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Pflichti III: Rechtsmittel nach dem Tod des Angeklagten, oder: „Pflichti“-Bestellung“ gilt über den Tod hinaus

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Und dann noch der OLG Brandenburg, Beschl. v. 11.09.2023 – 1 Ws 96/23 – zur Frage, ob die Rechtsmittelbefugnis des (Pflicht)Verteidigers über den Tod des Angeklagten hinaus gilt.

Nach dem Sachverhalt hatte das AG den Angeklagten verurteilt. Dem war ein Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO beigeordnet. Im Berufungsverfahren verstirbt dann der Angeklagte. Das LG stellt das Verfahren auf Kosten der Landeskasse gemäß § 206a StPO ein. Es sieht ausdrücklich von einer Überbürdung der notwendigen Auslagen des früheren Angeklagten auf die Landeskasse abgesehen. In der entscheidung über die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Pflichtverteidigers nimmt das OLG auch zu dessen Rechtsmittelbefugnis nach dem Tod des Angeklagten Stellung:

„Die Frage, ob der Verteidiger im Falle des Todes des Angeklagten weiterhin zur Einlegung von Rechtsmitteln befugt ist, wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung inzwischen überwiegend bejaht (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 03.05.2011- 2 Ws 1/11-; OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 246; OLG Celle NJW 2002, 3720; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2003, 286; KG NStZ-RR 2008, 295; OLG Nürnberg, Beschluss vom 30. März 2010, Az.: 1 Ws 113/10, zitiert nach juris; Meyer-Goßner, StPO, 66. Aufl., Vor § 137 Rn. 7). Zur Begründung wird vor allem angeführt, dass zwischen dem Verteidiger und dem Mandanten ein Geschäftsbesorgungsvertrag im Sinne des § 675 BGB besteht. Auf diesen findet § 672 BGB, wonach der Auftrag im Zweifel nicht durch den Tod des Auftraggebers endet, entsprechende Anwendung. Dasselbe gilt – wie hier – im Fall der Pflichtverteidigung (vgl. KG StraFo 2008, 90; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2003, 296; a.A. Hanseatisches Oberlandesgericht, NStZ-RR 2008, 160). Die Pflichtverteidigerbestellung endet im Erkenntnisverfahren grundsätzlich mit dessen rechtskräftigem Abschluss (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 143 Rn. 1 ; KK-Willnow, StPO 9. Aufl., § 143 Rdn. 1, jeweils m.w.N.). Durch den Tod des Angeklagten wird das Verfahren nicht ohne weiteres beendet. Es bedarf dazu vielmehr einer förmlichen Einstellung nach § 206a StPO oder – in der Hauptverhandlung – nach § 260 Abs. 3 StPO (vgl. BGHSt 45, 108). Mit dieser Entscheidung ist zugleich gemäß § 464 StPO auch darüber zu befinden, wer die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des (verstorbenen) Angeklagten zu tragen hat. Insoweit bleibt das Verfahren auch nach dem Tod des Angeklagten anhängig (vgl. BGH aaO). Ebenso wie die Einstellung selbst unterliegen auch die Nebenentscheidungen der Anfechtung (§§ 206 Abs. 2, 464 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 StPO). Erst mit ihrer Rechtskraft ist das Verfahren endgültig abgeschlossen. Der Pflichtverteidiger muss daher – wie die Staatsanwaltschaft – befugt sein, auch nach dem Tod des Angeklagten auf eine gesetzmäßige Kosten- und Auslagenentscheidungen hinzuwirken und diese erforderlichenfalls durch das Beschwerdegericht überprüfen zu lassen (vgl. OLG Karlsruhe aaO.; KG Berlin, Beschluss vom 14. November 2007 – 1 AR 447/051 Ws 235/07 –, Rn. 6, juris).“

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung?, oder: LG Berlin bejaht mit sehr schöner Begründung

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Ich komme dann hier im zweiten Posting noch einmal auf den LG Berlin, Beschl. v. 21.09.2023 – 517 Qs 33/23 – zurück, den ich ja heute Morgen schon wegen des Beiordnungsgrundes vorgestellt hatte (Pflichti I: Beiordnung bei psychischer Beeinträchtigung, oder: Drohender Bewährungswiderruf/Gesamtstrafe).

