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Revision II: 300 Seiten Begründung der Verfahrensrüge, oder: Die Verfahrensrüge ist keine „Nacherzählung“

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Als zweite Revisionsentscheidung weise ich dann auf den BGH, Beschl. v. 24.10.2022 – 5 StR 184/22 – hin. Es geht um die Revision gegen ein Urteil des LG Berlin , mit dem der 5. Strafsenat des BGH die Revisionen eines Kaufmanns, zweier Brüder, die in den 1980er Jahren aus dem Libanon nach Berlin gekommen waren, und eines Rechtsanwalts gegen ein Berliner Urteil verworfen, mit dem diese wegen Urkundenfälschung, Betrugs und mittelbarer Falschbeurkundung zu Freiheitsstrafen von drei Jahren und sechs Monaten bis sechs Jahren und neun Monaten verurteilt worden sind (wegen der Einzelheiten des Vorverfahrens hier die PM 157/22 des BGH).

Gegen die Verurteilung waren Verfahrensrügen erhoben worden. Dazu führt der BGH u.a. aus:

„Ergänzend zu der Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:

Die von dem Angeklagten G. unter der Überschrift „Verletzung von §§ 24, 74, 147, 230, 337, 338 Nr. 3, 5 StPO, Art. 6 Abs. 1 EMRK“ erhobenen Verfahrensrügen erweisen sich als unzulässig, weil sie nicht in der nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotenen Form erhoben sind. Unter der genannten Überschrift wird zunächst ohne jegliche Differenzierung nach der Stoßrichtung der einzelnen Beanstandungen über mehr als 300 Seiten ein Verfahrenssachverhalt geschildert, der sich über mehrere Monate in der Hauptverhandlung zugetragen habe; dabei wird eine Vielzahl von Anträgen, Stellungnahmen, Beschlüssen und weiteren Unterlagen zitiert. Ab Seite 328 der Revisionsbegründung wird sodann in jeweils kurzen rechtlichen Begründungen zu einzelnen Beanstandungen ohne konkrete Bezugnahme auf Blattzahlen lediglich auf einige der wiedergegebenen Beschlüsse, Protokollstellen oder Gutachten Bezug genommen. Damit genügt das Rügevorbringen nicht den Anforderungen, die an einen ordnungsgemäßen Revisionsvortrag zu stellen sind. Dafür reicht es nicht, die für unterschiedliche Beanstandungen möglicherweise relevanten Verfahrenstatsachen im Sinne einer Nacherzählung der Hauptverhandlung zu referieren, denn es ist nicht die Aufgabe des Revisionsgerichts, sich aus einem umfangreichen Konvolut von Unterlagen das für die jeweilige Rüge Passende herauszusuchen und dabei den Sachzusammenhang selbst herzustellen; stattdessen wäre es erforderlich, bezogen auf die konkrete Rüge (lediglich) den insoweit relevanten Verfahrensstoff mitzuteilen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 14. Mai 2020 – 5 StR 672/19, NStZ 2020, 625 mwN; vgl. auch BGH, Beschluss vom 13. Mai 2020 – 4 StR 533/19, NStZ 2021, 178, 179 mwN; Herb, NStZ-RR 2022, 97, 98). Ungeachtet dessen bleibt den Rügen aber auch aus den vom Generalbundesanwalt genannten Gründen der Erfolg versagt….“

Das war dann mal wieder der jährliche Rufe des BGH: „Schreibt nicht so viel und schreibt nur das, was notwendig ist.“

StPO III: Verteidiger mit unleserlicher Handschrift, oder: Leseabschrift bei der Revisionsbegründung?

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Und als dritte Entscheidung dann noch der BGH, Beschl. v. 13.09.2022 – 5 StR 299/22 – der zu kurz und knapp allgemein zu Verfahrensrügen Stellung nimmt und dann auch noch etwas zur Aufklärungsrüge ausführt, nämlich:

„1. Soweit Verfahrensrügen unter Vorlage handschriftlich verfasster Anträge ohne Leseabschrift geführt werden, weist der Senat im Einklang mit dem Generalbundesanwalt darauf hin, dass in unleserlicher Form mitgeteilte Verfahrenstatsachen zur Unzulässigkeit der Rüge führen (vgl. BGH, Urteil vom 3. Oktober 1984 – 2 StR 166/84, BGHSt 33, 44).

