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StPO II: Umfang eines Auskunftsverweigerungsrechts, oder: Verdacht für frühere falsche Verdächtigung

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Bei der zweiten StPO-Entscheidung des 6. Strafsenats, die ich vorstelle, handelt es sich um das BGH, Urt. v. 14.12.2022 – 6 StR 338/22. Ergangen ist das Urteil in einem Verfahren wegen Erwerbs von Betäubungsmitteln u.a.

Das LH hat den Angeklagten wegen Erwerbs von Betäubungsmitteln verurteilt. Im Übrigen
hat es den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Gegen den Teilfreispruch sowie die unterbliebene Verurteilung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützten Revision. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel blieb ohne Erfolg, weil die StA nach Auffassung des BGH die Verfahrensrüge nicht ausreichend begründet hatte:

„Nach den Feststellungen erwarb der – insoweit geständige – Angeklagte einige Tage vor dem 23. September 2020 zum Eigenkonsum von einem unbekannt gebliebenen Lieferanten 20 g Marihuana und 2 g Methamphetamin (Fall 26 der Anklageschrift). Von den weiteren Anklagevorwürfen, von August 2019 bis April 2020 in 25 Fällen mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben, indem er jeweils 10 g Methamphetamin an den Zeugen H. gewinnbringend verkauft habe, hat das Landgericht ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen (Fälle 1 bis 25 der Anklageschrift). Zur Begründung hat es namentlich ausgeführt, dass H. und der Angeklagte zwar langjährige Bekannte gewesen seien, die gelegentlich unentgeltlich Betäubungsmittel für den Eigenkonsum ausgetauscht hätten. Feststellungen zu Verkaufsgeschäften des Angeklagten hätten sich mit Blick auf das Bestreiten des Angeklagten, die umfassende Auskunftsverweigerung (§ 55 StPO) des einzigen unmit-
telbaren Belastungszeugen H. sowie dessen teilweise widersprüchlichen und insgesamt nicht glaubhaften Angaben im Ermittlungsverfahren aber nicht treffen lassen.

II.

Den Verfahrensrügen, mit denen die Staatsanwaltschaft einerseits eine Verletzung der Aufklärungspflicht und andererseits die rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags beanstandet, bleibt der Erfolg versagt.

1. Nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin liegt ihnen folgendes Verfahrens-
geschehen zugrunde:

Das Landgericht ordnete die Vorführung des Zeugen H. an, der rechtskräftig wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 25 Fällen, nach vorangegangenem Erwerb vom Angeklagten (entspricht den Fällen 1 bis 25 der Anklageschrift), verurteilt worden war. Zum zweiten Hauptverhandlungstermin erschien der Zeuge, berief sich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht und wurde sodann „im allseitigen Einvernehmen“ entlassen. Am folgenden Sitzungstag beanstandete der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft die Anordnung des Vorsitzenden, wegen eines vermeintlich umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts von „der Vernehmung des Zeugen … abzusehen“. Überdies beantragte er für den Fall, dass „das Gericht entgegen der bisherigen Anordnung von einem Nichtbestehen eines umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts des Zeugen“ ausgehen sollte, dessen erneute Ladung und Vernehmung. Das Gericht bestätigte die sachleitende Anordnung und zugleich die Bewertung, dass dem Zeugen ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht zustehe.

2. Die Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO), mit der die Beschwerdeführerin beanstandet, das Landgericht habe unter Verstoß gegen § 55 Abs. 1, § 244 Abs. 2 StPO von der Sachvernehmung des Zeugen H. abgesehen, bleibt ohne Erfolg.

a) Die Verfahrensbeanstandung ist bereits nicht ordnungsgemäß ausgeführt (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

aa) Denn eine zulässig erhobene Aufklärungsrüge setzt voraus, dass der Revisionsführer eine bestimmte Beweistatsache und die für die Beweiseignung und -bedeutung im Zeitpunkt der Hauptverhandlung wichtigen Umstände angibt, aufgrund derer sich das Tatgericht zu der vermissten Beweiserhebung hätte gedrängt sehen müssen (st. Rspr., vgl. BGH, Urteile vom 15. September 1998 – 5 StR 145/98, NStZ 1999, 45; vom 18. Juli 2019 – 5 StR 649/18, Beschlüsse vom 18. August 1993 – 3 StR 469/93, BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Aufklärungsrüge 7; vom 1. Juli 2010 – 1 StR 259/10, NStZ-RR 2010, 316).

bb) Daran fehlt es hier. Die zusammenfassende Würdigung der Zeugenaussagen von H. und R. im Beschluss der Strafkammer ersetzt die notwendige vollständige Mitteilung ebenso wenig wie die in Bezug genommenen Chatnachrichten.