Der Beschluss hat aber auch eine verfahrensrechtliche Problematik. Dabei geht es zwar „nur“ um die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, zu der ich ja sonst nur noch die Entscheidungen en bloc erwähne. Die Begründung des LG Berlin ist es aber wert, dass man sie einmal vollständig einstellt. Sie ist nämlich sehr schön:

„2. Die Beiordnung kann auch seit Neureglung des Rechts der notwendigen Verteidigung rückwirkend nach Einstellung des Verfahrens erfolgen, und zwar jedenfalls dann, wenn der Beiordnungsantrag – wie hier – vor der Verfahrenseinstellung ordnungsgemäß gestellt und darüber allein aufgrund justizinterner Verzögerungen nicht entschieden worden ist. Denn es ist gerade der Wille des Gesetzgebers und der damit umgesetzten Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (sogenannte PKH-Richtlinie) gewesen, nicht nur eine ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten (vgl. insoweit bereits Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie [EU] 2013/48 u.a. über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren), sondern gerade auch mittellose Beschuldigte im Fall der notwendigen Verteidigung von den Kosten ihrer Verteidigung freizustellen (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 2, 36). Diese vom Gesetzgeber und der Richtlinie intendierte effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten liefe jedoch ins Leere, wenn ein Beschuldigter, der sich auf sein Recht auf Pflichtverteidigerbestellung beruft und einen Verteidiger konsultiert, unter Umständen damit rechnen muss, – wie hier aufgrund justizinterner Verzögerung – unverschuldet mit den Kosten seines Rechtsbeistandes belastet zu werden (vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 142 Rn. 20 m.w.N.; Krawczyk, in: BeckOK StPO, 47. Edition v. 1. April 2023, § 142 Rn. 30 m.w.N.; Kämpfer/Travers, in: MüKoStPO, 2. Auflage 2023, § 142 Rn. 14; OLG Stuttgart, Beschluss vom 15. Dezember 2022 – 4 Ws 529/22 -, juris Rn. 17 ff.; OLG Nürnberg Beschluss vorn 6. November 2020 – Ws962/20, Ws963/20 BeckRS 2020, 35193 Rn. 25ff; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 – 1 Ws 260/21 -, juris Rn. 14 ff.; LG Berlin, Beschluss vorn 6. Oktober 2022 – 511 Qs 79/22 -, BA S. 4 ff.; LG Hamburg, Beschluss vom 5. April 2022 – 612 Qs 6/22 -, juris Rn. 7 ff. rn.w.N.; LG Stade, Beschluss vom 30. September 2021 – 102 Qs 41/21 -, juris Rn. 9 ff.).

Angesichts der gesetzgeberischen Intention und der nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV normierten effet utile-Grundsatz zwingend zu berücksichtigenden europäischen Vorgaben überzeugt die Gegenansicht (vgl. Willnow, in: KK-StPO, 9. Auflage 2023, § 142 Rn. 16; OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020 – 2 Ws 112/20 -, juris Rn. 15 f.; KG, Beschlüsse vom 6. Februar 2023 – 6 Ws 169/22 – 121 AR 275/22 -, BA S. 5 ff.; vorn 9. April 2020 – 2 Ws 30 ¬31/20 -, juris Rn. 15; vom 30. Dezember 2019 – 4 Ws 115/19 -, BA S. 3 f.; vom 20. August 2019 -4 Ws 81/19 -, BA S. 3 f.; LG Berlin, Beschluss vorn 21. Dezember 2022 – 534 Qs 97/22 -, BA S. 2 ff.; zur alten Rechtslage nur BGH, Beschluss vom 20. Juli 2009 – 1 StR 344/08 -, juris Rn. 4) nicht. Danach sei die Beiordnung zum Pflichtverteidiger nach Abschluss des Verfahrens nicht möglich, weil die Beiordnung im Strafprozess nicht im Kosteninteresse des Beschuldigten, sondern – wie nach alter Rechtslage – allein dem Zweck diene, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten. Dies stünde auch im Einklang mit der PKH-Richtlinie, die in Art. 4 Abs. 1 den „Anspruch auf Prozesskostenhilfe“ nur dann von den Mitgliedstaaten sichergestellt wissen will, „wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich“ sei (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 15). Dieses Interesse sei jedoch mit dem Abschluss des Verfahrens entfallen (vgl. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 5). Einen „Systemwechsel“ von der Prüfung des Rechtspflegeinteresses hin zu einer Bedürftigkeitsprüfung habe der hiesige Gesetzgeber nicht beabsichtigt (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 16).

