteil aufzuheben und – insofern zu Gunsten des Angeklagten – die beim Amtsgericht angefallenen Verfahrenskosten gemäß § 23 GKG niederzuschlagen.“

Heftig – so der Kollege Siebers -, oder: Da ist der Strafkammer und dem ihr Urteil begründenden Vorsitzenden aber „der Draht aus der Mütze gesprungen“. Ich habe während meiner richterlichen Tätigkeit – und die hat immerhin 1978 begonnen – und auch danach noch nie ein Berufungsurteil gelesen, in dem die Strafkammer dem AG eine solche Abfuhr erteilt. Der amtsrichterliche Kollege scheint bar jeder Kenntnis zu sein, wie man ein Urteil begründet, gegen das Berufung eingelegt ist. Oder ist es besser, zu seinen Gunsten anzunehmen, dass er keine Lust zur ordnungsgemäßen Begründung hat? Ich weiß nicht, was besser/schlimmer ist. Mit „Arbeitsbeslastung“ kann man übrigens nicht alöles gesund beten, da hat die Kammer Recht.

Die Hinweise der Kammer auf die „§§ 258a, 339 StGB“ sind mehr als deutlich – Frage: Anfangsverdacht, der die StA zum Tätigwerden verpflichten würde? Wahrscheinlich nicht. Und dass eine Berufungskammer von § 23 GKG Gebrauch macht und die Kosten der 1. Instanz niederschlägt -. Formulierung der Kammer: sie war „aufgefordert“ (!!) das zu tun – habe ich, wenn ich micht recht erinnere auch noch nicht gelesen.

Fazit: Setzen Herr Amtsrichter. Ungenügend/Sechs. Die „Versetzung“ ist gefährdet.

Und wenn ich dann das LG Freiburg, Urt. v. 25.02.2016 – 2 KLs 270 Js 21058/12 (dazu: Die Rechtsbeugung des Staatsanwaltes, oder: Scheinerledigung) dazu nehme: Kein gute Bild für die Justiz……

Verwerfung I: Nachforschen muss das LG, oder: So einfach ist das nicht….

© Corgarashu – Fotolia.com

© Corgarashu – Fotolia.com

Heute dann mal ein Tag, der sich mit Entscheidungen zur Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 StPO befasst. Ein weites Feld, in dem es, weil die Tatgerichte häufig Fehler machen, häufig zur Aufhebung der Verwerfungsentscheidung kommt. Eröffnen will ich den Reigen mit dem schon etwas älteren OLG Frankfurt, Beschl. v. 02.11.2015 – 1 Ss 322/15, der zunächst zum Umfang der Ausführungen im Verwerfungsurteil Stellung nimmt, wenn ein zur Entschuldigung vorgelegtes ärztlichen Attestes als nicht ausreichend angesehen und die Berufung des Angeklagten verworfen wird. Dann muss der wesentliche Inhalt des ärztlichen Attestes im Urteil mitgeteilt werden.

Aber das ist noch nicht alles, was das OLG beanstandet hat. Ihm passen auch die Ausführungen des LG zum Entschuldigungsgrund ersichtlich nicht:

„Nach ständiger Rechtsprechung kommt es nicht darauf an, ob der Angeklagte sich entschuldigt hat, sondern nur, ob er entschuldigt ist (vgl. BGHSt 17, 391; OLG Frankfurt am Main -2 Ss 178/11-; -1 Ss 113/10-; OLG Köln StraFo 2006, 213; KG Berlin VRS 108, 110; OLG München StraFo 2014, 79; OLG Stuttgart DAR 2004, 165).

Nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung rechtfertigen Zweifel des Richters an der attestierten Erkrankung oder die mangelnde Glaubhaftmachung der Entschuldigung, etwa weil die Art der Erkrankung in dem Attest nicht angegeben ist, grundsätzlich nicht die Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO (OLG Frankfurt am Main -I Ss 253/12-; -2 Ss 67/95-; StV 1988, 100; BayObLG VRS 92, 279; OLG Köln 2006, 413; OLG Stuttgart DAR 2004, 165; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Auflage, § 329 Rdn. 22). Legt ein Angeklagter — wie hier — ein ärztliches Attest vor, nach dessen Inhalt er am Erscheinen in der Hauptverhandlung gehindert ist, so ist dies jedenfalls solange als Entschuldigung anzusehen, als nicht das Gericht selbst im Wege des Freibeweises belegbar festgestellt hat, dass es inhaltlich unrichtig ist (OLG Frankfurt am Main -2 Ss-OWi 1100/14-, -1 Ss 253/12-; -2 Ss 178/1I-; OLG Düsseldorf VRS 87, 439; OLG Hamm StV 1993, 7).

Hinweisen auf einen Entschuldigungsgrund muss das Gericht deshalb von Amts wegen nachgehen und im Zweifelsfall Nachforschungen im Wege des Freibeweises durch Rückfrage bei dem behandelnden Arzt anstellen (OLG Frankfurt am Main -2 Ss-OWi 330/15-; -1 Ss 253/12-; OLG Düsseldorf VRS 78, 138), der infolge der Vorlage seiner ärztlichen Bescheinigung konkludent von seiner ärztlichen Schweigepflicht entbunden worden ist (OLG Frankfurt am Main -1 Ss 253/12-; BayObLG NStZ-RR 1999, 143; OLG Karlsruhe NStZ 1994, 141; OLG München StraFo 2014, 79).

Verbleibende Zweifel an der genügenden Entschuldigung dürfen nicht zu Lasten des Angeklagten gehen (OLG Frankfurt am Main -1 Ss 253/12-; -2 Ss 178/11-; -1 Ss 113/10-; -1 Ss 117/09-; StV 1988, 100; OLG Stuttgart DAR 2004, 165; OLG Düsseldorf VRS 78, 138; OLG Köln StraFo 2006, 413).

Die Gründe des Verwerfungsurteils lassen besorgen, dass das Landgericht bei seiner Entscheidung diese Maßstäbe verkannt hat. Denn die Strafkammer hatte Zweifel an dem vorgelegten Attest, hat es jedoch unterlassen, diesen Zweifeln nachzugehen, indem es etwa bei der das Attest ausstellenden Ärztin nachgefragt hätte.

Nachforschungen durften auch nicht deshalb unterbleiben, weil die gleiche Ärztin — wie die Strafkammer in den Urteilsgründen ausführt — dem Angeklagten bereits ein Jahr zuvor ähnliche Beschwerden bescheinigt hatte. Dieser Umstand erlaubt keinen Rückschluss dergestalt, dass dem neuen Attest von vornherein keine entschuldigende Bedeutung mehr zukommen konnte. Soweit das Landgericht im Urteil weiter ausführt, das Attest sei in sich widersprüchlich, weil es darin einmal heißt, der Angeklagte könne weder gehen noch sitzen und dann er könne weder gehen noch stehen, stellt dies keinen derartigen Widerspruch dar, dass es sich bei dem Attest ganz offensichtlich nur um ein Gefälligkeitsattest handeln kann. Denn diese beiden Feststellungen schließen sich keineswegs aus, sondern könnten durchaus auch ergänzend zu verstehen sein. Soweit die Strafkammer schließlich einen weiteren Widerspruch darin erblickt, dass dem Angeklagten einerseits bescheinigt wird, er könne nicht gehen, andererseits aber eine Anamnese im Gang erfolgt sein soll, fehlt es bereits an einer vollständigen Mitteilung der erfolgten Anamnese (siehe dazu bereits oben). Aus der Revisionsbegründung (RB S. 3) geht jedoch hervor, dass das Landgericht, das Attest insoweit unvollständig wiedergegeben hat. Zur Anamnese heißt es nämlich in dem Attest: „ […] Gang in Anteflektion (in Vorneigung). Das vollständige Aufrichten ist nicht möglich mit algischen Bestandteil.“ Demnach ist die Anamnese nur in einem geneigten Gang erfolgt. Ein vollständiges Aufrichten war nicht möglich und es wurden zudem Schmerzen dokumentiert. Ein eindeutiger Widerspruch zu der Feststellung der Angeklagte könne nicht gehen, der jede weitere Nachforschung erübrigt hätte, ergibt sich daraus nicht. Diese Formulierungen sind allenfalls dazu geeignet, Zweifel an dem Aussagegehalt des Attestes zu begründen. Die Unglaubwürdigkeit des Attestes stand damit aber noch nicht fest (vgl. OLG Frankfurt am Main —StV 1988, 100). Die Zweifel hätten das Landgericht dann aber — insbesondere unter Berücksichtigung der weiteren eindeutigen Ausführungen in dem Attest — dazu bewegen müssen, Nachforschungen bei der das Attest ausstellenden Ärztin zu veranlassen.

Schließlich lässt auch die Formulierung in dem angefochtenen Urteil „die angedachte ambulante Behandlung mit insbesondere Schmerzmedikamenten spricht gegen eine andauernde Bewegungsunfähigkeit“ (UA S. 3) besorgen, dass die Strafkammer die Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO verkannt hat. Denn die Krankheit würde den Angeklagten nicht nur dann entschuldigen, wenn er dauerhaft bewegungsunfähig wäre, sondern bereits dann, wenn sie ihm nach Art und Auswirkungen eine Beteiligung an der Hauptverhandlung — auch nur vorübergehend — unzumutbar macht (vgl. OLG Frankfurt am Main -1 Ss 210/09-; -1 Ss 113/10¬; OLG Hamm NStZ-RR 1998, 281; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 Rn. 26 m.w.N.).“

Ja, so einfach ist das mit der Berufungsverwerfung nicht….

Straßenverkehrsgefährdung/Fahren ohne Fahrerlaubnis, oder: Warum schweigt das OLG München?

FragezeichenDer Kollege Florian C.A. Alte aus Anzing hat mir den OLG München, Beschl. v. 04.10.2016 – 4 OLG 15 Ss 456/16 – übersandt. Problematik des Beschlusses: Ist die vom Angeklagten, der vom Amtsgericht wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB) in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) verurteilt worden ist, erklärte Beschränkung der Berufung auf das Strafmaß wirksam oder nicht. Voraussetzung dafür ist, dass vom AG ausreichende tatsächliche Feststellungen getroffen worden sind, um den Rechtsfolgenausspruch zu tragen. Das hat das OLG verneint:

„Insbesondere zu den Verkehrsdelikten hat der Senat in ständiger Rechtsprechung, an der jedenfalls derzeit festzuhalten ist, erkannt, dass der Tatrichter sich nicht auf Feststellungen beschränken darf, die nur die reine tatbestandsmäßige Schuldform betreffen. Vielmehr ist der Tatrichter wegen der Bedeutung für die Rechtsfolgen gehalten, Feststellungen auch zur Motivation der Tat, den konkreten Verkehrsverhältnissen bei Tatbegehung, insbesondere zu möglichen Gefährdungen anderer Straßenverkehrsteilnehmer, und zum Anlass der Tat zu treffen. Beschränkt sich das Erstgericht auf die Feststellungen allein zur Schuldform und unterlässt es die weiteren Feststellungen, ist eine Beschränkung des Rechtsmittels nach § 318 StPO unwirksam und der Berufungsrichter gehalten, den Sachverhalt unter Beachtung der revisionsrechtlichen Vorgaben vollumfänglich festzustellen. (OLG München aaO).

Die vom Amtsgericht Ebersberg getroffenen und unter 1. dieses Beschlusses ausgewiesenen Feststellungen betreffen weitestgehend nur die reine Schuldform. Das Urteil des ersten Rechtszugs teilt nichts zur gefahrenen Fahrstrecke, zum Anlass der Fahrt und zur tatsächlichen Geschwindigkeit des Kfz mit. Nach Ansicht des Senats wären derartige Feststellungen notwendig, um den Anforderungen an einen alle für und gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte abwägenden Rechtsfolgenausspruch gerecht zu werden. Mithin war das Urteil lückenhaft und einer Beschränkung der Berufung nach § 318 StPO nicht zugänglich. Das hat die Berufungskammer verkannt.“

Was den Kollegen erstaunt hat und was auch schon ein wenig ungewöhnlich ist: Im Beschluss des OLG München kein Hinweis auf den OLG Nürnberg, Beschl. v. 21. 10. 2015 – 1 OLG 2 Ss 182/15., mit dem das OLG Nürnberg dem BGH vorgelegt hat, um die umstrittene Frage des Umfangs der tatsächlichen Feststellungen – beim Fahren ohne Fahrerlaubnis – klären zu lassen (vgl. dazu Das OLG Nürnberg traut sich: BGH-Vorlage zum Fahren ohne Fahrerlaubnis). Nun, ich denke, dass das OLG München die Entscheidung aus Nürnberg nicht übersehen hat, sondern das Schweigen daran liegt, dass es bei dem OLG Nürnberg-Beschluss nur um eine Verurteilung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis ging, im Fall des OLG München aber auch eine fahrlässige Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) ausgeurteilt worden ist. Ich meine, da kann man schon unterschiedlicher Auffassung hinsichtlich des Umfangs der Feststellungen sein. Und immerhin schreibt der Senat ja: „….. in ständiger Rechtsprechung, an der jedenfalls derzeit festzuhalten ist, ..“.

Schauen wir mal, was passiert, wenn der BGH entschieden hat. Ggf. werden sich die Tatgerichte dann umtun müssen.