Auch die Berücksichtigung der Urteilsgründe, die der Senat auf die erhobene Sachrüge hin zur Kenntnis nimmt, ändert an der Unvollständigkeit des Rügevorbringens nichts (vgl. BGH, Urteile vom 20. März 1990 – 1 StR 693/89, BGHSt 36, 384, 385; vom 26. Mai 1992 – 5 StR 122/92, NJW 1992, 2304, 2305; vom 23. September 1999 – 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 205). Zwar werden dort Angaben des Zeugen H. wiedergegeben. Eine revisionsgerichtliche Überprüfung anhand dieser Zusammenfassung und eingedenk der nur unvollständig mitgeteilten Chatinhalte wird
hier aber nicht ermöglicht.

b) Die Verfahrensrüge wäre vor dem Hintergrund des mitgeteilten Verfahrensgeschehens und eingedenk des begrenzten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs (vgl. BGH, Urteile vom 28. November 1997 – 3 StR 114/97, BGHSt 43, 321, 326; vom 16. November 2006 – 3 StR 139/06, BGHSt 51, 144, 148) auch unbegründet. Die Strafkammer hat den Umfang des Auskunftsverweigerungsrechts nicht verkannt. Zwar ist in § 55 StPO nur von der Auskunftsverweigerung auf einzelne Fragen die Rede. Jedoch kann ein Zeuge die Auskunft dann insgesamt verweigern, wenn seine Aussage mit seinem etwaigen strafbaren Verhalten in so engem Zusammenhang steht, dass eine Trennung nicht möglich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Mai 1987 – I BGs 286/87, StV 1987, 328, 329; Urteil vom 9. Juli 1991 – 1 StR 312/91, BGHR StPO § 55 Abs. 1 Verfolgung 1). Von einem solchen Zusammenhang ging die Strafkammer in rechtlich nicht zu beanstandender Weise aus. Sie hat konkrete Anhaltspunkte dafür dargelegt, dass der Zeuge im Fall einer Aussage in der Hauptverhandlung Verdachtsmomente für eine frühere falsche Verdächtigung des Angeklagten (§ 164 StGB) liefern würde. Hierfür hat sie insbesondere auf aussageimmanente Widersprüche und auf Inhalte von Chatnachrichten abgehoben, die sich teilweise als unvereinbar mit seinen Angaben erwiesen hätten.

3. Ohne Erfolg beanstandet die Beschwerdeführerin auch, dass die Strafkammer ihren hilfsweise gestellten „Beweisantrag“ auf Vernehmung des Zeugen H. nicht beschieden habe.

a) Schon die prozessuale Bedingung, an welche die Beschwerdeführerin ihr
Beweiserhebungsbegehren selbst geknüpft hat, war nicht eingetreten. Nach Ansicht
der Strafkammer stand dem Zeugen nämlich ein umfassendes Aussageverweige-
rungsrecht nach § 55 StPO zu.

b) Überdies handelte es sich hier – mangels einer konkreten Beweisbehauptung – nicht um einen förmlichen Beweisantrag (§ 244 Abs. 3 Satz 1 StPO), sondern lediglich um eine, nach Sachaufklärungsgesichtspunkten (§ 244 Abs. 2 StPO) zu behandelnde, Beweisanregung. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass in der Erklärung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft zugleich ein „Widerruf“ des von diesem zuvor erklärten Einverständnisses nach § 245 Abs. 1 Satz 2 StPO gesehen werden könnte. Denn die Prozesserklärung, nicht mehr an dem zuvor erteilten, freilich aber unwiderruflichen Einverständnis mit dem Absehen von der Beweiserhebung festhalten zu wollen, genügt den gesetzlichen Anforderungen eines Beweisantrags nicht
(aA Krehl in: KK-StPO, 9. Aufl., § 245 Rn. 22; Sättele in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, 5. Aufl., § 245 Rn. 18), weil hiermit jedenfalls keine hinreichend konkrete Tatsache unter Beweis gestellt wird, auf welche die gesetzlichen Ablehnungsgründe sinnvoll angewendet werden könnten (Becker in: Löwe-Rosenberg, 27. Aufl., § 245 Rn. 38; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 245 Rn. 14; Arnoldi, NStZ 2018, 305, 308).“