Die Gegenansicht verkennt, dass „das Interesse der Rechtspflege“ im Sinne des Art. 4 Abs. 1 der PKH-Richtlinie nicht allein auf ein objektiv-organisatorisches Erfordernis reduziert werden darf, sondern im Lichte des – im Erwägungsgrund 3 der PKH-Richtlinie ausdrücklich in Bezug genommenen – Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK (dort „Interesse der Rechtspflege“) weit im Sinne von Verfahrensgerechtigkeit gegenüber dem Beschuldigten bzw. Angeklagten zu verstehen ist (vgl. OLG Stuttgart, a.a.O., Rn. 20 m.w.N.; zu Art. 6 EMRK: Gaede,         MüKoStPO, 1. Auflage 2018, Art. 6 EMRK Rn. 209). Folgerichtig stellt der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung auch klar, dass kein Raum für eine über das Vorliegen eines Falles der notwendigen Verteidigung hinausgehende weitere Prüfung des Rechtspflegeinteresses besteht, wenn im Zeitpunkt der Antragstellung bereits ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und die übrigen Antragsvoraussetzungen des § 141 StPO gegeben sind. In einem solchen Fall muss die Bestellung unverzüglich, das heißt nicht sofort, aber so rechtzeitig erfolgen, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 37).

Zudem dient die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht nur dazu, einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt zu schaffen, sondern mittelbar auch den Interessen des Beschuldigten, Angeklagten oder Verurteilten an einer ordnungsgemäßen Verteidigung. Denn auch wenn es die Pflicht eines Verteidigers ist, ab dem Moment der Mandatsübernahme bestmöglich im Sinne des Mandanten tätig zu werden, liegt die Befürchtung nicht fern, dass ein Verteidiger trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung und rechtzeitiger Bestellung im Wissen um die – andernfalls bestehende – Möglichkeit, letztlich keine Vergütung zu erhalten, nicht im gleichen Maße für seinen Mandanten tätig wird, wie dies bei einer Wahlverteidigung mit einem solventen Mandanten der Fall wäre (vgl. zu alldem OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021, a.a.O., Rn. 15 f.; a.A. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 6). Diesen Gedanken, dass dem Beschuldigten ab Eröffnung des Tatvorwurfs unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen schnellstmöglich anwaltlicher Rat zur bestmöglichen Wahrnehmung seiner Interessen zur Verfügung stehen muss, hat der Gesetzgeber durch die Schaffung des Unverzüglichkeitsgebots in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO deutlich gemacht (vgl. OLG Bamberg, a.a.O., Rn. 16).

