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StPO III: Etwas Rechtsprechung zur Pflichtverteidigung, oder: Rückwirkung und Beiordnungsgrund

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Und dann zum Abschluss des heutigen Tages noch ein paar Entscheidungen zur Pflichtverteidigung. Es haben sich zwar seit dem letzten „Pflichti-Tag“ einige Entscheidungen angesammelt, das reicht aber nicht für einen ganzen Tag.

Denn die meisten der mir vorliegenden Entscheidungen befassen sich mit der Frage der Zulässigkeit der nachträglichen Bestellung. Das ist nach wie vor der Dauerbrenner im Bereich der §§ 140 ff. StPO. Die beiden Lager Pro und Contra stehen sich unversöhnlich gegenüber. Als Verteidiger muss man einfach schauen, wie das AG/LG, bei dem man gerade verteidigt (hat) entscheidet und sich dann danach richten.

Ich habe hier dann den LG Aurich, Beschl. v. 07.06.2022 – 12 Qs 93/22 – und den LG Magdeburg, Beschl. v. 03.06.2022 – 21 Qs 41/22.  Die beiden Gerichte haben die rückwirkende Bestellung abgelehnt, und zwar auch dann, wenn der Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt ist. Leider zum Teil unter Hinweis auf m.E. veraltete Rechtsprechung des BGH und der OLG. Im Übrigen: Diese Rechtsprechung segnet Untätigbleiben der AG und der StA ab, die damit die Ziele der Neuregelung unterlaufen können/wollen.  Im Gegensatz danzu kann ich dann aber auch auf den LG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 30.05.2022 – 24 Qs 36/22 – und den AG Chemnitz, Beschl. v. 30.05.2022 – 11 Gs 1615/22 – hinweisen, die die Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung bejaht haben.

Und zu den Beiordnungsgründen (§ 140 Abs. 2 StPO) kann ich dann noch auf den LG Deggendorf, Beschl. v. 02.06.2022 – 1 Qs 31/22– verweisen. Der hat folgenden Leitsatz:

Leidet der Beschuldigte an einer weit fortgeschrittenen Alkoholerkrankung mit erheblichen körperlichen Folgeerscheinungen und kann er sich wegen seines Zustandes nicht selbst verteidigen, ist ihm ein Pflichtverteidiger zu bestellen.

Bestellung des Verteidigers nur für einen Termin, oder: Es gibt alle Gebühren, was denn sonst?

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Und dann heute – wie immer am Freitag – RVG-Entscheidungen. Zunächst ein (schöner) Beschluss des AG Halle zur Frage, welche Gebühren der bur für einen Termin beigeordnete Rechtsanwalt verdient.

In dem zugrunde liegenden Ermittlungsverfahren ist dem Beschuldigten mit Beschluss des AG Halle (Saale) vom 07.04.2022 Rechtsanwalt A. Funck, der mir den Beschluss geschickt hat, gem. § 140 Abs.1 Nr.4 zum Pflichtverteidiger bestellt worden. Das AG hat wörtlich ausgeführt:

„Dem Beschuldigten wird für den heutigen Termin gemäß § 140 Abs.1 Nr.4 StPO der Rechtsanwalt ´Funck zum Pflichtverteidiger bestellt. Für das weitere Verfahren wird auf ausdrücklichen Wunsch des Beschuldigten der heute verhinderte Rechtsanwalt pp. gemäß § 140 Abs.1 Nr.5 StPO zum Pflichtverteidiger bestellt.“

Der Kollege hat dann die Festsetzung der Pflichtverteidigergebühren in einer Höhe von 709,24 EUR beantragt. Dabei wurde u.a. eine Grundgebühr nach Nr. 4101 VV RVG und eine Verfahrensgebühr nach Nr. 4103 VV RVG beantragt. Dem Antrag hat der Urkundsbeamte vollumfänglich stattgegeben und die Auszahlung angewiesen.

Die Vertreterin der Landeskasse hat gegen die Festsetzungsentscheidung des Urkundsbeamten natürlich Erinnerung eingelegt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Bestellung des Kollegen ausschließlich für den Termin am 07.04.2022 erfolgt sei. Es sei zwar die Terminsgebühr, nicht jedoch die Grundgebühr und die Verfahrensgebühr entstanden.