Was wird von den „Pflichtigebühren“ angerechnet?, oder: Alles wird angerechnet

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Und heute dann noch zum Wochenausklang RVG- bzw. Kostenentscheidungen.

Zunächst stelle ich den LG Koblenz, Beschl. v. 07.11.2022 – 9 Qs 74/22 – vor, der sich noch einmal mit der Frage der Anrechnung der Pflichtverteidigergebühren im Rahmen der Kostenerstattung befasst.

Die Staatsanwaltschaft hat die Angeklagte wegen gewerbsmäßigen Diebsstahls in sechs Fällen angeklagt. Der Kollege Herzog aus Koblenz, der mir den Beschluss geschickt hat, ist der Angeklagten als Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Das AG hat die Angeklagte – nach Einstellung des Verfahrens gern. § 154 Abs. 2 StPO im Übrigen – wegen Urkundenfälschung in zwei Fällen und Diebstahls unter Einbeziehung einer anderen Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt. Wegen eines weiteren versuchten Diebstahls wurde sie darüber hinaus zu einer weiteren Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.

Auf die Berufung der Angeklagten hat das LG diese wegen Diebstahls in drei Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, und der Urkundenfälschung in zwei weiteren Fällen schuldig gesprochen und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Kosten des Berufungsverfahrens wurde einem damals weiteren Mitangeklagten und der Angeklagten auferlegt – dieser jedoch mit Ausnahme ihrer notwendigen Auslagen, die der Staatskasse auferlegt wurden.

Mit seinem Kostenfestsetzungsantrag hat der Kollege die Festsetzung seiner Pflichtverteidigergebühren für die erste und zweite Instanz in Höhe von 4.817,54 EUR beantragt. Die Kostenfestsetzung erfolgte antragsgemäß, der festgesetzte Betrag wurde angewiesen. Mit einem weiteren Kostenfestsetzungsantrag hat der Kollege dann beantragt, zusätzlich für das Berufungsverfahren Wahlverteidigergebühren in Höhe von 233,24 EUR (insgesamt 919,87 EUR abzüglich der bereits festgesetzten und ausgezahlten Pflichtverteidigervergütung für die zweite Instanz in Höhe von 686,63 EUR) festzusetzen. Zugleich legte er eine Abtretungsvereinbarung vor.

Die Bezirksrevisorin beim LG hat beantragt, die Gebühren und Auslagen auf 0,00 EUR festzusetzen, da infolge einer Anrechnung der bereits vom Verteidiger bezogenen Pflichtverteidigervergütung für das Verfahren erster und zweiter Instanz nach § 52 Abs. 1 Satz 2 RVG kein festzusetzender Betrag mehr verbleibe. Der Kollege hat hierzu gemeint, die Bezirksrevisorin verstehe die von ihr selbst in Bezug genommene Rechtsprechung und Literatur völlig falsch, die Wahlverteidigervergütung sei höher, als die gezahlte Pflichtverteidigervergütung zuzüglich der beantragten Differenz zur Wahlverteidigervergütung. Das AG hat den Kostenfestsetzungsantrag zurückgewiesen. Die ausgezahlte Pflichtverteidigervergütung sei auf die Wahlanwaltsvergütung anzurechnen. Insoweit werde alleine auf den gesamten Erstattungsbetrag abgestellt, den der Verteidiger aus der Staatskasse erhalten habe – unabhängig davon, für welche Verfahrensabschnitte er diesen Betrag erhalten habe. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Kollegen hatte beim LG keinen Erfolg:

„Zu Recht hat das Amtsgericht Koblenz den Antrag des weiteren Beteiligten auf Festsetzung einer Wahiverteidigervergütung zurückgewiesen.