Die (ausnahmsweise) Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung zum Pflichtverteidiger steht darüber hinaus auch im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur rückwirkenden Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Diese kommt nach § 397a Abs. 2 StPO bzw. § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nämlich grundsätzlich bei bereits abgeschlossenen Verfahren nicht in Betracht. Denn Aufgabe der Prozesskostenhilfe sei es nach Ansicht des BGH nicht, finanziell bedürftige Personen für prozessbedingte Kosten oder dafür eingegangene Verpflichtungen nachträglich zu entschädigen. Etwas anderes gelte aber ausnahmsweise dann, wenn ein vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens mit den erforderlichen Unterlagen gestellter Bewilligungsantrag nicht bzw. nicht vorab beschieden worden sei und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan habe (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 2021 – 5 StR 222/20 -, juris Rn. 4, st. Rspr). Sachliche Gründe, die die unterschiedliche Behandlung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und eines Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Zwar ist es richtig, dass die Pflichtverteidigerbestellung anders als die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht an die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse knüpft, also nicht allein den mittellosen Beschuldigten bzw. Angeklagten im Blick hat (vgl. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 6). Entscheidend ist aber, dass beide Instrumente dem Betroffenen bei Vorliegen der Antragsvoraussetzungen effektiven Zugang zu anwaltlichem Rat verschaffen sollen (vgl. OLG Bamberg, a.a.O. Rn. 18 f.).“

Ein bisschen Fortbidlung für das ein oder andere OLG oder LG 🙂 .

Pflichti I: Beiordnung bei psychischer Beeinträchtigung, oder: Drohender Bewährungswiderruf/Gesamtstrafe

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Und heute dann „Pflichti“, es hält sich dieses mal aber in Grenzen.

Zunächst hier drei LG-Entscheidungen zum Beiordnungsgrund, und zwar:

Der LG Berlin, Beschl. v. 21.09.2023 – 517 Qs 33/23 – nimmt noch einmal Stellung zur Erforderlichkeit der Beiordnung in den Fällen der psychischen Beeinträchtigung des Beschuldigten:

„1. Gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO wird in den Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt.

Ein solcher Fall der notwendigen Verteidigung liegt hier gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor, weil ersichtlich ist, dass sich die Beschwerdeführerin, der auch der Tatvorwurf eröffnet worden ist und die noch keinen Verteidiger hatte, aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht selbst verteidigen kann. Denn ausweislich des aufgrund der Betreuerbestellung eingeholten psychiatrischen Gutachtens leidet die krankheits- und behandlungsuneinsichtige Beschwerdeführerin mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an einer paranoiden Schizophrenie, kann weder lesen noch schreiben, ist in ihrem Gedankengang assoziativ gelockert bis zerfahren und wahnhaft. Sie sei, so die psychiatrische Sachverständige, krankheitsbedingt nicht in der Lage, im Hinblick auf eine Betreuung einen freien Willen zu bilden, sondern ganz in ihrem eigenen Erleben gefangen. Die Unfähigkeit der Beschwerdeführerin zur Selbstverteidigung wird darüber hinaus dadurch belegt, dass sie vom Amtsgericht Mitte aufgrund ihrer psychischen Erkrankung unter Betreuung gestellt worden ist, wobei zum Aufgabenkreis des Betreuers unter anderem die Vertretung gegenüber Behörden zählt.

Ein Absehen von der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO kommt nicht in Betracht, da dies ausweislich des ausdrücklichen Wortlauts sich lediglich auf Beiordnungen bezieht, die von Amts wegen erwogen werden (vgl. nur Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 141 Rn. 17).“

Und die zweite Entscheidung. der LG Oldenburg, Beschl. v. 17.08.2023 – 4 Qs 252/23 -, nimmt noch einmal zur „Schwere der Rechtsfolge“ Stellung, und zwar wie folgt:

Die Schwere der drohenden Rechtsfolge i.S. des § 140 Abs. 2 StPO bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile, wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen.

Und dann noch der LG Münster, Beschl. 22.08.2022 – 11 Qs 27/23:

Die Schwelle von zu erwartender Freiheitsstrafe von einem Jahr für die Bestellung eines Pflichtverteidigers gilt auch bei der (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung. Das gilt auch, wenn die verfahrensgegenständliche Verurteilung voraussichtlich geringfügig ausfallen und die Gesamtstrafenbildung nur unwesentlich beeinflussen wird, jedoch neben der zu erwartenden nachträglichen Gesamtstrafenbildung auch noch ein Bewährungswiderruf  droht.

 

Pflichti III: Pflichtverteidigerwechsel in der Revision, oder: Achtung! Da gibt es eine Frist….

