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Pflichti I: Nachträgliche/rückwirkende Bestellung, oder: Derzeit Dauerbrenner

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Heute mache ich dann den ersten Pflichtverteidigungstag 2021. Über die Feiertage habe ich da ein paar Entscheidungen angesammelt.

Ich eröffne die Berichterstattung mit Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers. Das ist sicherlich die Frage, die die Gerichte derzeit am meisten beschäftigt. Dauerbrenner also.

Ich stelle dazu dann aber nur noch die Leitsätze zu den Entscheidungen vor, und zwar:

1. In Anbetracht der Neuregelung der Rechts der Pflichtverteidigung und der damit verbundenen Stärkung der Rechte des Beschuldigten unter Nominierung eines eigenen Antragsrechts gemäß § 141 Abs. 1 StPO kann es besonderen Umständen zulässig sein, auch rückwirkend einen Pflichtverteidiger zu bestellen.
2. Die Staatsanwaltschaft hat einen Beiordnungsantrag gemäß § 142 Abs. 1 Satz 2 unverzüglich zur Entscheidung vorzulegen. Der Staatsanwaltschaft kommt hierbei kein Ermessensspielraum zu, vielmehr ist sie unverzüglich zur Vorlage verpflichtet. Insbesondere spielt es dabei keine Rolle, ob eine etwaige Stellungnahme des Verteidigers Einfluss auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft hätte.

Eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger für ein abgeschlossenes Verfahren ist schlechthin unzulässig und unwirksam und mithin ausgeschlossen.

Die nachträgliche Bestellung eines Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger ist zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gem. § 140 Abs. 1, 2 StPO vorlagen und die Entscheidung durch gerichtsinterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.

Nur kurz dazu.

Beim LG Berlin-Beschluss hätte man als Leitsazu auch nehmen können: Haben wir immer schon so gemacht, machen wir auch weiter so. Wenn schon auf eine Entscheidung des KG von 2103 Bezug genommen wird.

Und dem AG Braunschweig kann man nur empfehlen, sich ggf. doch mal einen neuen Kommentar zu kaufen. Meyer-Goßner/Schmitt, 61. Aufl., 2018, ist vielleicht in den Fragen nicht ganz auf dem Stand der Neuregelung aus 2019. Das Ergebnis des AG ist zwar richtig, die angeführte Rechtsprechung betrifft aber „altes Recht“.

StPO II: Nochmals rückwirkende „Pflichtibestellung“, oder: Niederlegung des Wahlmandats nicht vergessen

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Das zweite Posting enthält auch noch einmal eine Pflichtverteidigungsentscheidung. Ich hätte den LG Würzburg, Beschl. v. 10.11.2020 – 6 Qs 197/20 -, den mir der Kollege Lößel aus Altdorf geschickt hat, auch in die Rechtsprechungsübersicht aufnehmen können. Da wäre er aber vielleicht untergegangen.

Das LG macht zwar Ausführungen zur rückwirkenden Bestellung, die es als unzulässig ansieht. Insofern bringt der Beschluss aber nichts Neues. Er macht aber auch Ausführungen zur Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat , nämlich den Wahlanwalt, der seine Bestellung beantragt. Insoweit verlangt das LG ausdrücklich die Niederlegung des Mandats:

„2. Die sofortige Beschwerde ist in der Sache jedoch nicht begründet.