Die mit dem Kostenfestsetzungsantrag geltend gemachte Vergütung für den Berufungsrechtszug ist tatsächlich angefallen, jedoch ist von dem geltend gemachten Betrag in Höhe von noch 233,24 Euro die dem Verteidiger bereits ausgezahlte Pflichtverteidigervergütung in Abzug zu bringen. Da diese die geltend gemachte Wahlverteidigervergütung um ein Vielfaches übersteigt, war die aus-zuzahlende Vergütung im Ergebnis auf 0,00 Euro festzusetzen.

Zwar war der Verteidiger der Verurteilten zum Pflichtverteidiger bestellt und auch im Berufungsrechtszug als solcher tätig, doch ist wegen der Regelung des § 52 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz, Abs. 2 Satz 1 RVG es möglich, anstatt der dem Verteidiger zustehenden Pflichtverteidigergebühren für das Verfahren zweiter Instanz für letzteres Wahlverteidigergebühren auf Grundlage der vom Landgericht Koblenz getroffenen Kostengrundentscheidung zu Lasten der Staatskasse abzurechnen.

Denn nach § 52 Abs. 1 1. Halbsatz RVG kann auch der gerichtlich bestellte Rechtsanwalt von dem Beschuldigten die Zahlung der Gebühren eines gewählten Verteidigers verlangen, wenn und soweit dem Beschuldigten ein Erstattungsanspruch gegen die Staatskasse zusteht (§ 52 Abs. 2 Satz 1 RVG).

Dies ist hier geschehen.

Der dem Verurteilten gerichtlich beigeordnete Verteidiger hat auf Grundlage der Kostengrundentscheidung des Landgerichts Koblenz mit seinem Kostenfestsetzungsantrag – nach Abtretung eines vermeintlich bestehenden Anspruchs des Verurteilten – eine Wahlverteidigervergütung beansprucht und hiermit das sich aus § 52 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz RVG ergebende Wahlrecht ausgeübt.

In § 52 Abs. 1 Satz 2 RVG ist allerdings weiter geregelt, dass der Anspruch des Verteidigers gegen den Beschuldigten insoweit entfällt, als die Staatskasse Gebühren gezahlt hat.

Hier hat die Staatskasse bereits eine Pflichtverteidigervergütung in Höhe von 4.817,54 Euro an den Verteidiger ausgezahlt, die die nunmehr geltend gemachte Wahlverteidigervergütung übersteigen.

Die durch diese Regelung erfolgte Verrechnung der Vergütungsansprüche hat ihren sachlichen Grund in dem Umstand, dass es sich bei der an den Pflichtverteidiger gezahlte Vergütung um Kosten des Verfahrens handelt, die der Beschuldigte im Falle seiner Verurteilung zu tragen hat und hinsichtlich derer ein Zahlungsanspruch der Staatskasse gegen den Beschuldigten besteht (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG-Kommentar, 25. Auflage 2021, § 52 Rdnr. 15 m. w. N.). Durch die Regelung des § 52 Abs. 1 Satz 2 RVG wird mithin lediglich eine ansonsten erforderliche ausdrückliche Aufrechnungserklärung der Staatskasse obsolet.“

Die Entscheidung ist zutreffend und entspricht der inzwischen h.M. in der Rechtsprechun, von der ein Teil auch auf meiner Homepage steht. Wegen der genauen Fundstellen verweise ich auf die Entscheidungen zu § 52 RVG und auf die Kommentierung zu § 52 RVG im RVG-Kommentar.

AE II: Umfang der Auskunftserteilung an das FA, oder: Wer prüft was und hat Ermessen?

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Die zweite AE-Entscheidung, der BayObLG, Beschl. v. 20.12.2021 – 203 VAs 389/21 – dürfte vor allem (auch) die Steuerstrafrechtler interessieren. Es geht nämlich um das Akteneinsichtsrecht des Finanzamtes.