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Und zum Tagesschluss stelle ich dann noch den KG, Beschl. v. 01.09.2023 – 3 ORs 52/23 — 161 Ss 130/22 – vor. Der behandelt verschiedene Themen. Ich stelle den Beschluss heute wegen des beantragten Pflichtverteididgerwechsels in der Revisionsinstanz vor. Auf die anderen Fragen komme ich noch zurück.

Der Verteidiger hatte einen Pflichtverteidigerwechsel in der Revisionsinstanz beantragt. Das ist vom KG abgelehnt worden, u.a. wegen Versäumung der Frist des § 143a StPO. Wiedereinsetzung hat das KG dann auch nicht gewährt:

„5. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist. zur Anbringung des Antrags auf Verteidigerwechsel für die Revisionsinstanz nach § 143a Abs. 3 Satz 1 StPO ist unzulässig.

a) Zur Entscheidung über das Wiedereinsetzungsgesuch war die Vorsitzende des Senates berufen. Gemäß § 46 Abs. 1 StPO ist bei Wiedereinsetzungsanträgen das Gericht, das bei rechtzeitiger Handlung zur ‚Entscheidung in der Sache berufen gewesen wäre, zuständig. Zwar ist der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers für die Revisionsinstanz nach § 143a Abs. 3 Satz 2 StPO bei dem Gericht zu stellen, dessen Urteil angefochten wird. Die- Zuständigkeit für die Entscheidung über den Beiordnungsantrag liegt auch zunächst bei dem (Vorsitzenden des) Gericht(s), dessen Entscheidung angefochten wird (BGH, Beschluss vom 11. September 2019 2 StR 281/19 -, BeckRS 2019, 27180; OLG Rostock, NStZ-RR 2010, 342f.; BT-Drs. 19/13829, S. 49; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, a.a.O. § 142 Rn. 16). Seit der Vorlage der Akten durch. die Generalstaatsanwaltschaft verbunden mit dem zugleich gestellten Antrag nach § 349 Abs. 2 StPO ist das Verfahren indes beim erkennenden Senat anhängig. Mit Anhängigkeit der Sache ist die Zuständigkeit für die Entscheidung über den unerledigten Antrag und damit auch die Zuständigkeit für die Entscheidung über ein entsprechendes Wiedereinsetzungsgesuch gemäß § 347 Abs. 2 StPO auf die Vorsitzende des Senates übergegangen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Februar 2023 – 3 StR 450/22 -, juris; OLG Rostock, a.a.O.; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, a.a.O. § 142 Rn. 16).

Vor dem Hintergrund, dass Rechtsanwalt Dr. pp. seiner Funktion als Wahlverteidiger die vom damaligen. Pflichtverteidiger form- und fristgemäß eingelegte Berufung innerhalb der Revisionsbegründungsfrist auf das Rechtsmittel der Sprungrevision umgestellt und diese auch innerhalb der Frist des § 345 Abs. 1 StPO begründet hat, entsteht dem Angeklagten durch die vom Amtsgericht Tiergarten verabsäumte Entscheidung. über den Beiordnungsantrag (anders als in dem der Entscheidung. des BGH, Beschluss vom 11. September 2019 – 2 StR 281/19 -, BeckRS 2019, 27180 zugrunde liegenden Verfahren) kein Nachteil, weshalb eine Rückgabe an das Tatgericht zur Nachholung der Beiordnungsentscheidung nicht in Betracht kam.

b) Allerdings ist der Wiedereinsetzungsantrag nicht zulässig.

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine Frist einzuhalten (§ 44 Satz 1 StPO). Vorzutragen und glaubhaft zu machen ist dabei ein Sachverhalt, der ein der Wiedereinsetzung entgegenstehendes Verschulden ausschließt (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 45 Rn. 5a).