Das AG hat auf die Erinnerung den Festsetzungsbeschluss im AG Halle (Saale), Beschl. v. 20.05.2022 – 398 Gs 540 Js 594/22 (259/22) – nicht abgeändert:

„Die Erinnerung gibt keinen Anlass die gerügte Entscheidung abzuändern.

Ob für den nur für einen Termin als Pflichtverteidiger bestellten Rechtsanwalt eine Grundgebühr und eine Verfahrensgebühr neben der Terminsgebühr entstehen, ist umstritten:

Nur für das Entstehen einer Terminsgebühr: OLG Celle, Beschluss vom 19. September 2018 —3 Ws 221/18 —, juris; HK-RVG/Ludwig Kroiß, 8. Aufl. 2021, RVG VV 4100 Rn. 34-37.

Für das Entstehen von allen durch die anwaltliche Tätigkeit verwirklichten Gebührentatbeständen: OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Juli 2008 — 3 Ws 281/08 —, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 23. März 2006 — 3 Ws 586/05 —, juris; OLG München, Beschluss vom 27. Februar 2014 — 4c Ws 2/14 —, juris; OLG Nürnberg, Beschluss vom 13. November 2014 — 2 Ws 553/14 —, juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 21. Dezember 2010 — 1 Ws 700/10 —, juris; OLG Köln, Beschluss vom 26. März 2010 — 2 Ws 129/10 —, juris;

Der Urkundsbeamte hat sich rechtsfehlerfrei und ermessensfehlerfrei der Auffassung angeschlossen, dass auch dem nur für einen Termin beigeordneten Rechtsanwalt sämtliche im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände des Teils 4 Abschnitt 1 VV RVG zustehen. Dies folgt daraus, dass sich der insoweit beigeordnete Pflichtverteidiger in den Rechtsfall selbstständig einarbeiten muss und ihm die vollständige Verantwortung für die Verteidigungstätigkeiten in dem jeweiligen Termin mit allen Rechten und Pflichten obliegt. Die Bestellung erfolgte vorliegend ohne inhaltliche oder gebührenrechtliche Einschränkung. Es ist kein Grund erkennbar, weshalb dem umfassend mit allen Verteidigertätigkeiten für den Termin beigeordneten Rechtsanwalt dies gebührenrechtlich nicht abzugelten sein sollte. Dies gilt nach Auffassung des Urkundsbeamten insbesondere auch für den nach § 140 Abs.1 Nr.4 beigeordneten Rechtsanwalt (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, 25. Aufl. 2021, RVG VV 4100 Rn. 5).

Es sind vorliegend für die erstmalige Einarbeitung des Rechtsanwalts pp. in den Rechtsfall die Grundgebühr nach Nr. 4101 VV RVG in Höhe von 216,00 (netto), für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information (vgl. Vorbemerkung 4 Abs.2 VV RVG) die Verfahrensgebühr nach Nr. 4105 VV RVG in Höhe von 177,00 € (netto) und neben der unstreitigen Terminsgebühr nach Nr. 4103 VV RVG, 4102 Nr.3 VV RVG in Höhe von 183,00 € (netto) auch die Postpauschale nach Nr. 7002 VV RVG in Höhe von 20,00 (netto), für deren Geltendmachung es keines Nachweises bedarf, entstanden und erstattungsfähig. Hinzu kommt die Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG.

Im Übrigen wird angemerkt:

In einem anderen Ermittlungsverfahren, in dem ein Termin zur Verkündung eines Haftbefehls stattgefunden hat, hat die Vertreterin der Landeskasse Erinnerung gegen die festgesetzte Terminsgebühr eingelegt, da nach deren Auffassung in diesem Haftprüfungstermin nicht verhandelt wurde und daher der in Nr. 4102 Nr.3 VV RVG geforderte Gebührentatbestand des „Verhandelns“ nicht erfüllt sei.

Folgte man der Auffassung der Vertreterin der Landeskasse, dass dem nur für einen Termin beigeordneten Rechtsanwalt grundsätzlich lediglich eine Terminsgebühr zusteht, fragt sich, welche gebührenrechtliche Abgeltung einem nur für einen Termin zur Haftbefehlsverkündung beigeordneten Pflichtverteidiger zusteht, in dem der Gebührentatbestand des Verhandelns nicht erfüllt ist und die Terminsgebühr nach Nr. 4102 Nr.3 VV RVG daher nicht entstanden ist. Nach der von der Vertreterin der Landeskasse vertretenen Auffassung wäre die Tätigkeit des Pflichtverteidigers dann eine vergütungsfrei zu erbringende Tätigkeit im öffentlichen Interesse.“

Schöne Argumentation des AG im letzten Absatz. Die Antwort der Landeskasse kann man sich denken: Dann ist es eben Verteidigung zum Nulltarif/Sonderopfer oder: Pauschgebühr.

Pflichti III: Pflichtverteidiger für Sicherungsverwahrte, oder: Privilegierung des Sicherungsverwahrten

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Und im letzten Posting dann hier der KG, Beschl. v. 25.03.2022 – 2 Ws 2 – 7/22 Vollz – mit einer nicht alltäglichen Thematig, nämlich der Frage der Beiordnung eines Rechtsanwalts für Sicherungsverwahrte in Vollzugsverfahren.

Grundlage des Beschlusses sind Ausführungen des beschwerdeführenden Gefangenen in öffentliche Krankenhäuser aus medizinischen Gründen. Bei den Ausführungen trug der Gefangene gemäß der Anordnung der Justizvollzugsanstalt jeweils Fesseln und Anstaltskleidung und wurde von zwei uniformierten Justizvollzugsbediensteten begleitet. Der Gefangener wendet sich mit seinen Anträgen gegen diese Sicherungsmaßnahmen und macht im Wesentlichen geltend, dass eine Begleitung durch (nicht uniformierte) Beamte ausreichend gewesen wäre. In all diesen Verfahren hatte der Gefangene jeweils beantragt, ihm (s)eine Rechtsanwältin B. gemäß § 109 Abs. 3 Satz 1 StVollzG beizuordnen. Die Strafvollstreckungskammer hatte diese Anträge abgelehnt. Hiergegen richten sich die Beschwerden des Gefangenen, die beim KG keinen Erfolg hatten:

„b) Die Beschwerden sind jedoch unbegründet, da die im Streit stehenden Ausführungen keine „Maßnahmen“ im Sinne des § 109 Abs. 3 Satz 1 StVollzG sind.

aa) Anlass für die Regelung in § 109 Abs. 3 StVollzG und der damit einhergehenden Privilegierung von Sicherungsverwahrten und Strafgefangenen, bei denen die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung ansteht oder zumindest möglich ist, war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 – (NJW 2011, 1931). In diesem führte das Bundesverfassungsgericht u.a. aus, dass Untergebrachten ein effektiv durchsetzbarer Rechtsanspruch auf Durchführung der Maßnahmen eingeräumt werden müsse, die zur Reduktion ihrer Gefährlichkeit geboten seien. Das von Verfassungs wegen geltende „Rechtsschutz- und Unterstützungsgebot“ erfordere, dem Untergebrachten einen geeigneten Beistand beizuordnen, der ihn in der Wahrnehmung seiner Rechte und Interessen unterstütze (BVerfG a.a.O. S. 1939). Diese Ausführungen hat sich der Gesetzgeber zu Eigen gemacht (vgl. BT-Drucks. 17/9874 S. 27) und mit § 109 Abs. 3 StVollzG eine Regelung getroffen, die es erlaubt, bestimmten Antragstellern unter privilegierten Voraussetzungen einen Rechtsanwalt beizuordnen. Nach dem Willen des Gesetzgebers stellt die Beiordnung – bei Vorliegen der persönlichen Voraussetzungen sowie bei einem Streit über die dort genannten Maßnahmen dann – den Regelfall dar (vgl. BT-Drucks. 17/9874 S. 27).

bb) Eine Beiordnung nach § 109 Abs. 3 Satz 1 StVollzG ist dabei allein im Hinblick auf eine „Maßnahme“ möglich, „die der Umsetzung des § 66c Abs. 1 des Strafgesetzbuches“ dient. Denn die Beiordnung soll nur für solche Streitigkeiten erfolgen, die eine den Leitlinien des § 66c StGB konforme Umsetzung des Abstandsgebotes betreffen (vgl. Senat NStZ 2017, 115). Das ist hier nicht der Fall. Denn es handelt sich vorliegend um keine Maßnahme im Sinne des § 66c Abs. 1 StGB. Im Einzelnen:

Bei den hier konkret im Streit stehenden Ausführungen handelt es sich um keine spezifische „Betreuung“ im Sinne des § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB, insbesondere auch nicht um eine „psychiatrische, psycho- oder sozialtherapeutische Behandlung“. Die Ausführungen waren allein bewilligt worden, um dem Gefangenen medizinische Hilfe außerhalb der Justizvollzugsanstalt, nämlich in der Charité zukommen zu lassen. Diese allgemeine Gesundheitsfürsorge an sich ist aber in aller Regel keine spezifische „Betreuung“ im Sinne der genannten Vorschrift (so schon Senat, Beschluss vom 22. Juli 2021 – 2 Ws 37/21 Vollz –). Nichts Anderes kann für die bloße Ausführung dorthin gelten. Denn ihr Zweck erschöpft sich allein darin, dem Gefangenen dann vor Ort externe ärztliche Hilfe zukommen zu lassen. Entsprechendes hatte der Senat auch schon für die Ausführung von Sicherungsverwahrten zu Gerichtsterminen entschieden (Beschluss vom 5. Dezember 2016 – 2 Ws 242/16 Vollz –). Ebenso wenig betreffen die hier streitigen Einzelmodalitäten der Ausführungen die in § 66c Abs. 1 Nr. 2 StGB beschriebenen grundsätzlichen Anforderungen an die Unterbringung. Dies gilt insbesondere auch für das in lit. b der Vorschrift beschriebene (räumliche) Trennungsgebot. Schließlich handelte es sich auch nicht um eine Maßnahme im Sinne des § 66c Abs. 1 Nr. 3 StGB. Zwar kann auch eine Ausführung grundsätzlich eine „vollzugsöffnende Maßnahme“ im Sinne von lit. a) der Vorschrift sein. Doch dienten die hier bewilligten Maßnahmen gerade nicht der (für Nr. 3 erforderlichen) „Erreichung des in Nummer 1 Buchstabe b genannten Ziels“, nämlich die Gefährlichkeit des Gefangenen zu mindern, sondern galten allein der allgemeinen Gesundheitsfürsorge (§§ 70 ff. StVollzG Bln). Schon aus diesem Grund liegt auch keine Maßnahme im Sinne des § 66c Abs. 1 Nr. 3 lit. b) StGB vor, zumal es sich hier nicht um eine „nachsorgende Betreuung“ handelte.“

Pflichti II: Kleine „Pflichti-Rechtsprechungsübersicht“, oder: Zwei Verteidiger, Rückwirkung und Aufhebung

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Im zweiten Posting dann eine Zusammenstellung verschiedender Entscheidungen aus der letzten Zeit. M.E. reichen hier die Leitsätze.

Und zwar zunächst der Hinweis auf den BGH, Beschl. v. 05.05.2022 – StB 16/22 – zum weiteren Pflichtverteidiger, mit dem der BGH seine Rechtsprechung im BGH, Beschl. v. 24.03.2022 – StB 5/22 – bestätigt:

Nach ihrem Wortlaut hat die Vorschrift des § 144 StPO zur zentralen Voraussetzung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert. Eine solche Bestellung ist somit nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat, also grundsätzlich zur Verfahrenssicherung geeignet ist. Vielmehr muss die Bestellung eines Sicherungsverteidigers zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein. Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger ist daher lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen.

Als zweite Entscheidung dann der – schon etwas ältere – LG Bonn, Beschl. v. 01.03.2022 – 63 Qs 7/22 – u.a. noch einmal zur rückwirkenden Bestellung, und zwar mit folgenden Leitsätzen:

    1. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers kommt nach Einstellung des Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht. Dies kann im Einzelfall anders zu beurteilen sein, etwa wenn der Abweisung des Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers eine sachlich nicht gerechtfertigte, erhebliche Verzögerung der Verfahrensbehandlung vorausgegangen ist.
    2. Bei einer Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist – auch wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden sollte – regelmäßig von einer Schwere der Tat i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO auszugehen.

Und dann als letztes hier der LG Magdeburg, Beschl. v. 11.05.2022 – 25 Qs 33/22 – zur Frage der Aufhebung der Pflichtverteidigebestellung in den Fällen der Haftentlassung. Das LG bestätigt die bisherige Rechtsprechung:

In den Fällen der Pflichtverteidigeraufhebung wegen Haftentlassung ist im Rahmen des insoweit eingeräumten Ermessens stets sorgfältig zu prüfen, ob die frühere mit dem Umstand der Inhaftierung verbundene Behinderung des Angeklagten in seinen originären Verteidigungsrechten und -möglichkeiten entfallen ist oder diese Einschränkung des Angeklagten trotz Aufhebung der Haft fortbesteht und deshalb eine weitere Unterstützung durch einen Verteidiger erfordert.

(Neue) Pausenregelung für den Pflichtverteidiger, oder: Wie berechne ich die Hauptverhandlungsdauer?

Durch das KostRÄndG 2021 ist die Vorbem. 4.1 Abs. 3 VV RVG in das RVG eingefügt worden. Die regelt die Berechnung der in den Fällen des Längenzuschlags für den Pflichtverteidiger maßgeblichen Hauptverhandlungsdauer. Zu der Neuregelung liegt nun die erste Entscheidung vor, und zwar der LG Mannheim, Beschl. v. 11.05.2022 – 4 KLs 300 Js 40140/20.

In dem Verfahren geht es um drei Hauptverhandlungstermine am 5.11., 19.11. und 30.11.2021, für die der Pflichtverteidiger Längenzuschläge geltend gemacht hatte, die aber nicht festgesetzt worden sind. Das LG Mannheim sagt: Zutreffend:

„1. Entgegen des Vorbringens des Rechtsanwalts K ist die Mittagspause bei der Berechnung der Gesamtdauer der Hauptverhandlung für die oben genannten drei Termine abzuziehen. Die in der Erinnerungsbegründung zitierte Rechtsprechung erging vor dem Erlass des Art. 7 Abs. 1 Ziffer 42 des Kostenrechtsänderungsgesetzes vom 21.12.2020 (BGBl. I S. 3229 (Nr. 66)) und damit vor Einführung des Absatzes 3 der Vorbemerkung 4.1 in Anlage 1 Teil 4 RVG. Letztgenannte Vorschrift findet hier nach der Maßgabe von § 60 Abs.1 RVG Anwendung, da sowohl die Auftragserteilung als auch die Beiordnung des Rechtsanwalts K nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung erfolgt sind.

Nach Absatz 3 der Vorbemerkung 4.1 in Anlage 1 Teil 4 RVG sind zwar auch Wartezeiten und Unterbrechungen an einem Hauptverhandlungstag als Teilnahme zu berücksichtigen, wenn es für eine Gebühr auf die Dauer der Teilnahme an der Hauptverhandlung ankommt. Dies gilt jedoch nicht für Unterbrechungen von jeweils mindestens einer Stunde, soweit diese unter Angabe einer konkreten Dauer der Unterbrechung oder eines Zeitpunkts der Fortsetzung der Hauptverhandlung angeordnet wurden.

Wird die Hauptverhandlung durch den Vorsitzenden für unbestimmte Zeit unterbrochen, ist die Dauer der Unterbrechung als Teilnahme an der Hauptverhandlung zu rechnen (vergleiche Toussaint, Kostenrecht, 51. Auflage 2021, RVG VV Vorbemerkung 4.1: Rn. 35; BR-Drs. 565/20, 98). Ordnet der Vorsitzende unter Nennung des Zeitraums eine Unterbrechung an und wird die Hauptverhandlung aus von dem Rechtsanwalt nicht zu vertretenen Gründen erst nach dem genannten Zeitraum fortgesetzt, ist nur der durch den Vorsitzenden angeordnete Zeitraum zu berücksichtigen und nicht die Dauer der tatsächlichen Unterbrechung (Toussaint, ebenda).

2. Diesen gesetzlichen Vorgaben entsprechend ist der Längenzuschlag gemäß Nr. 4116 VV RVG, der entsteht, wenn der gerichtlich bestellte oder beigeordnete Rechtsanwalt mehr als 5 und bis 8 Stunden an der Hauptverhandlung teilnimmt, an keinem der durch den Rechtanwalt K genannten Termine entstanden:

a) Am 05.11.2021 begann die auf 09:00 Uhr terminierte Sitzung um 09:13 Uhr und endete um 14:54 Uhr. Mit Verfügung der Vorsitzenden wurde die Sitzung zur Mittagspause von 12:04 Uhr bis 13:30 Uhr unterbrochen und um 13:36 Uhr fortgesetzt. Mithin ist von dem Zeitraum von 09:00 Uhr bis 14:54 Uhr – 5 Stunden und 54 Minuten – die anberaumte Mittagspause von 12:04 Uhr bis 13:30 Uhr – 1 Stunde und 36 Minuten – abzuziehen, was eine zu berücksichtigende Verhandlungsdauer von 4 Stunden und 28 Minuten ergibt.

b) Am 19.11.2021 begann die auf 09:00 Uhr anberaumte Sitzung um 09:18 Uhr und endete um 14:15 Uhr. Mit Verfügung der Vorsitzenden wurde die Sitzung von 11:36 Uhr bis 13:30 Uhr zur Mittagspause unterbrochen und um 13:30 Uhr fortgesetzt. Mithin ist von dem Zeitraum von 09:00 Uhr bis 14:15 Uhr – 5 Stunden und 15 Minuten – die anberaumte Mittagspause von 11:36 Uhr bis 13:30 Uhr – 1 Stunde 54 Minuten – abzuziehen, was eine zu berücksichtigende Verhandlungsdauer von 3 Stunden und 21 Minuten ergibt.

c) Am 30.11.2021 begann die auf 09:00 Uhr anberaumte Sitzung um 09:15 Uhr und endete um 15:05 Uhr. Mit Verfügung der Vorsitzenden wurde die Sitzung zur Mittagspause von 11:57 Uhr bis 14:00 Uhr unterbrochen und um 14:05 Uhr fortgesetzt. Mithin ist von dem Zeitraum von 09:00 Uhr bis 15:05 Uhr – 6 Stunden und 5 Minuten – die anberaumte Mittagspause von 11:57 Uhr bis 14:00 Uhr – 2 Stunden und 3 Minuten – abzuziehen, was eine zu berücksichtigende Verhandlungsdauer von 4 Stunden und 2 Minuten ergibt.“

M.E. ist die Entscheidung zutreffend. Denn sie entspricht der (neuen) vereinfachten Systematik der Vorbem. 4.1 Abs. 3 VV RVG (dazu auch Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Vorbem. 4.1 Rn 48 ff. und hier mein Beitrag aus StraFo 2021, 8 – Änderungen bei der Vergütung der Verteidiger/Rechtsanwälte in Straf- und Bußgeldsachen durch das KostRÄG 2021.

Danach werden Wartezeiten und Unterbrechungen während eines Verhandlungstags als Teilnahme an der Hauptverhandlung berücksichtigt. Dies gilt nur dann nicht, wenn der Pflichtverteidiger die Wartezeit oder die Unterbrechung zu vertreten hat oder die Unterbrechung länger als eine Stunde

Hinsichtlich der Unterbrechungen/Pausen am Hauptverhandlungstag sind Unterbrechungen und Pausen bis zu einer Stunde immer als Hauptverhandlungszeit zu berücksichtigen. Auf den Grund der Unterbrechung, also z.B. für eine Mittagspause, kommt es nicht (mehr) an vgl. BT-Drucks 19/23484, S. 85). Längere Pausen werden nicht berücksichtigt, wenn der Rechtsanwalt bei der Anordnung der Unterbrechung deren Zeitraum kennt. Dabei ist es ebenfalls unerheblich, aus welchem Grund die Pause gemacht wird, ob als Mittagspause oder aus einem sonstigen Grund.

Das bedeutet hier, dass die angeordneten Pausen von mehr als Stunde bei der Berechnung der Hauptverhandlungszeit nicht zu berücksichtigen waren und zutreffend nicht berücksichtigt worden sind. Soweit die Pausen am 5.11. und am 30.11.2021 länger gedauert haben, als sie angeordnet worden waren, ist das auf jeden Fall ohne Belang für die zu berücksichtigende Hauptverhandlungsdauer, Der Beschluss teilt nicht mit, worauf hier der verzögerte Beginn am 5.11. und am 30.11.2021 zurückzuführen ist, obwohl der Leitsatz 2) dafür sprechen könnte, dass der Verteidiger die Verzögerung zu vertreten hat. Ist das Fall, ist also die längere Dauer auf vom Pflichtverteidiger zu vertretende Umstände zurückzuführen, greift Vorbem. 4 Abs. 3 S. 2 VV RVG. Anderenfalls wären die Verzögerungszeiten zwar zu berücksichtigen (vgl. BT-Drucks. 19723484, S. 84 f.), was aber hier nichts an der Entscheidung geändert hätte. Denn selbst wenn die Verzögerungen auch als Hauptverhandlungsdauer anzusehen (gewesen) wären, würde das aber immer noch nicht gereicht haben, um die „5-Stunden-Marke“ zu überschreiten.