Ergangen ist die Entscheidung in einem Verfahren mit dem Vorwurf der Steuerhinterziehung. Das Finanzamt Burgdorf hatte mit Schreiben vom 14.04.2021, weitergeleitet mit Telefax der Steuerfahndungsstelle des Finanzamtes Augsburg-Stadt vom 23.04.2021 an die Staatsanwaltschaft Augsburg, betreffend das Strafverfahren 510 Js 117131/12 Staatsanwaltschaft Augsburg für die Durchführung des Besteuerungsverfahrens beantragt: „Sofern möglich, bitte ich um Übersendung der FN 20-22. Im Bericht wird auf S. 14 und 15 auf die Anpassungen//Gewinnermittlung nach UK GAAP hingewiesen. Gibt es dazu Unterlagen?

Die Staatsanwaltschaft hat dann mit Verfügung vom 24.06.2021 dem Finanzamt Burgdorf auf Grundlage des § 474 Abs. 2 StPO Akteneinsicht in verschiedene Beweismittelordner in teilweise geschwärzter Form gewährt. Diese Unterlagen seien unter Berufung auf den Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 02.10.2013 (Az.: 2 VAs 78/13) für die Steuerprüfung erforderlich; soweit in diesen Beweismittelordnern „Informationen zu anderen Strukturen“ enthalten seien, würden diese aufgrund von § 30 AO geschwärzt.

Gegen diese Verfügung, die im Hinblick auf das Verfahren beim BayObLG bislang nicht ausgeführt worden ist, hat der Antragsteller/Beschildigte Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 23 EGGVG gestellt. Er beantragt, die Verfügungen der Staatsanwaltschaft Augsburg aufzuheben und die Staatsanwaltschaft Augsburg zu verpflichten, es zu unterlassen, dem Finanzamt Burgdorf Akteneinsicht in die Ermittlungsakte samt Beweismittelordner zu gewähren. Zur Begründung hat er vorgetragen, dass das gegen ihn gerichtete Strafverfahren 510 Js 117131/12 Staatsanwaltschaft Augsburg mit Beschluss des LG Augsburg vom 26.03.2021 gemäß § 153 Abs. 2 StPO eingestellt worden sei und dass sämtliche sichergestellten Unterlagen inzwischen an ihn zurückgegeben worden seien. Das Finanzamt Burgdorf müsse sich deshalb zunächst an ihn wenden, wenn es Unterlagen für das Besteuerungsverfahren benötige; dies sei bis heute nicht erfolgt. Er selbst sei zur Mitwirkung im Besteuerungsverfahren bereit. Die Staatsanwaltschaft Augsburg stütze die Akteneinsichtsgewährung unzutreffend auf § 474 Abs. 2 StPO anstatt auf § 474 Abs. 3 StPO i.V.m. § 474 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO. Eine besondere Vorschrift, aufgrund der personenbezogene Daten aus Strafverfahren übermittelt werden dürften, gebe es nicht; §§ 111 Abs. 1 AO oder § 13 Abs. 1 Nr. 1 EGGVG seien hier nicht einschlägig. Die Staatsanwaltschaft habe darüber hinaus weder ihr Ermessen ausgeübt, anstelle der Erteilung von Auskünften Akteneinsicht zu gewähren, noch (vorliegend ausnahmsweise, § 479 Abs. 4 Satz 3 StPO – in der ab 01.07.2021 gültigen Fassung -) geprüft, ob die Übermittlung weiterer personenbezogener Daten zur Aufgabenerfüllung im Rahmen des Besteuerungsverfahrens erforderlich sei, wobei es der fair-trial-Grundsatz verbiete, dass die Staatsanwaltschaft an das Finanzamt ein verzerrtes und nur unvollständiges Sachverhaltsbild aus den Ermittlungsakten weitergebe.