Hieran fehlt es:

Der Angeklagte hat bereits nicht dargetan, dass er an der Einhaltung der versäumten Frist gehindert war. Die Frist von einer Woche zur Beantragung eines Verteidiger-wechsels für die Revisionsinstanz hat- gesetzlich vorgesehen parallel mit dem Beginn der Revisionsbegründungsfrist – gemäß §§ 345 Abs. 1 Satz‘ 3 StPO mit der am Montag, dem 24. April 2023 erfolgten Zustellung des Urteils an den damaligen Pflichtverteidiger zu laufen begonnen und endete – da Montag, der 1. Mai 2023 ein allgemeiner Feiertag war – gemäß § 43 Abs. 1 und Abs. 2 StPO mit Ablauf des 2. Mai 2023. Sein zeitgleich mit Umstellung auf das Rechtmittel der Revision am 23. Mai 2023 gestellter Antrag nach § 143a Abs. 3 Satz 1 StPO ist daher verspätet. Weshalb der Angeklagte an einem früheren Antrag auf Verteidigerwechsel für die Revisionsinstanz gehindert war, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Der Umstand, dass während des Laufs der Wochenfrist nach § 143a Abs. 3 Satz 1 StPO die Revision – wie hier bei der erst später durch Umstellung erfolgten Einlegung der Sprungrevision nach § 335 StPO – noch gar nicht eingelegt war, hindert weder deren gesetzlich geregelten Beginn noch deren Ablauf.

Eine von Amts wegen zu gewährende Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bedingt die hier vorliegende Konstellation ebenfalls nicht. Die in § 143a Abs. 3 StPO ermöglichte Auswechslung des Pflichtverteidigers ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes für die Revisionsinstanz soll – unter anderem – der Tatsache Rechnung tragen, dass es für die Revisionsbegründung und die weitere Vertretung des -Angeklagten in der Revision häufig spezieller, vertiefter Rechtskenntnisse und Erfahrungen im Revisionsrecht bedarf (BT-Drs. 19/13829, S. 49). Sinn und Zweck der gesetzlichen Fristvorgabe, den Antrag auf Auswechslung des Verteidigers spätestens eine Woche nach Beginn der Revisionsbegründungsfrist stellen, ist es, dem Angeklagten bzw. seinem bisherigen Verteidiger, der vorsorglich Rechtsmittel eingelegt hat, zu ermöglichen, erst nach Prüfung der Urteilsbegründung und des Protokolls endgültig über die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit des Wechsels zu einem anderen Verteidiger, insbesondere einem Revisionsspezialisten, zu entscheiden (BT-Drs. 19/13829, S. 50). Dass sich der Angeklagte und sein damaliger Pflichtverteidiger im vorliegenden Fall in der dem Gesetzgeber bei Schaffung des erleichterten Verteidigerwechsels vorschwebenden oder einer vergleichbaren Entscheidungssituation befunden hätten, ist nicht ersichtlich. Ausweislich seines Meldeschriftsatzes vom 22. März 2023 war Rechtsanwalt Dr. pp. – als Wahlverteidiger – bereits mandatiert, als die Revisionsbegründungsfrist noch nicht einmal begonnen hatte.

In seiner Funktion als Wahlverteidiger hat Rechtsanwalt Dr. pp. vor der fristgemäß erfolgten Umstellung auf und Begründung der Revision die ihm mit Verfügung der Abteilungsrichterin vom 19. April 2023 gewährte Möglichkeit der Akteneinsicht wahrgenommen. Spätestens hierdurch hatte er daher die umfassende Möglichkeit, sich – und den Angeklagten – über die Sach-, Rechts-, und Fristenlage im Verfahren zu informieren. Dabei lassen seine Ausführungen vom 23. Mai 2023 auch erkennen, dass (aber nicht seit wann) er Kenntnis vom Zeitpunkt der Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe – und damit vom Lauf der Revisionsbegründungsfrist sowie der Frist des § 143a Abs. 3 Satz 1 StPO – hatte.