2. Die unter Vorlage verschiedener Beweisanträge geltend gemachte Rüge einer Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) ist unzulässig, da der Senat dem Revisionsvorbringen die bestimmte Behauptung dem Strengbeweis unterliegender Beweistatsachen nicht hinreichend entnehmen kann (vgl. zur Vortragspflicht bei Aufklärungsrügen BGH, Beschluss vom 9. Januar 2018 – 3 StR 605/17, NStZ-RR 2018, 116).“

Den „Mangel“, den der BGH unter 1. „rügt“ kann man als Verteidiger schnell und einfach vermeiden, indem man der Revisionsbegründung eine Leseabschrift seiner Anträge beifügt. Und zwar m.E. immer. Denn über die Frage, was (noch) leserlich ist, kann man sicherlich streiten. Man kann auf diese Weise ein erstes Einfallstor für die Zurückweisung einer Revision gut vermeiden.

Wiedereinsetzung II: Nachholung von Verfahrensrügen, oder: Revisionsbegründung beim Rechtspfleger

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Die zweite Entscheidung kommt dann auch vom BGH. Im BGH, Beschl. v. 30.03.2022 – 2 StR 64/21 –, also schon etwas älter, geht es um die Frage der Nachholung von Verfahrensrügen.

Das LG hatte den den Angeklagten wegen „Betrugs in 24 Fällen, davon in 4 Fällen wegen Versuchs“ verurteilt. Dagegen richtet sich die mit der Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründete Revision des Angeklagten. Ferner hat der Angeklagte die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist zur Nachholung von Verfahrensrügen beantragt. Der BGH hat den Antrag als unzulässig zurückgewiesen:

„1. Der Wiedereinsetzungsantrag des Angeklagten vom 1. Juni 2021 ist bereits deshalb unzulässig, weil der Angeklagte nicht innerhalb der Wochenfrist nach Wegfall des Hindernisses (§ 45 Abs. 1 und Abs. 2 StPO) die von ihm versäumte Handlung, hier die Anbringung der mit Schriftsatz vom 19. Oktober 2020 erhobenen Verfahrensrügen, in der von § 345 Abs. 2 StPO vorgegebenen Form nachgeholt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 2 StPO). Ferner mangelt es an einer Glaubhaftmachung der den Antrag begründenden Tatsachen (§ 45 Abs. 2 Satz 1 StPO).

2. Die vom Angeklagten persönlich mit Schriftsatz vom 19. Oktober 2020 vorgetragenen Verfahrensrügen sind von ihm am 21. Oktober 2020 nicht wirksam zu Protokoll der Geschäftsstelle erklärt worden (§ 345 Abs. 2 StPO), so dass diese nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden sind.

a) Die Beteiligung der die Erklärung aufnehmenden Gerichtsperson darf sich nicht in einer formellen Beurkundung des von einem Angeklagten Vorgebrachten erschöpfen; diese muss sich vielmehr an der Anfertigung der Revisionsbegründung gestaltend beteiligen und die Verantwortung für deren Inhalt übernehmen, damit die von ihr beurkundete Erklärung Eingang in das Revisionsverfahren finden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Juni 1996 – 3 StR 88/96, NStZ-RR 1997, 9). Dabei darf kein Zweifel bestehen, dass sie die volle Verantwortung für den Inhalt der Schrift übernommen hat; andernfalls ist die Revisionsbegründung unwirksam (vgl. BGH, Beschluss vom 17. November 1999 – 3 StR 385/99, BGHR StPO § 345 Abs. 2 Begründungsschrift 6). Es genügt daher regelmäßig nicht, dass in einer Revisionsbegründung auf eigene schriftliche Ausführungen des Angeklagten Bezug genommen bzw. die Begründungsschrift zum Inhalt der Niederschrift erklärt wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. Juni 1996 – 3 StR 88/96, aaO; vom 22. Januar 1988 – 3 StR 533/87, BGHR StPO § 345 Abs. 2 Begründungsschrift 2; BayObLG, NStZ-RR 1996, 312, jeweils mwN).

b) Letzteres ist hier der Fall. Zwar weist das Protokoll vom 21. Oktober 2020 aus, dass die von dem Angeklagten verfasste neunseitige Revisionsbegründung „von der unterzeichnenden Rechtspflegerin geprüft und die Form als zweckmäßig erachtet“ worden ist. Andererseits enthält das Protokoll den Hinweis, dass die Rechtspflegerin „aufgrund der Corona-Pandemie und des daraus folgenden Gebots der Minimierung von Kontakten […] darauf verzichtet (hat), die Begründung des Erschienenen aufzunehmen“. Die als Anlage der Erklärung zu Protokoll der Rechtsantragsstelle beigefügte ? juristisch laienhafte ? Revisionsbegründung, die keinerlei Modifikation durch die Rechtspflegerin erfahren hat, offenbart grundsätzliche Missverständnisse des Verfahrensablaufs. Teilweise lässt das Vorbringen keinen Bezug zum Revisionsverfahren erkennen. Angesichts dessen bestehen erhebliche Zweifel, dass die Rechtspflegerin gestaltend an der Revisionsbegründung mitgewirkt und die volle Verantwortung für deren Inhalt übernommen hat (vgl. zur Verantwortungsübernahme durch einen Verteidiger BGH, Beschluss vom 17. November 1999 – 3 StR 385/99, BGHR StPO § 345 Abs. 2 Begründungsschrift 6; vgl. auch Nr. 150 RiStBV).

c) Der Angeklagte ist hierauf sowie auf die Möglichkeit eines weiteren Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand und die Unzulässigkeit seines bisherigen Wiedereinsetzungsantrags vom 1. Juni 2021 durch Schreiben des Senatsvorsitzenden vom 17. Januar 2022 hingewiesen worden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. September 2006 – 2 BvR 1612/06, juris Rn. 6 f. und 9). Einen weiteren Wiedereinsetzungsantrag hat er nicht gestellt.“

beA I: beA/elektronisches Dokument im Strafverfahren, oder: Revisions(Begründung), Vollstreckung, Einspruch

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Ich beginne die 27. Woche, in der ich wieder „vor Ort“ bin, mit einigen Entscheidungen zum beA/elektronischen Dokument, und zwar zunächst mit Entscheidungen aus dem Strafverfahren. Und da ist einiges aufgelaufen – zum Teil Selbstverständlichkeiten, aber immerhin.

Hinzuweisen ist auf:

Auch eine mittels elektronischem Dokument übermittelte Revisionsbegründung des Pflichtverteidigers muss von dem beigeordneten Verteidiger signiert sein und darf mithin nicht „in Vertretung für Rechtsanwalt ….. “ durch einen anderen Rechtsanwalt signiert worden sein.

Bei der seit dem 01.01.2022 geltenden Vorschrift des § 32d Satz 2 StPO handelt es sich um eine Form- und Wirksamkeitsvoraussetzung der jeweiligen Prozesshandlung, welche bei Nichteinhaltung deren Unwirksamkeit zur Folge hat.

Mit Eingang der per beA versandten Einspruchsrücknahme auf dem Server des Gerichts tritt Rechtskraft des Strafbefehls und damit ein von Amts wegen zu berücksichtigendes Verfahrenshindernis ein, durch das sich das gerichtliche Verfahren von selbst erledigt hat. Darauf, dass dem eine Hauptverhandlung durchführenden Richter die Rücknahme des Einspruchs unbekannt geblieben ist, kommt es insoweit nicht.

Die Staatsanwaltschaft trifft gegenüber dem jeweiligen Vollstreckungsorgan aus § 130d ZPO eine Nutzungspflicht hinsichtlich der elektronischen Übermittlungswege für Vollstreckungsaufträge.

Und heute Mittag dann Entscheidungen aus dem Bußgeldverfahren.