Das BayObLG hat die Verfügung aufgehoben und die sache zur neuen Bescheidung zurückverwiesen. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den umfangreich begründeten Beschluss. Hier nur die amtlichen Leitsätze:

  1. Die Entscheidung, ob Auskünfte nach § 474 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO zu versagen oder zu erteilen sind, unterliegt unbeschränkt der gerichtlichen Nachprüfung.
  2. Für ein Finanzamt ergibt sich gegenüber der Staatsanwaltschaft ein Anspruch auf Auskunftserteilung gemäß § 474 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO i.V.m. § 13 Abs. 1 Ziffer 1 EGGVG aus § 105 Abs. 1, § 111 Abs. 1 Satz 1, § 393 Abs. 3 AO.
  3. Nach § 479 Abs. 4 Satz 2 StPO trägt die Verantwortung für die Zulässigkeit der Übermittlung personenbezogener Daten, namentlich deren Erforderlichkeit als Ausprägung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, nicht die übermittelnde Stelle, sondern der Empfänger, der die Notwendigkeit der Auskunftserteilung in seinem Ersuchen auch nicht näher darlegen muss.
  4. Die übermittelnde Stelle prüft nach § 479 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 1 StPO nur, ob das Übermittlungsersuchen abstrakt im Rahmen der Aufgaben des Empfängers liegt. Nach § 479 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 2 StPO erfolgt eine weitergehende Prüfung der Zulässigkeit der Übermittlung ausnahmsweise bei besonderem Anlass.
  5. In diesem Rahmen sind der Staatsanwaltschaft Erwägungen dahingehend, die Auskunft sei nicht erforderlich, weil das Finanzamt sich die Informationen auch auf anderem Wege beschaffen kann, von Rechts wegen verwehrt.
  6. Bei der Entscheidung, anstelle der beantragten Auskünfte (§ 474 Abs. 2 StPO) gemäß § 474 Abs. 3 StPO Akteneinsicht zu gewähren, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung; insoweit kann der Senat lediglich überprüfen, ob Willkür oder ein Ermessensnicht- oder -fehlgebrauch vorliegt. Dabei muss die Entscheidung die tatsächliche Ausübung des eingeräumten Ermessens erkennen lassen.
  7. Auch bei Ermessensentscheidungen ist ein Nachschieben von Gründen möglich. Unzulässig ist es dann, wenn der Verwaltungsakt dadurch in seinem Wesen geändert würde. Letzteres ist der Fall, wenn die Verwaltungsbehörde eine zunächst irrig als gebundene Entscheidung getroffene Maßnahme nunmehr als Ermessensentscheidung aufrechterhalten will.

OWi II: Einsichtsrechtrecht in Messunterlagen usw., oder: Hier wird noch einmal schön zusammengefasst.

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An sich wollte ich keine bzw. nur noch „besondere“ Entscheidungen zur Akteneinsicht im Bußgeldverfahren bringen, weil die Thematik m.E. „ausgekaut“ ist. Hier ist dann aber doch noch einmal ein AG-Beschluss, und zwar der AG Dillingen a.d. Donau, Beschl. v. 07.07.2021 – 304 OWi 58/21 -, der noch einmal die anstehenden Fragen zusammenfasst:

„Der Antrag der Verteidigung ist zulässig und auch überwiegend begründet.

1. Im Grundsatz wohl noch zutreffend geht die Verwaltungsbehörde davon aus, dass eigentlich nur diejenigen Unterlagen der Akteneinsicht nach § 147 StPO iVm § 46 OWiG unterliegen, die auch tatsächlich (schon) Aktenbestandteil sind. Auch handele es sich bei dem hier verwendeten Messgerät ESO ES3.0 um ein seit Jahren angewandtes, in der Rechtsprechung anerkanntes, sogenanntes „standardisiertes Messverfahren“.

2. Gerade letzterer Umstand ist es aber auch, der die Herausgabe der begehrten Daten an den Betroffenen bzw. seinen Verteidiger unerlässlich macht, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.

3. Im Rahmen standardisierter Messverfahren gehen die Gerichte in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich a priori von der Richtigkeit der in Frage stehenden Messung aus, wenn nicht der Betroffene im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte für etwaige Mess- oder Bedienfehler vorträgt. Entschließt man sich aber unter Praktikabilitätsgesichtspunkten dazu, entgegen der auch im Bußgeldverfahren geltenden Unschuldsvermutung und dem vorherrschenden Amtsermittlungsgrundsatz dem Betroffenen de facto eine Exculpationspflicht aufzuerlegen, so darf ihm diese nicht überdies dadurch erschwert werden, dass ihm völlig unproblematisch verfügbare Daten vorenthalten werden, indem sie entgegen konkreter Anforderung im Einzelfall nicht zum Aktenbestandteil gemacht werden. Denn nur dadurch ist es dem Betroffenen überhaupt möglich, zu prüfen, ob die Voraussetzungen eines standardisierten Messverfahrens vorliegen und die dafür notwendigen Schritte auch eingehalten wurden.

4. Das Gericht verkennt nicht, dass nach langjähriger Erfahrung die Quote von Bedien- und Messfehlern bei entsprechend geschulten Messbeamten praktisch gegen Null tendieren dürfte; um dies prüfen zu können, sind die Daten aber für die Verteidigung im Lichte des Fair-Trial-Grundsatzes unerlässlich. Insbesondere – und das erscheint ein wesentliches Kriterium zu sein – ermöglicht die Überlassung der Daten dem Betroffenen die fundierte und sinnvolle Prüfung, ob es überhaupt Erfolg verspricht, ein – mit zusätzlichen Kosten und Aufwand verbundenes – Einspruchsverfahren aufzunehmen, bzw. weiter zu betreiben. Ergibt nämlich die Auswertung der überlassenen Daten keine Anhaltspunkte für Messfehler, dürfte sich einem verständigen und wirtschaftlich denkenden Betroffenen regelmäßig die Rücknahme des Einspruches aufdrängen.

5. Der Betroffene kann in diesem Zusammenhang auch nicht darauf verwiesen werden, dass z.B. der Schulungsnachweis des Messbeamten in aller Regel im Rahmen einer etwaigen Hauptverhandlung erörtert bzw. vorgelegt wird. Dies verlagert die Verteidigungsrechte des Betroffenen ohne erkennbaren Grund auf einen späteren Zeitpunkt und zwingt ihn sogleich faktisch, über den im Raum stehenden Verstoß eine öffentliche Verhandlung über sich ergehen zu lassen. Es kann durchaus Gründe geben, wieso der Betroffene nach Einsichtnahme in die vollständigen Daten – hierunter auch die Schulungsnachweise – eben dies vermeiden will (lange Anreise, Terminsgebühr, Mehrkosten, etc.)

6. Nach alledem hat der Betroffene das Recht, Einsicht in die aus dem Tenor ersichtlichen Unterlagen zu nehmen. Da die Akte bisher unvollständig war, ist ihm neuerlich und ohne erneute Erhebung der Gebühr Ziffer 9003 KV-GKG Akteneinsicht zu gewähren.

7. Nicht notwendig zur Akte zu geben sind allerdings das Originalfoto (weil in den digital zur Verfügung zu stellenden Daten ohnehin enthalten und als Hochglanzausdruck in der Akte schon vorhanden), der Beschilderungsnachweis (denn der im Raum stehende Verstoß basiert nicht auf einer durch Verkehrszeichen angeordneten zulässigen Höchstgeschwindigkeit, sondern auf der allgemeinen Regelung des § 3 Abs. 3 Ziffer 2. c) StVO. Einer Liste aller aufgenommenen Verstöße bedarf es ebenfalls nicht – zum einen kann der Betroffene sich diese selbst aus den Rohmessdaten erarbeiten, zum anderen sind andere als Geschwindigkeitsverstöße für die Beurteilung der Richtigkeit der Messreihe nicht relevant (es wäre z.B. unerheblich, ob im Rahmen einer etwaigen Anhaltung auch ein Gurtverstoß, o.ä. festgestellt worden wäre). Soweit Unterlagen bzgl. des Messgerätes begehrt werden, ist darauf zu verweisen, dass das Messgerät ESO ES3.0 bauartbedingt über eine generelle Zulassung verfügt und daher eine Zulassung des einzelnen Gerätes nicht mehr notwendig ist. Der Eichschein des Gerätes impliziert seine bauartbedingte Zulassung – und befindet sich schon bei der Akte. Die Daten der gesamten Messreihe sind indes herauszugeben (vgl. z.B. AG Schleiden, Beschluss vom 03.03.2021, 13 OWi 19/21, OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.07.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19, zur Überlassung des Tokens AG Trier, Beschl. v. 09.09.2015 – 35 OWi 640/15, ferner LG Bielefeld, Beschl. v. 25.08.2020 – 10 Qs 278/20, OLG Zweibrücken, Beschl. v. 04.05.2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21 – derzeit in entsprechender Divergenzvorlage vor dem Bundesgerichtshof befindlich, Entscheidung ausstehend.)