Soweit die vorliegende prozessuale Konstellation der späteren Umstellung auf eine Sprungrevision bedingt, dass bei Ablauf der Antragsfrist des § 143a Abs. 3 Satz 1 StPO die Revision möglicherweise noch nicht eingelegt ist, entbindet dies den Angeklagten nicht davon, dies im Einzelfall vorzutragen und glaubhaft zu machen, weshalb er ohne Verschulden an der Stellung des Antrags nach § 143a Abs. 3 StPO – gegebenenfalls in Verbindung mit der Umstellung des Rechtsmittels auf die Sprungrevision bei späterer Begründung – gehindert war und wann dieses Hindernis weggefallen ist.

2. Der Antrag des Angeklagten, ihm seinen Wahlverteidiger Rechtsanwalt Dr. pp. als Pflichtverteidiger zu bestellen, war abzulehnen, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind.

a) Zwar ist die Auswechslung des Pflichtverteidigers ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes für das Revisionsverfahren nach § 143a Abs. 3 StPO möglich. Allerdings hat der Angeklagte – wie oben unter III. 1. b) ausgeführt – die mit Antragstellung am 23. Mai 2023 einzuhaltende Wochenfrist nicht gewahrt.

b) Ebenso wenig liegen die Voraussetzungen für einen Pflichtverteidigerwechsel nach § 143a Abs. 2 Satz 1 StPO vor, wobei hier allein die Nr. 3 in Betracht zu ziehen ist. Für eine endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen v der Angeklagten und seinem bisherigen Pflichtverteidiger oder dafür, dass eine angemessene Verteidigung des Angeklagten durch den bisherigen Pflichtverteidiger nicht gewährleistet wäre, ist nichts vorgetragen.

c) § 143a StPO schließt allerdings die Möglichkeit eines konsensualen Verteidigerwechsels nicht aus. Dieser setzt voraus, dass, sowohl der Angeklagte als auch beide Verteidiger mit dem Wechsel einverstanden sind, keine Verfahrens-verzögerung eintritt und dass keine Mehrkosten entstehen (BT-Drs. 19/13829, S. 47; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 143a Rn. 31). Vorliegend hat sich zwar der damalige Pflichtverteidiger mit der Aufhebung seiner Beiordnung einverstanden erklärt.

Allerdings liegt weder vom damaligen Pflichtverteidiger noch von Rechtsanwalt Dr. pp. eine Erklärung über einen zur Vermeidung von Mehrkosten erforderlichen Gebührenverzicht vor. Jedenfalls ist für beide Rechtsanwälte die Grundgebühr nach Nr. 4100 W-RVG entstanden, die der bisherige Pflichtverteidiger mit Kostenfestsetzungsantrag vom 21. April 2023 geltend gemacht hat und die mit Verfügung 12. Mai 2023 an ihn ausgezahlt wurde.

Mangels einer Verzichtserklärung Rechtsanwalt Dr. pp. hätte seine Bestellung zum Pflichtverteidiger zur Folge, dass die Landeskasse .die Grundgebühr doppelt erstatten müsste.

d) Auch liegt beim gegenwärtigen Stand des Revisionsverfahrens – anderes mag dich bei der erneuten Verhandlung vor dem Amtsgericht Tiergarten ergeben – kein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 oder Abs. 2 StPO vor.“

Pflichti II: Schon wieder rückwirkende Bestellung, oder: Manchen lernen es nie

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Und dann einige Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung, leider dieses Mal mit einem Schwergewicht bei den Entscheidungen, die die rückwirkende Bestellung als unzulässig ansehen.

Darunter befindet sich dann auch ein Beschluss des OLG Dresden, den das OLG nicht veröffentlicht hat. Man fragt sich, warum? Wir finden in der Zusammenstellung dann auch ein Beschluss des LG Leipzig, in dem man eben mal die Rechtsprechung, die man bisher vertreten hat, aufgibt. Und einen des LG Zweibrücken, die die andere Auffassung als „Mindermeinung“ abtut, na ja.

Und ich bleibe dabei. Das Ablehnen der rückwirkenden Bestellung ist falsch. Es ist ein Freibrief für die StA, die letztlich tun und lassen kann, was und wann sie will.

Gegen eine rückwirkende Bestellung haben sich ausgesprochen:

Für eine rückwirkende Bestellung haben sich ausgesprochen: