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BVerfG I: Richtervorlagen gegen harte „KiPo-Strafen“, oder: BVerfG weist als unzulässig zurück

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Ich eröffne die 16. KW. dann mit zwei Entscheidungen des BVerfG.

Ich beginne mit dem BVerfG, Beschl. v. 03.03.2023 -2 BvL 11/22 und 2 BvL 15/22 -, den ich der Volltsändigkeit halber hier auch vorstelle. Es handelt sich um die Entscheidung des BVerfG zu zwei amtsgerichtlichen Beschlüssen betreffend die Strafhöhe in den sog. KiPo-Verfahren, und zwar AG München, Beschl. v. 17.6.2022 – 853 Ls 467 Js 181486/21 und AG Wuppertal, Beschl. v. 17.10.2022 -12 Ls-40 Js 261/22-24/22.

Wer darauf gehofft hatte, dass das BVerfG zu den angesprochenen Fragen Stellung nehmen würde, dessen Hoffnung wird enttäuscht. Das BVerfG hat nämlich die Vorlagen an unzulässig angesehen:

„….I.

In einem Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG muss die Begründung der Vorlage angeben, inwiefern die Entscheidung des vorlegenden Gerichts von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift abhängt und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm sie unvereinbar ist (§ 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Dabei muss der Vorlagebeschluss aus sich heraus verständlich sein, da der Begründungszwang des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG das Bundesverfassungsgericht entlasten soll (stRspr; vgl. BVerfGE 22, 175 <177>; 65, 265 <277>; 141, 1 <10 Rn. 22>; 153, 310 <333 Rn. 55>; 159, 149 <170 Rn. 58>). Folglich hat das vorlegende Gericht den zugrunde liegenden Sachverhalt, soweit er für die verfassungsrechtliche Beurteilung wesentlich ist, und die maßgeblichen rechtlichen Erwägungen im Vorlagebeschluss erschöpfend darzulegen und vollständig aufzuklären (vgl. BVerfGE 22, 175 <177>; 37, 328 <333 f.>; 65, 308 <314>; 66, 265 <268>; 68, 311 <316>). Es muss sich mit der einfachrechtlichen Rechtslage auseinandersetzen, seine einschlägige Rechtsprechung erschöpfend darlegen und die in Schrifttum und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der vorgelegten Rechtsvorschrift von Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 136, 127 <142 Rn. 45, 145 ff. Rn. 53 ff.>; 138, 1 <13 Rn. 37>; 141, 1 <11 Rn. 22>).

II.

Ausgehend von diesen Maßstäben genügen die Vorlagebeschlüsse den Anforderungen nicht.

1. Die Vorlage des Amtsgerichts München ist schon deshalb unzulässig, weil der Vorlagebeschluss aus sich heraus nicht verständlich ist. Das Amtsgericht München lässt eine hinreichende Sachverhaltsdarstellung vermissen und führt in seinem Vorlagebeschluss lediglich zu fiktiven Beispielsfällen aus.

2. Die Vorlage des Amtsgerichts Wuppertal ist jedenfalls deshalb unzulässig, weil das Amtsgericht im Vorlagebeschluss nicht hinreichend darlegt, dass und warum das angeklagte Tatgeschehen dem Tatbestand des § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB unterfällt. Aus dem Vorlagebeschluss erschließt sich nicht, warum das Amtsgericht davon ausgehen zu können meint, dass es sich bei der vom Angeschuldigten verbreiteten Datei um einen „pornographischen Inhalt“ im Sinne des § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB handelt.

§ 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB setzt schon nach seinem Wortlaut voraus, dass es sich um „pornographischen Inhalt“ handelt. In Rechtsprechung und Schrifttum wird – auch wenn der Begriff der Pornographie des § 184 StGB insoweit nicht vollständig übertragen wird – für die Verwirklichung des Tatbestandes verlangt, dass die Vermittlung sexueller Inhalte ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung sexueller Reize beim Betrachter ausgerichtet ist (vgl. BGHSt 59, 177 <178 Rn. 43, 179 Rn. 49>; BTDrucks 18/3202, S. 27; Hörnle, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2021, § 184b Rn. 14; Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2019, § 184b Rn. 5; Ziegler, in: BeckOK StGB, 54. Edition Stand 1.8.2022, § 184b Rn. 3).

Das ist hier zweifelhaft, da das Amtsgericht selbst annimmt, dass die Bilddatei nicht auf die Befriedigung sexueller Bedürfnisse ihrer Betrachter ausgelegt ist, sondern im Internet als „Spaßvideo“ kursiert. Das Bundesverfassungsgericht ist zwar an die einfachrechtliche Einordnung des vorlegenden Gerichts grundsätzlich gebunden (vgl. BVerfGE 2, 181 <190 f.>; 105, 61 <67>; 133, 1 <10 f. Rn. 35>). Das enthebt das vorlegende Gericht indes nicht der Aufgabe, sich mit den in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassungen auseinanderzusetzen, die dazu führen könnten, dass es auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit der vorgelegten Norm nicht mehr ankommt, weil deren tatbestandliche Voraussetzungen schon nicht erfüllt sind. Das ist hier nicht geschehen.

Daher bedarf es keiner weiteren Erörterung, ob das Amtsgericht seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB hinreichend begründet hat.“

Tja, schade. Kein weiteres Wort – nicht einmal ein kleines obiter dictum. Aber vielleicht hat das AG Buchen mit seiner Volage im AG Buchen, Beschl. v. 01.02.2023 – 1 Ls 1 Js 6298/21 – mehr Glück.

Pflichti I: 5 x Beiordnungsgründe, oder: Betreuung, OWi, Ausländer, Gesamtstrafe, Beweisverwertungsverbot

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Heute dann ein Pflichtverteidigungstag. Ich könnte auch schreiben. Heute ist der Tag des LG Kiel :-). Grund: Ein Kollege aus Kiel hat neulich „die Ecken sauber gemacht“ und mir einige Entscheidungen geschickt, die ich dann dann heute vorstelle. Zum Teil sind sie etwas älter, aber ich bringe sie dennoch.

Ich beginne mit insgesamt fünf Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen (§§ 140 ff. StPO). Ich stelle aber – schon aus Platzgründen nur die Leitsätze vor. Den Rest muss man dann bitte selst lesen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Entscheidungen:

Steht der Angeklagte unter umfassender Betreuung, insbesondere auch in Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten, begründet dies erhebliche Zweifel daran, dass sich der Angeklagte selbst verteidigen kann.

    1. Von einer schwierigen Rechtslage ist auszugehen, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt, oder wenn die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird. Hiervon umfasst sind auch Fälle, in denen sich Fallgestaltungen aufdrängen, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt.
    2. Etwaige ausländerrechtliche Folgen im Falle einer Verurteilung sind nicht geeignet, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu rechtfertigen.
    3. Dass die Verteidigungsfähigkeit der Beschuldigten aufgrund ihrer fehlenden Deutschkenntnisse eingeschränkt ist, reicht für sich allein genommen nicht aus, um die Beiordnung eines Verteidigers zu rechtfertigen.

Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall notwendiger Verteidigung auch vor, wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Dies ist anzunehmen, wenn eine Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe besteht, wobei es in einem Fall möglicher Gesamtstrafenbildung auf die Höhe der zu erwartenden Gesamtstrafe und nicht auf die Straferwartung hinsichtlich der Einzelstrafe aus einem in die Gesamtstrafenbildung einzubeziehenden Verfahren ankommt.

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge i. S. d. § 140 Abs. 2 StPO ist im Wege einer Gesamtbetrachtung aller ggf. zu erwartenden Rechtsfolgen zu ermitteln. Somit kommt es für die Beurteilung der Gesamtwirkung der Strafe lediglich darauf an, ob im hiesigen Verfahren mit einer (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung zu rechnen ist.

Kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine Verurteilung des Betroffenen im (Bußgeld) Verfahren Einfluss bei der Entscheidung über mögliche ausländerrechtliche Konsequenzen für den Betroffenen haben könnte, ist eine Pflichtverteidigerbeiordnung gerechtfertigt.

Pflichti I: Beiordnungsgründe, oder: Gesamtstrafübel, Nebenfolgen und/oder Corona

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Seit meinem letzten Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen ist wieder einiges an neuen Entscheidungenaufgelaufen. Daher kann ich dann heute wieder einige Entscheidungen vorstellen.

Ich starte mit zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar zunächst mit dem LG Stralsund, Beschl. v. 02.202.2021 – 26 Qs 4/21. Gegenstand der Entscheidung: Beiordnung in den Fällen einer Gesamtstrafe. Das LG sagt/meint:

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ist in der Regel bei einer Straferwartung von einem (nicht über einem) Jahr und mehr anzunehmen. Diese Grenze gilt auch, wenn sie nur durch eine Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

Insoweit nicht viel Neues aus Stralsund, außer: Das haben wir immer schon so gemacht, was dieses Mal auch richtig ist.

Interessanter ist da schon der LG Aurich, Beschl. v. 05.02.2021 – 12 Qs 28/21. In ihm geht es auch um die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO. Und es geht auch um das sog. Gesamtstrafübel – hier Nebenfolge: Einziehung – und das „gepaart“ mit Corona. Dazu das LG:

„Vorliegend erscheint die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten.

1. Allerdings hat das Amtsgericht zu Recht darauf verwiesen, dass die Schwere der zu erwartenden Strafe eine Beiordnung nicht rechtfertigt.

Auch im Zuge der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, im Rahmen derer die „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ ausdrücklich in den Wortlaut des § 140 Abs. 2 StGB aufgenommen worden ist, sind die im Rahmen der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze weiterhin von Bedeutung, da sich bislang die Schwere der Tat ebenfalls nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung beurteilt hat (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 38. Ed. 01.10.2020, StPO § 140 Rn. 23). Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge beurteilt sich mithin in erster Linie nach der zu erwartenden Rechtsfolge im Fall einer Verurteilung, wobei eine Verteidigerbeiordnung bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe ab einem Jahr in der Regel geboten ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 140 Rn. 23 m.w.N.).

Vorliegend ist lediglich eine Geldstrafe zu erwarten. Bei den 24 angeklagten Steuerstraftaten handelt es sich um Vergehen i.S.d. § 370 Abs. 1 und 2 AO. Das Vorliegen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung — mit der Folge einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten (§ 370 Abs. 3 AO) — ist nicht ersichtlich. Die im Einzelnen hinterzogenen Beträge liegen jeweils unterhalb der Wertgrenze von 50.000,00 E, die die Rechtsprechung für eine Steuerhinterziehung großen Ausmaßes i.S.d. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO zieht (BGH, Urteil vom 27.10.2015 — 1 StR 373/15 = NStZ 2016, 288 [289 f.]). Die im Falle des Schuldspruches vom Strafgericht zu bildende Gesamtstrafe ist mithin höchstwahrscheinlich eine Geldstrafe, da das Gericht aus einzelnen Geldstrafen nicht eine Gesamtfreiheitsstrafe bilden darf (BGH, Urteil vom 17.11.1994 —4 StR 492/94 = NStZ 1995, 178).

2. Nichtsdestotrotz erscheint der Kammer aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten.

Zum einen sind angesichts der Klarstellung in § 140 Abs. 2 StPO für die Beurteilung der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung die insgesamt zu erwartenden Rechtsfolgen, d.h. auch Nebenstrafen oder Nebenfolgen, in den Blick zu nehmen. Dies betrifft beispielsweise eine drohende Unterbringung nach § 64 StGB, die Entziehung der Fahrerlaubnis oder ein Fahrverbot bei entsprechender Berufstätigkeit (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21). In Bezug auf eine drohende Einziehung hat das Kammergericht entschieden, dass der Antrag auf Einziehung wertvoller Gegenstände die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebieten kann (KG, Beschluss vom 02.12.1996 — 1 Ss 285/96). Zum anderen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch schwerwiegende mittelbare Nachteile aus einer Verurteilung zu berücksichtigen sind, z.B. der drohende Widerruf einer Bewährung in anderer Sache, erhebliche disziplinarrechtliche Folgen, drohender Widerruf der Zurückstellung nach § 35 BtMG, weitreichende haftungsrechtliche Folgen oder drohende Ausweisung (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21 m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Vorliegend ist aufgrund der drohenden Einziehungsentscheidung, der beruflichen Stellung des Angeklagten und der allgemein bekannten Pandemielage eine Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge anzunehmen, die eine Pflichtverteidigerbestellung gebietet. Der Einwand des Angeklagten, im Falle einer antragsgemäßen Verurteilung und Einziehung wäre seine wirtschaftliche Existenz bedroht, ist glaubhaft. Das Amtsgericht hat mit Strafbefehl vom 03.04.2020 die Einziehung der (mutmaßlich) hinterzogenen Steuerbeträge von insgesamt 19.173,27 € angeordnet. Schon die Höhe des Einziehungsbetrages lässt vermuten, dass eine entsprechende Einziehungsentscheidung den Angeklagten als (faktischen) Inhaber des Imbissbetriebes wirtschaftlich bedrohen würde. Hinzu kommt, dass gerade das Gastronomiegewerbe in besonderer Weise unter den Infektionsschutzmaßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie leidet. Die Einnahmesituation der Gastronomie ist trotz Gewährung staatlicher Hilfen derzeit außerordentlich schlecht. Eine zeitnahe Besserung ist derzeit nicht absehbar. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass eine Verurteilung mittelbare Nachteile für den Angeklagten mit sich bringen könnte, beispielsweise die Untersagung des Gaststättenbetriebs wegen gewerberechtlicher Unzuverlässigkeit nach der GewO und dem NGastG.“

Pflichti III: Gesamtstrafenerwartung, oder: „Wesentlich mehr als ein Jahr“?

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Die dritte und letzte Entscheidudng, der LG Wuppertal, Beschl. v. 18.08.2020 – 23 Qs 93/20 (10 Js 870/20) -, den mir der Kollege Kujus aus Leipzig geschickt hat, befasst sich dann noch einmal mit der Frage der Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen „Schwere der Tat“ in den Fällen der zu erwartenden Gesamtstrafenbildung. Und: Der Beschluss löst die Problematik m.E. falsch:

„Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt insbesondere unter dem Aspekt der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen (§ 140 Abs. 2 StPO) nicht vor.

Die Anklageschrift vom 27.04.2020 legt dem Beschwerdeführer einen versuchten Erwerb von 5,3 Gramm Haschisch zur Last. Im Falle seiner Verurteilung hätte der Beschwerdeführer hiernach eine dem – voraussichtlich gem. § 23 Abs. 2, 49 StGB gemilderten – Strafrahmen des § 29 Abs. 1 BtMG entnommenen Strafe zu gewärtigen. Strafmildernd wäre im Verurteilungsfall hierbei prognostisch zu berücksichtigen, dass die Tat eine Menge von „nur“ 5,3 Gramm Haschisch zum Gegenstand hat, wobei es sich bei dem vorgenannten Betäubungsmittel um ein Cannabisprodukt und damit um eine sog. weiche Droge handelt. Strafschärfend wird voraussichtlich zu bedenken sein, dass der Beschwerdeführer die angebliche Tat unter laufender Bewährung begangen hat und nicht unerheblich vorbestraft ist, wenngleich die letzte Verurteilung wegen eines Betäubungsmitteldelikts aus dem Jahre 2012 datiert. Letztlich dürfte hiernach noch mit einer Strafe im unteren – wenn auch nicht alleruntersten – Bereich des eröffneten Strafrahmens zu rechnen sein, die deutlich unter der als Richtschnur für die Annahme einer notwendigen Verteidigung in der Regel herangezogenen Straferwartung von etwa einem Jahr Freiheitsstrafe liegt.

Die Beschwerde weist zwar zutreffend darauf hin, dass in die anzustellende Rechtsfolgenbetrachtung auch mittelbare schwerwiegende Nachteile, wie etwa der hier drohende Bewährungswiderruf im Hinblick auf die Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr aus dem Gesamtstrafenbeschluss vom 22.02.2018 mit in die Betrachtung einzufließen haben. Ein durch diesen (möglicherweise) zu erwartenden Nachteil drohendes Gesamtstrafübel, welches über die nicht schematisch zu betrachtende „Jahresgrenze“ wesentlich hinausgeht, steht jedoch letztlich nicht zu erwarten. Hiervon geht offenbar auch das Amtsgericht Solingen aus, welches sich in seiner Beschlussbegründung mit diesen durch die Verteidigung dargelegten Umständen freilich nicht äußerlich erkennbar auseinandergesetzt hat.

Sollten sich aus der Hauptverhandlung für das Amtsgericht jedoch weitere schulderhöhende Umstände ergeben, sodass auf Grund einer solchen veränderten Sachlage eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe in Betracht zu ziehen ist, die in Zusammenschau mit dem drohenden Bewährungswiderruf die „Jahresgrenze“ wesentlich überschreitet, wird sich das Amtsgericht die Frage nach dem Vorliegen der Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung erneut – ggf. auch von Amts wegen – zu stellen haben.“

Wie gesagt: M.E. falsch. Die Grenze der Straferwartung liegt auch in den „Gesamtstrafenfällen“ bei einem Jahr. Ich kenne keine Entscheidung, die verlangt, dass die zu erwartende Strafe darüber „wesentlich hinausgehen“ muss. Und die Grenze wird ziemlich starr gesehen. davon kann zwar abgewichen werden, das muss aber begründet werden. Und das tut das LG hier mit keinem Wort.

Das ist in meinen Augen leider mal wieder so eine Entscheidung, bei der man sich fragt, was das soll. Warum gibt man eine gefestigte Rechtsprechung einfach mal so – ohne jede nähere Begründung – auf?

Pflichti I: Bei mehr als einem Jahr drohender Gesamt(geld)strafe gibt es einen Pflichtverteidiger

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Am zweiten „Arbeitstag“ des neuen Jahres will ich dann einige Pflichtverteidigungsentscheidungen !aufarbeiten“, die während meines Urlaubs aufgelaufen sind. Zunächst ist das der LG Braunschweig, Beschl. v. 07.12.2017 – 4 Qs 206/17, der (noch einmal) zur Problematik der Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen „Schwere der Tat“ in den Fällen der (potentiellen) Gesamtstrafenbildung Stellung nimmt:

Dem Angeklagten ist ein Pflichtverteidiger beizuordnen, da die Schwere der Tat dies im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO gebietet. Die Schwere der Tat beurteilt sich v.a. nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung, wobei eine Straferwartung von 1 Jahr in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers gibt. Da eine Gesamtbewertung vorzunehmen ist, gilt diese Grenze für die Straferwartung auch, wenn sie nur wegen einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung erreicht wird (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 60. Auflage, 2017, § 140 Rn. 23 mit weiteren Nachweisen). Dabei ist auch nicht Voraussetzung, dass die andere Strafe bereits ausgeurteilt oder rechtskräftig ist (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 06.01.2017, Az. 4 Ws 212/16, StraFO 2017, 153).

Im vorliegenden Verfahren liegt es – entsprechend den Ausführungen im Beschluss des Amtsgerichts vom 17.11.2017 – aufgrund des Beschlusses des OLG Braunschweigs vom 21.08.2017 im Rahmen der Revisionsentscheidung zwar nahe. dass es lediglich zur Verhängung einer Geldstrafe kommen wird. Gegen den Angeklagten ist jedoch vor dem Schöffengericht des Amtsgerichts Goslar ein weiteres Verfahren mit dem Verbrechensvorwurf des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gem. § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG anhängig (Az. 801 Js 3875/16). Die Tatzeiten im hiesigen Verfahren sind die Nacht vom 04.04.2016 auf den 05.04.2016 sowie der 11.04.2016. Tatzeit im dem Verfahren vor dem Schöffengericht ist ebenfalls der 11.04.2016. Im Falle einer Verurteilung dürfte daher eine nachträgliche Gesamtstrafe zu bilden sein. Zwar ist dem Amtsgericht darin Recht zu geben, dass es sich bei der Grenze für die Straferwartung von 1 Jahr auch bei Gesamtstrafenbildung um keine starre Grenze handelt. Vorliegend besteht jedoch die Besonderheit, dass es sich bei dem gesamtstrafenfähigen Verfahren um eine Anklage vor dem Schöffengericht handelt, dessen Gegenstand ein Verbrechen ist, so dass dort im Falle einer Verurteilung die Verhängung einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr die unterste in Betracht kommende Grenze darstellt. Hinzu kommt, dass auch wenn bei diesem Verfahren „nur“ die Verhängung einer (Gesamt-)Geldstrafe im Raum steht, es sich dabei nicht um völlig geringfügige Delikte handelt, sondern immerhin um den Vorwurf des Diebstahls im besonders schweren Fall – wobei Waren mit einem Gesamtwert von über 1.000,00 € entwendet worden sein sollen – sowie um den Vorwurf der Hehlerei im Hinblick auf ein Fahrrad, welches einen Wert von etwa 500,00 € hatte. Insgesamt droht daher die Bildung einer Gesamtstrafe von über einem Jahr, so dass die Schwere der Tat die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebietet. Gern. § 309 Abs. 2 StPO erlässt das Beschwerdegericht im Falle der Begründetheit der Beschwerde zugleich die in der Sache erforderliche Entscheidung.“