8. Bedenken des Datenschutzes stehen dem nicht entgegen. Ohne weitere Anhaltspunkte erscheint schon die Ermittlung der Identität der übrigen Betroffenen schwer bis gar nicht möglich. Das ggf. auf dem Messbild erkennbare amtliche Kennzeichen führt höchstens in Richtung des Halters, nicht zwingend des Fahrers und grundlose Halteranfragen zu Kennzeichen werden in der Regel nicht beantwortet. Selbst wenn es dem Betroffenen bzw. im konkreten Fall seinem Verteidiger gelänge, die Identität anderer Betroffener zu ermitteln (woran ehrlicherweise keinerlei erkennbares Interesse besteht), würden diese Daten lediglich Bestandteil der anwaltlichen Handakte bzw. der Gerichtsakte. Beide Akten sind besonders geschützt, eine Einsichtnahme nur unter engen Voraussetzungen möglich und der breiten Öffentlichkeit generell nicht zugänglich. Würde der Verteidiger des Betroffenen (nochmal: ein sinnvoller Grund hierfür liegt nicht vor) die Daten preisgeben, stellte dies einen schweren Verstoß gegen die Berufspflichten des Rechtsanwalts dar. Schon aus diesem Grund erscheint es nahezu undenkbar, dass die Daten anders als für die Verteidigung des konkreten Falles genutzt werden würden. Auf BVerfG 2 BvR 1616/18, Beschluss vom 12.11.2020 wird abschließend hingewiesen.“

Akteneinsicht II: 4 x zur AE im Bußgeldverfahren, oder: Umfang, Einstellung, Umformatierung, Rohmessdaten

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Vor ein paar Jahren habe ich  bald wöchentlich über Fragen der Akteneinsicht im Bußgeldverfahren berichtet. Inzwischen haben sich manche Probleme zu dem Themenkreis erledigt, andere sind hinzu gekommen. Insgesamt steht das Thema nicht mehr so im Vordergrund, wenn auch die OLG weitgehend nach wie vor mauern und versuchen, die Rechtsprechung der VerfG zu umgehen. In dem Zusammenhang warten alle auf die vom BVerfG angekündigte zweite Entscheidung (2 BvR 1167/20).

Ich habe hier heute dann mal wieder einige AG-Entscheidungen, die mir Kollegen zu der Problematik in der letzten Zeit geschickt haben. Die stelle ich der Vollständigkeit halber, aber auch, um mal wieder das Problem zu erinnern, vor:

Dem Betroffenen steht aus dem Recht auf faire Verfahrensgestaltung ein Anspruch auf Einsicht in die Messserie des Tattages sowie in die gegenständliche xml-Datei nebst Überlassung von Passwort und Token zu.

Ermöglicht es die Verwaltungsbehörde dem Gericht für die Dauer des Verfahrens nicht die Bedienungsanleitung des Gerätes ausreichend zur Kenntnis zu nehmen, sie zur Akte zu nehmen und untersagt sie auch ein Kopieren, so ist die Messung nicht prüfbar. Das Verfahren kann nach § 47 OWiG eingestellt werden.

Dem Akteneinsichtsrecht im Bußgeldverfahren wird damit genüge getan, dass die Verwaltungsbehörde der Verteidigung eine Kopie des gesamten Originalmessfilms im sbt-Format zur Verfügung stellt. Es existiert weder ein Recht noch eine Verpflichtung der Verwaltungsbehörde, die sich bei den Akten befindlichen Datenträger bzw. die darauf befindlichen Daten durch eine Umformatierung abzuändern.

Auch unter Beachtung der Entscheidung des BVerfG vom 12.11.2020 (2 BvR 1616/18) steht dem Betroffenen ein Recht auf Zugang zu, außerhalb der Akte befindlichen Informationen, insbesondere der vollständigen Rohmessdaten der Messreihe nicht zu.