StPO II: Hinweispflicht nach Veränderung der Sachlage, oder: Anforderungen an die Revisionsbegründung

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Als zweite Entscheidung dann der OLG Hamm, Beschl. v. 13.01.2022 – 5 RVs 4/22 – zur Hinweispflicht in den (neuen) Fällen des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO und zu den Anforderungen an die Revisionsbegründung.

Das AG hat den Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz verurteilt. Soweit es den Angeklagten verurteilt hat, hat es folgende Feststellungen getroffen: „Im Herbst 2019 fiel auf, dass der Angeklagte ein Auto auf seinen Namen angemeldet hatte. Insoweit entstand der Verdacht auf Seiten des Ausländeramtes A, dass der Angeklagte möglicherweise doch Papiere hatte, da diese für die Anmeldung des PKW üblicherweise vorgelegt werden müssen.“

Daher erwirkte das Ausländeramt A beim AG Gladbeck einen Durchsuchungsbeschluss, der am 19.09.2019 erteilt wurde für die Wohnung des Angeklagten, um Identifikationspapiere oder sonstige Urkunden und Unterlagen, die Hinweise auf die Identität oder Staatsangehörigkeit des Betroffenen geben könnten, aufzufinden und sicherzustellen. Der Durchsuchungsbeschluss wurde in der Hauptverhandlung.

Am 15.11.2019 begaben sich die Zeugen B und C zur Wohnung des Angeklagten und führten dort die Durchsuchung durch. Zuvor fragten sie den Angeklagten ausdrücklich danach, ob er im Besitz von Urkunden oder Identifikationsunterlagen wäre, was der Angeklagte verneinte. Im Rahmen der Durchsuchung wurde zunächst ein Führerschein des Angeklagten aufgefunden und bis zum Abschluss der Maßnahme in einer Mappe des Ausländeramtes abgelegt, um diesen sicherzustellen. Des Weiteren wurde eine auf Arabisch verfasste Urkunde aus dem Libanon aufgefunden, die sich später als Heiratsurkunde des Angeklagten herausstellte. Der Angeklagte, der dies bemerkte, riss den Zeugen die Heiratsurkunde aus der Hand, zerriss die Urkunde und warf die Fetzen der Urkunde aus dem Fenster der Wohnung. Fragmente der Urkunde sind sodann durch die Zeugin B sichergestellt worden und die Urkunde wurde weitestmöglich rekonstruiert und in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen. Es handelte sich dabei tatsächlich um eine Heiratsurkunde. Die Urkunde wurde übersetzt, soweit sie noch leserlich war und im Termin verlesen. Der Angeklagte gab dazu an, die Urkunde erst nach 2016 von Angehörigen erhalten zu haben.“

Gegen das Urteil des AG wendet sich der Angeklagte mit der Sprungrevision. Er rügt eine Verletzung des § 265 StPO, weil der Tatvorwurf, aufgrund dessen letztlich die Verurteilung erfolgte, nicht von der Anklageschrift umfasst gewesen und auch kein rechtlicher Hinweis nach § 265 StPO erteilt worden sei. Die Revision hatte Erfolg:

„2. Die Revision dringt mit der hinreichend i.S.v. § 344 Abs. 2 StPO ausgeführten Verfahrensrüge durch.

a) Für die Prüfung der Erforderlichkeit des Hinweises war hier nicht darzulegen, ob der Angeklagte durch den Gang der Hauptverhandlung über die Veränderung der Sachlage bereits hinreichend unterrichtet war und ein ausdrücklicher Hinweis deswegen unterbleiben konnte (vgl. insoweit BGH – 5. Strafsenat – NStZ 2019, 239, 240). Anders als in der zitierten Entscheidung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofes geht es vorliegend nicht lediglich um die Unterrichtung des Angeklagten über die vom Gericht gezogenen Konsequenzen aus einem erhobenen Entlastungsbeweis, sondern unmittelbar um eine Änderung der Tatsachenbasis, denn die der Verurteilung zu Grunde liegende eigentliche Handlung (die Verneinung der Frage nach relevanten Urkunden bei der Hausdurchsuchung trotz Vorhandenseins einer Heiratsurkunde) war in der Anklageschrift nicht erwähnt. Bei einer solchen Veränderung der Sachlage bedarf es eines Revisionsvorbringens hinsichtlich einer etwaigen anderweitigen Unterrichtung des Angeklagten durch den Gang der Hauptverhandlung nicht (BGH – 3. Strafsenat – NStZ 2019, 236, 237 m. zust. Anm. Gubitz; BGH – 1. Strafsenat – NStZ 2019, 747; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 265 Rdn. 24; offengelassen: BGH – 4. Strafsenat – NStZ-RR 2021, 346). Da der Gesetzgeber mit dem Verweis in § 265 Absatz 2 auf Absatz 1 StPO auch auf die Erforderlichkeit eines „besonderen“ Hinweises, also eines ausdrücklichen Hinweises, Bezug genommen hat und aus den Gesetzesmaterialien nicht erkennbar wird, dass er lediglich die entsprechende Rechtsprechung zu § 265 StPO a.F. in Gesetzesform bringen wollte (vgl. Gubitz NStZ 2019, 238), reicht die Information des Angeklagten bzgl. der veränderten Sachlage durch den bloßen Gang der Hauptverhandlung regelmäßig nicht aus (vgl. BGH NStZ 2020, 97; Windsberger jurisPR-StrafR 11/2020 Anm. 2; aA: Arnoldi NStZ 2020, 99, 101; Schlosser NStZ 2020, 267, 270), so dass dementsprechend hierzu auch in der Rechtsmittelbegründung nichts vorgetragen werden muss. Die Voraussetzung in § 265 Abs. 1 Nr.3 StPO, dass der Hinweis zur genügenden Verteidigung „erforderlich“ sein muss, bezieht sich demnach nicht auf die Form der Information (durch „besonderen Hinweis“ oder durch den Gang der Hauptverhandlung), sondern auf die Bedeutung der Änderung der Sachlage für Reaktionen des Angeklagten im Rahmen seiner Verteidigung (vgl. BT-Drs. 18/11277 S. 37).

Dass die Revision nichts dazu vorgetragen hat, warum der Angeklagte durch das Unterlassen des Hinweises in seiner Verteidigung beschränkt war und wie er sein Verteidigungsverhalten nach erfolgtem Hinweis anders hätte einrichten können, ist im vorliegend Fall ebenfalls unschädlich. Ein solcher Vortrag ist zwar im Regelfall zu verlangen (BGH NStZ 2019, 239), Es handelt sich nicht um grundsätzlich nicht erforderlichen Vortrag allein zur Beruhensfrage (so aber: Eschelbach in: Graf, StPO, 4. Aufl. § 265 Rdn. 82). Denn Anwendungsvoraussetzung des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO ist (u.a.), dass der Hinweis auf die veränderte Sachlage zur genügenden Verteidigung des Angeklagten „erforderlich“ ist (vgl. Ceffinato JR 2020, 6, 13). Allerdings kann ein Vortrag zur Erforderlichkeit dann unterbleiben, wenn sich diese von selbst versteht (BGH NStZ 2019, 239, 240). So verhält es sich aber hier. Bei dieser den Kernbereich des Tatgeschehens betreffenden Änderung der Sachlage erfordert eine genügende Verteidigung des Angeklagten, ihm die Möglichkeit zu eröffnen, zu erwägen ob er Beweisanträge stellt, etwa (vgl. unten) auf Vernehmung weiterer bei dem sich als neue Sachlage darstellenden Tatgeschehen anwesender Zeugen.

b) Die Rüge ist auch begründet. Das Amtsgericht hat die Hinweispflicht nach § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO verletzt. Mit der zugelassenen Anklage vom 12.03.2020 war dem Angeklagten ein Verstoß gegen § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (a.F.) sowie ein Verstoß gegen § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zur Last gelegt worden. Der Angeklagte soll am 12.01.2016 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sein und bei seiner Anhörung am 14.10.2016 angegeben haben, dass alle Personenstandsurkunden auf der Reise abhandengekommen seien. Tatsächlich sei bei einer Hausdurchsuchung am 15.11.2019 bei ihm aber eine Heiratsurkunde gefunden worden, die er zerrissen habe. Nachdem der gestellte Asylantrag seit dem 26.07.2019 rechtskräftig abgelehnt worden sei, sei er seit dem 27.08.2019 vollziehbar ausreisepflichtig gewesen, habe sich aber seitdem illegal im Bundesgebiet aufgehalten. Als Tatort wird in der Anklageschrift „A“ angegeben, als Tatzeit „am 14.10.2016 sowie seit dem 27.08.2019“. Das Amtsgericht sah diese Vorwürfe aber nicht als erwiesen an, weil es die Einlassung des Angeklagten, er habe die Heiratsurkunde erst zeitlich nach seinen Angaben in der Anhörung vom 14.10.2016 zugeschickt bekommen, nicht hat widerlegen können und weil der Angeklagte zwar seit dem 27.08.2019 vollziehbar ausreisepflichtig war, aber seitdem durchgehend über eine Duldung verfügt habe. Die Verurteilung stützt das Amtsgericht vielmehr auf die bei der Hausdurchsuchung vom 15.11.2019 vom Angeklagten getätigte Äußerung, er sei nicht im Besitz von Urkunden oder Identifikationsunterlagen.

Bei dem Gegenstand der Verurteilung handelt es sich zwar noch um dieselbe prozessuale Tat, wie sie auch in der Anklageschrift zu Grunde gelegt war (so dass das Verfahren nicht etwa wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen war). Das folgt daraus, dass eine Identität des Tatortes besteht, der Tatzeitpunkt 15.11.2019 auch noch von dem Tatzeitraum der Anklageschrift („seit dem 27.08.2019) umfasst ist, Personenidentität besteht und auch schon das Geschehen der Hausdurchsuchung als solche (wenn auch nicht die von dem Angeklagten getätigte Äußerung mit ihrer rechtlichen Einordnung) in der Anklageschrift erwähnt wurde. Auch geht es um dasselbe Rechtsgut.

Die Sachlage innerhalb dieser prozessualen Tat, die der Verurteilung zu Grunde liegt, hat sich jedoch wesentlich verändert. Hinweispflichten auf eine geänderte Sachlage bestehen bei einer wesentlichen Veränderung des Tatbildes beispielsweise betreffend die Tatzeit, den Tatort, das Tatobjekt, das Tatopfer, die Tatrichtung, eine Person des Beteiligten oder bei der Konkretisierung einer im Tatsächlichen ungenauen Fassung des Anklagesatzes (BGH NStZ 2019, 239 m.w.N.; vgl. auch BGH NStZ 2020, 97). Hier liegt mit den unrichtigen Angaben im Rahmen der Hausdurchsuchung eine andere Tatrichtung als in dem bloßen Aufenthalt ohne erforderlichen Aufenthaltstitel i.S.v. § 92 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor, wobei beide Vorwürfe, wären sie beide gegeben, in Tatmehrheit zueinander stünden, da eine bloße zeitliche Überschneidung für die Annahme von Tateinheit nicht ausreicht, vielmehr hier ein anderer Tatentschluss gefasst und eine neue Tathandlung getätigt werden musste.

Zwar wurde im Eröffnungsbeschluss darauf hingewiesen, dass auch eine Strafbarkeit wegen unrichtiger Angaben in Betracht komme. Diese Maßgabe bezieht sich aber allein auf das in der Anklageschrift umschriebene Tatgeschehen, welches im Anklagesatz lediglich mit „unvollständige“ rechtlich gewürdigt wurde. Ein Hinweis i.S.v. § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO wurde in der Hauptverhandlung nicht erteilt.

Die Veränderung der Sachlage ist für das Verteidigungsverhalten des Angeklagten, der sich nicht zur Sache eingelassen hat, bedeutsam und deswegen zur genügenden Verteidigung des Angeklagten geboten. So kommt etwa die Anbringung von Beweisanträgen auf Vernehmung weiterer Zeugen, etwa – offenbar zugegen gewesener (vgl. UA S. 3 unten) „weiterer Bewohner der Wohnung“ zum Beweis, dass entsprechende Angaben vom Angeklagten nicht getätigt wurden, in Betracht.“