Zur Überzeugung der Kammer ist vorliegend ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gegeben. Der Beschuldigte befand sich seit 30.07.2020 im Verfahren 105 Js 44481/20 der Staatsanwaltschaft Leipzig in Untersuchungshaft in der dortigen JVA. Der § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO findet auch Anwendung, wenn Untersuchungshaft in anderer Sache vollstreckt wird (so auch OLG Frankfurt a M. NStZ-RR 2011, 19; LG Nürnberg-Fürth StV 2012, 658). Dafür spricht nach neuer Rechtslage, dass weder § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO n.F. noch Art. 4 Abs. 4 RL (EU) 2016/1919 danach differenzieren, in welchem Verfahren die Freiheitsentziehung angeordnet worden ist, sondern eine notwendige Verteidigung bei jeder Inhaftierung bejahen. Weiterhin spricht hierfür auch der Grundgedanke des § 140 Abs.1 Nr. 5 StPO, der Nachteile kompensieren soll, die durch die eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten infolge von Inhaftierung entstehen. Zweck der Pflichtverteidigung ist es, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Beschuldigter in den vom Gesetz bestimmten Fällen rechtskundigen Beistand erhält und dass ein ordnungsgemäßer Verfahrensablauf gewährleistet ist.

Grundsätzlich folgt aus der Notwendigkeit der Verteidigung im Sinne von § 140 StPO noch nicht unmittelbar die Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung; den Zeitpunkt der Bestellung regeln vielmehr die §§ 141, 141a StPO. Das eigene Antragsrecht des Beschuldigten nach § 141 Abs. 1 StPO dient dazu, in zeitlicher Hinsicht die Phase des Strafverfahrens abzudecken, in der § 140 StPO die Verteidigung bereits für notwendig erachtet, aber noch keine Pflicht zur Beiordnung eines Verteidigers von Amts wegen besteht (vgl. Böß, NStZ 2020, 185/188). Wenn die (engen) Vor-aussetzungen des § 141 Abs. 2 StPO vorliegen, bedarf es dagegen keiner Mitwirkungshandlung des Beschuldigten.

Die Bestellung des Pflichtverteidigers hängt gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift vom Antrag des Beschuldigten ab. Ein solcher Antrag wurde Seitens des Beschuldigten gestellt. Mit Schriftsatz vom 11.08.2020 erklärte Rechtsanwalt pp., mit der Verteidigung des Beschuldigten beauftragt worden zu sein, und beantragte vor dem Hintergrund der erfolgten Inhaftierung des Beschuldigten seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. In diesem Fall liegt im Verhältnis zum Beschuldigten ein Geschäftsbesorgungsvertrag gemäß § 675 BGB vor. Damit handelte der Verteidiger ausweislich seines Schriftsatzes vom 11.08.2020 erkennbar für den Beschwerdeführer. Als beauftragter Verteidiger hat er die Stellung eines Vertreters; seine Anträge und Willenserklärungen sind dem Betroffenen somit zuzurechnen, § 164 Abs. 1 BGB. Der Vorlage einer schriftlichen Vollmacht bedarf es dabei nicht (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Auflage 2020, Schmitt, vor § 137 Rn. 9 m.w.N.). Insoweit sind die Voraussetzungen eines Antrags des Beschuldigten im Sinne von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO zunächst erfüllt.

Jedoch ist nach dem klaren Wortlaut des § 141 Abs.1 S. 1 StPO trotz eines Antrags des Beschuldigten eine Pflichtverteidigerbestellung nur dann unverzüglich erforderlich, wenn der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat. Einzige Ausnahme ist insoweit die Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers, sofern die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 vorliegen. Auch der bisherige Wahlverteidiger kann zum Pflichtverteidiger bestellt werden. Voraussetzung ist hierbei jedoch, dass der Wahlverteidiger die Niederlegung seines Mandats für den Fall der beantragten Bestellung ankündigt (vgl. OLG Oldenburg NJW 2009, 3044; BT-Drs. 19/13829, 36). Fehlerhaft ist es dagegen, den Wahlverteidiger ohne Antrag und ohne Ankündigung der Mandatsniederlegung zu bestellen (h .M., vgl. hierzu Meyer-Goßner, Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, § 141 Rn. 2, BeckOK StPO/Krawczyk, StPO § 141 Rn. 2; Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 4. Auflage 2017, Rn. 2-4), da dies dem klaren Wortlaut von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO und dem darin zum Ausdruck kommenden Vorrang der Wahlverteidigung vor der Pflichtverteidigung widersprechen würde.

Vorliegend beantragte der Verteidiger zwar seine unverzügliche Beiordnung als Pflichtverteidiger, kündigte jedoch gerade nicht an, im Fall der Bestellung das Wahlmandat niederlegen zu wollen. Da der Beschuldigte somit im Zeitpunkt der Antragstellung am 11.08.2020 bereits einen Verteidiger hatte, war eine unverzügliche Verteidigerbestellung auf Antrag nach § 141 Abs.1 S.1 StPO nicht erforderlich, da gerade nicht alle Voraussetzungen der Vorschrift vorlagen.

Vielmehr ist vorliegend ein Fall des § 141 Abs. 2 S. Nr. 2 StPO gegeben. Unabhängig von einem Antrag des Beschuldigten, der vorliegend daran scheitert, dass dieser bereits einen Verteidiger hatte, ist ihm von Amts wegen ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn er sich aufgrund richterlicher Anordnung in Haft befindet. Diese Voraussetzungen waren vor dem Hintergrund der Inhaftierung des Beschuldigten im Verfahren der Staatsanwaltschaft Leipzig erfüllt.

Zur Überzeugung der Kammer konnte die Bestellung jedoch aufgrund der Ausnahmevorschrift des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO in der vorliegenden Konstellation unterbleiben. Die Ausnahmevorschrift bezieht sich auf den hier vorliegenden Fall der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO. Auch inhaltlich sind die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift erfüllt. Dies ist der Fall, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine weiteren Un-tersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauszügen oder die Beiziehung von Akten oder Dokumenten vorgenommen werden soll. Vorliegend wurde der Beschuldigte am 30.07.2020 inhaftiert, was der Verteidiger am 11.08,2020 mitteilte. Zum Zeitpunkt der Inhaftierung waren die Ermittlungen bereits abgeschlossen, der polizeiliche Ermittlungsbericht (BI. 48 ff. d.A.) datiert vom 14.07.2020. Weitere Untersuchungen waren damit weder erforderlich noch wurden diese nach Inhaftierung des Beschuldigten noch vorgenommen. Die Akte ging sodann am 21.09.2020 bei der Staatsanwaltschaft Würzburg ein, wo am 22.09.2020 der zuständige Staatsanwalt eine Abschrift des Haftbefehls bei der Staatsanwaltschaft Leipzig anforderte, welche am 28.09.2020 einging. Weitere Untersuchungshandlungen außer der Beiziehung des Haftbefehls wurden hier nicht mehr getätigt. Am 29.09.2020 stellte die Staatsanwaltschaft Würzburg sodann das Ermitt¬lungsverfahren gegen den Beschuldigten gemäß § 154 Abs.1 StPO im Hinblick auf das Verfahren 105 Js 44481/20 der Staatsanwaltschaft Leipzig ein. Die Voraussetzungen der Ausnahmevor¬schrift des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO sind damit zur Überzeugung der Kammer erfüllt.

Die Kammer vertritt auch weiterhin die Auffassung, dass die nachträgliche Beiordnung eines Verteidigers nach dem endgültigen Abschluss eines Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommt und ein entsprechender Antrag unzulässig ist, da die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht dem Kosteninteresse des Beschuldigten oder seines Verteidigers dient, sondern allein dem Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Beschuldigter in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird (so auch OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.03.2020, Az. 1 Ws 19/20, 1 Ws 20/20).

Die Frage, ob im Hinblick auf die Intention des Gesetzgebers zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (vgl. Bundestag-Drucksache 19/13829 und Bundestag-Drucksache 19/15151) eine rückwirkende Bestellung ausnahmsweise zulässig ist, wenn der Antrag auf Bei-ordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1, Abs. 2 StPO vorlagen und die Entscheidung durch interne Vor-gänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte, kann im vorliegenden Fall dahinstehen, da bereits die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO vorliegen, so dass es auf diese Frage nicht mehr ankommt.“

Das mit „einen Verteidiger hat“ hätte man m.E. auch anders entscheiden können und wird ja auch teilweise anders gesehen. Aber man will offenbar nicht. Das bedeutet für den Verteidiger: Niederlegung nicht vergessen.

StPO I: Rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers, oder: Eine kleine Rechtsprechungsübersicht

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Ich stelle heute dann StPO-Entscheidungen vor, und zwar vornehmlich Pflichtverteidigungsentscheidungen vor. Da hat sich in den letzten Wochen einiges angesammelt, was mir die Kollegen geschickt haben. Allen besten Dank.

Zunächst kommen Entscheidungen zur Frage der rückwirkenden Beiordnung. Da es so viel ist, mache ich hier mal nur eine kleine Rechtsprechungsübersicht. Unterteilt in: „Pro“ und „Contra“.

Ja, inzwischen gibt es einige Entscheidungen, die entgegen der wohl h.M. die rückwirkende Bestellung ablehnen. Teilweise hat man zumindest den Versuch einer Begründung unternommn, die sich aber letztlich immer nur auf das Argument: „Pflichtverteidigung dient nicht dem Kosteninteresse des Verteidigers“ zurückzieht. Und dann wird häufig auch nur alte Rechtsprechung bzw. Rechtsprechung zum neuen Recht zitiert, die sich selbst dann nur auf alte Rechtsprechung bezieht. Nicht so toll. Wenn man schon ablehnt, sollte man es vielleicht mal mit neuen Argumenten versuchen und nicht nur das Mantra der OLG zum alten Recht wiederholen.

Hier dann also:

Pro rückwirkende Bestellung

Contra rückwirkende Bestellung

Pflichti I: Nochmals rückwirkende Beiordnung, oder: Mehr als ein Monat muss für die Bestellung reichen

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Heute ist dann ein Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Und ich starte mit Entscheidungen zur rückwirkenden Beiordnung. Das ist derzeit der Daruerbrenner bzw. hier liegt m.E. der Schwerpunkt der Rechtsprechung. Zunächst stelle ich jetzt die positiven Entscheidungen vor, die mir in der letzten Zeit geschickt worden sind bzw. auf die ich gestoßen bin.

Aufhänger des Posts ist der LG Aurich, Beschl. v. 05.05.2020 – 12 Qs 78/20. Das AG hatte den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger bestellt. Dagegen die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, zu der das LG meint:

„Das Amtsgericht Aurich hat in seinem Beschluss vom 02.04.2020 zu Recht dem Beschuldigten A. J. K. Herrn Rechtsanwalt A. als notwendigen Verteidiger bestellt. Die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 StPO liegen vor.

Um Wiederholungen zu vermeiden, wird zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des angefochtenen Beschlusses verwiesen.

Nachdem am 03.02.2020 die Wohnung des Beschuldigten aufgrund eines Verdachts der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG durchsucht und der Beschuldigte über den Tatvorwurf belehrt worden war, beantragte sein Verteidiger, Herr Rechtsanwalt A. mit Schreiben vom 10.02.2020 Akteneinsicht, seine Beiordnung als Pflichtverteidiger und erklärte, dass er sein Wahlmandat im Falle einer Beiordnung niederlegen werde. Mit Verfügung vom 18.02.2020 gewährte die Staatsanwaltschaft dem Verteidiger Akteneinsicht, eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag durch das zuständige Amtsgericht Aurich erfolgte nicht. Am 11.03.2020 stellte der Verteidiger erneut den Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger und beantragte zudem die Weiterleitung an das zuständige Gericht. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO erfolgte am 13.03.2020 durch die Staatsanwaltschaft Aurich sowie der formlose Hinweis an den Verteidiger, dass die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß §§ 141, 142 StPO nicht vorliegen, woraufhin der Verteidiger mit Schriftsatz vom 30.03.2020 gerichtliche Entscheidung gemäß § 142 Abs. 4 S. 3 StPO beantragte. Das Amtsgericht Aurich bestellte Rechtsanwalt A. mit Beschluss vom 02.04.2020 als notwendigen Verteidiger.

Die Kammer ist der Auffassung, dass zum Zeitpunkt der Antragstellung am 10.02.2020 ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO vorlag. Darüber hinaus waren auch die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 StPO gegeben.

Soweit in dem Wortlaut des § 141 Abs. 1 StPO von einem Beschuldigten, „der noch keinen Verteidiger hat“, die Rede ist, so vermag dies das Vorliegen der Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nicht entfallen zu lassen. Denn auch der bisherige Wahlverteidiger kann zum Pflichtverteidiger bestellt werden, wenn dieser die Niederlegung – wie im vorliegenden Fall – für den Fall der beantragten Bestellung ankündigt (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 20.04.2009 – 1 Ws 235/09; BeckOK, StPO, § 141, Rn. 2).

Ebenso der Umstand, dass das Ermittlungsverfahren zwischenzeitlich eingestellt worden ist, hindert die Bestellung die Beiordnung nicht. Zwar vertritt auch die Kammer die Auffassung, dass die nachträgliche Beiordnung eines Verteidigers nach dem endgültigen Abschluss eines Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommt und ein entsprechender Antrag unzulässig ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 141, Rn. 8 m. w. N.). Im Hinblick auf die Intention des Gesetzgebers zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (vgl. Bundestag-Drucksache 19/13829 und Bundestag-Drucksache 19/15151) muss eine rückwirkende Bestellung allerdings ausnahmsweise zulässig sein, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1, Abs. 2StPO vorlagen und die Entscheidung durch interne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte (vgl. LG Mannheim, Beschluss vom 26.03.2020 – 7 Qs 11/20; LG Magdeburg, Beschluss vom 20.02.2020 – 29 Qs 2/20).

So liegt der Fall hier: Der Beiordnungsantrag ist eine Woche nach der durchgeführten Durchsuchung beim Amtsgericht und zwei Tage danach bei der Staatsanwaltschaft eingegangen. Zwischen dem Eingang des Antrages und der Einstellung des Ermittlungsverfahrens ist mehr als 1 Monat vergangen, ohne dass der Antrag beschieden wurde. Eine Weiterleitung an das zuständige Gericht erfolgte erst nach Eingang des dritten Schriftsatzes des Verteidigers vom 30.03.2020. Dies steht insbesondere mit der Regelung des § 142 Abs. 1 StPO in Widerspruch, wonach ein Antrag des Beschuldigten nach § 141 Abs. 1 S. 1 StPO durch die Staatsanwaltschaft unverzüglich mit einer Stellungnahme dem zuständigen Gericht vorzulegen ist.

Weiterhin hat das das Amtsgericht in seinem angefochtenen Beschluss zutreffend ausgeführt, dass die angenommene Unzulässigkeit einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung nicht ausnahmslos gelten dürfe. „Der Gesetzgeber sieht gegen die Versagung einer Beiordnung ein Rechtsmittel vor. Die dem Beschuldigten hierdurch kraft Gesetzes gewährte Überprüfungsmöglichkeit darf ihm nicht dadurch entzogen werden, dass der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung durch Einstellung des Verfahrens überholt wird.“

M.E. zutreffend und wird hoffentlich die Staatsanwaltschaften dazu anhalten, entsprechende Anträge zeitnah vor Verfahrenseinstellung zu bescheiden. Sonst könnte ja tatsächlich noch der Eindruck entstehen, man verzögere bewusst 🙂 .

Zu Thematik ebenfalls ähnlich geäußert haben sich:

Nicht zum Pflichtverteidiger bestellt – aber trotzdem Gebühren?

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Um ein obergerichtliches „Mantra“ handelt es sich m.E. bei der Frage nach der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger, eine für den Verteidiger für seine Gebühren ggf. wichtige Frage. Denn nur, wenn er bestellt worden ist, kann er nach § 45 RVG seine gesetzlichen Gebühren gegen die Staatskasse geltend machen. Nicht selten wird aber in der Hektik eines Verfahrens übersehen, dass zwar ein Beiordnungsantrag gestellt, dieser aber nicht beschieden worden ist. Häufig fällt das erst in Zusammenhang mit der Vergütungsfestsetzung auf, wenn der Kostenbeamte – mehr oder weniger freundlich/freudig – mitteilt: Keine Beiordnung, daher auch keine Vergütungsfestsetzung möglich. Und dann wird auf den Beiordnungsantrag hingewiesen. I.d.R. erhält der Verteidiger dann aber die Nachricht: Rückwirkende Beiordnung ist nicht zulässig, denn die Pflichtverteidigung dient nicht dem Kosteninteresse des Rechtsanwalts, sondern soll eine ordnungsgemäße Verteidigung sicherstellen. Dann ist Holland in Not und es stellt sich die Frage: Was tun bzw.: Wie kann man argumentieren?

M.E. bringt es in der Situation nicht (mehr) viel, gegen die Rechtsprechung der (Ober)Gerichte zur Unzulässigkeit der rückwirkenden Bestellung noch einmal Sturm zu laufen. Wie gesagt: Obergerichtliches Mantra, von dem die OLG kaum noch abweichen werden (vgl. dazu mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 6. Aufl., 2013, Rn. 2326 ff.). Es heißt also nach einem Ausweg suchen.

Und es gibt einen. Denn die obergerichtliche Rechtsprechung verneint zwar die Zulässigkeit der nachträglichen Bestellung, zeigt aber einen Auswegen´aus der misslichen Situation weist, den inzwischen auch der BGH immer wieder geht (vgl. u.a. BGH BGH NStZ-RR 2009, 348 und BGH NStZ 2008, 117; StraFo 2006, 456; 2015, 37). Nämlich die Frage/den Weg, ob der Rechtsanwalt nicht ggf. stillschweigend beigeordnet worden ist (s. auch BGH StRR 2010, 29). So jetzt vor kurzem auch noch einmal das OLG Stuttgart im OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.02.2015 – 1 ARs 1/15 in Zusammenhang mit der Gewährung einer Pauschgebühr nach § 51 RVG. Denn:

Deshalb hält der Senat es in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem das Gericht die Mitwirkung des Verteidigers unter Übergehung seines deutlichen und unübersehbaren und nicht etwa versteckten Beiordnungsantrags für opportun hält, für zielführender, entsprechend der Rechtsprechung des BGH (aaO) eine schlüssige Bestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung anzunehmen, wenn die konkreten Umstände des Einzelfalles dies nahelegen. Solchermaßen kann dem Gedanken der unbilligen Vergütung bei vorangegangener Schaffung eines „Vertrauenstatbestands“ durch den Tatrichter in angemessener Weise Rechnung getragen werden.

Solches kann vorliegend angenommen werden, da die Strafvollstreckungskammer den Antragsteller am weiteren Verfahren beteiligt und nie zum Ausdruck gebracht hat, dass er seine weitere Tätigkeit auf eigenes Kostenrisiko erbringe.

Fazit: An dieser Möglichkeit/diesen Weg sollte der Verteidiger in diesen Fällen also immer denken, wenn seine Tätigkeiten als nicht bestellter Rechtsanwalt „widerspruchslos“ vom Gericht hingenommen werden/worden sind. Voraussetzung ist aber, dass der Bestellungantrag vor Abschluss des Verfahrens gestellt worden ist (LG Halle StV 2011, 667).

Unabhängig von dem (Aus)Weg über eine konkludente Bestellung: Jeder Rechtsanwalt sollte, wenn er seine Bestellung als Pflichtverteidiger beantragt hat, darauf achten, dass über den Antrag vor Abschluss des Verfahrens – also spätestens in der Hauptverhandlung – entschieden wird. Die bis dahin erbrachten Tätigkeiten gehen nicht verloren. Da hilft § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG, und zwar ggf. auch bei der Pauschgebühr (vgl. § 51 Abs. 1 Satz 4 RVG).