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Befangen II: Die Schweige-/Gedenkminute beim Schwurgericht, oder: Nicht befangen

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Der ein oder andere wird sich vielleicht erinnern. Beim Schwurgericht des LG Oldenburg ist ein Verfahren anhängig, in dem es um die Mitverantwortlichkeit von Klinikmitarbeitern des Oldenburger Klinikums am Tod von Patienten geht. Zu dem Verfahren hatte es bereits ein Strafverfahren gegen einen Krankenpfleger wegen Mordes an Patienten von zwei Kliniken gegeben, in denen der Pfleger tätig war.

Den nunmehr in dem neuen Verfahren Angeschuldigten wird vorgeworfen, jeweils durch Unterlassen Morde sowie versuchte Morde durch den Krankenpfleger ermöglicht zu haben, indem sie es billigend in Kauf nahmen und nichts dagegen unternahmen, dass dieser Patienten durch Injektion verschiedener Medikamente, insbesondere Kalium, tötete. In dem Verfahren sind verschiedene Mitglieder des Schwurgerichts wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt worden, u.a. auch der Vorsitzende. Bei diesem wird insbesondere sein Verhalten im Laufe der vorangegangenen Verfahren gegen den Krankenpfleger, etwa dessen Auftreten gegenüber Zeugen und der Öffentlichkeit, beanstandet. Dabei geht es u.a. auch um eine sog. Schweige-/Gedenkminute.

Das LG hatte insoweit keine Besorgnis der Befangenheit gesehen. Das OLG dann im Beschwerdeverfahren im OLG Oldenburg, Beschl. v. 30.10.2020 – 1 Ws 362/20 – auch nicht:

„2. Gedenkminute

a)  Auf der Grundlage des – auch durch die dienstliche Stellungnahme bestätigten – Vorbringens der Angeschuldigten, bat der Vorsitzende Richter am Landgericht (…) nach Aufruf der Sache in dem gegen FF gerichteten Verfahren zu Az. 5 Ks 800 Js 54254/17 (1/18) in der öffentlichen Hauptverhandlung alle Anwesenden, zu einer Gedenkminute aufzustehen. Er erklärte hierzu an die Angehörigen der (möglicherweise) von FF getöteten Patienten gerichtet, dass alle ihre Angehörigen es verdient hätten, dass man ihrer in Ehren gedenke, unabhängig davon, ob FF etwas mit ihrem Tod zu tun habe oder nicht. Anschließend erhoben sich die Prozessbeteiligten und die anwesenden Zuhörer zu einer Schweigeminute.

b) Ob ein bestimmtes Verhalten des Richters im Verfahren – mag es auch prozessual fehlerhaft gewesen sein – die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigt, ist in besonderem Maße von den Umständen und dem Gesamtzusammenhang des Einzelfalls abhängig. Dies gilt auch für im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden liegende Maßnahmen der Sachleitung nach § 238 Abs. 1 StPO (vgl. Cirener, in BeckOK-StPO, 37 Ed., § 24 Rn. 20). Bei dieser Wertung ist in den Blick zu nehmen, inwieweit die Verfahrensfehler mit einer Einschränkung besonders wesentlicher Verteidigungsrechte einhergehen (vgl. BGH, Urteil vom 09.07.2009 – 5 StR 263/08, juris Rn. 31, insoweit in NJW 2009, 3248 nicht abgedruckt; Cirener a.a.O.). Rechtfertigen können die Ablehnung daher nur grobe, insbesondere objektiv willkürliche oder auf Missachtung grundlegender Verfahrensrechte von Prozessbeteiligten beruhende Verstöße gegen Verfahrensrecht (vgl. KG, Beschluss vom 01.11.2018 – 3 Ws (B) 253/18, juris Rn. 11).

Nach diesen Maßstäben vermag die Anordnung einer Schweigeminute die Besorgnis der Befangenheit nicht zu rechtfertigen. In diesem Zusammenhang kann es der Senat dahingestellt sein lassen, ob und inwiefern eine solche Maßnahme von der Sachleitungsbefugnis des § 238 StPO gedeckt ist. Denn ein solches Vorgehen war hier jedenfalls nicht völlig unvertretbar oder gar willkürlich (vgl. BGH, Beschluss vom 03.12.2015 – 1 StR 169/15, NStZ 2016, 357 <360 Tz. 25>).

So ergibt sich nicht zuletzt aus der – entgegen der Auffassung des Angeschuldigten BB sehr wohl zu berücksichtigenden (vgl. BGH, Urteil vom 02.03.2004 – 1 StR 574/03, NStZ-RR 2004, 208 <209>; Beschluss vom 04.03.2009 – 1 StR 27/09, NStZ 2009, 701 Tz. 5; Urteil vom 18.10.2012 – 3 StR 208/12, juris Rn. 19, insoweit in NStZ-RR 2013, 168 nicht abgedruckt; Urteil vom 28.02.2018 – 2 StR 234/16, NStZ-RR 2018, 186 <187>; Urteil vom 15.05.2018 – 1 StR 159/17, juris Rn. 66) – dienstlichen Stellungnahme des Vorsitzenden Richters am Landgericht (…) durchaus einen nachvollziehbaren Grund für diese Vorgehensweise, welcher einem möglichen Misstrauen die Grundlage zu entziehen geeignet ist:  Der Vorsitzende hat in der Exhumierung der Betroffenen nicht nur einen „Eingriff in die Totenruhe“ gesehen, sondern mit diesem Eingriff gedanklich auch eine „erhebliche emotionale Belastung“ der Angehörigen der Verstorbenen verbunden. Die Bestattungen der Betroffenen hätten zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Jahre zurückgelegen, so dass die Angehörigen zum Zeitpunkt der Exhumierung von den Betroffenen bereits „geordnet Abschied genommen“ hätten. Nach dem Eindruck des Vorsitzenden sei es „vielen Nebenklägern – unabhängig von der Feststellung einer Schuldfrage – auch deswegen so wichtig“ gewesen, weil es für sie „die Möglichkeit einer nun notwendigen erneuten geordneten Abschiednahme“ eröffnet habe. Dies zeigt, dass der Vorsitzende darauf abzielte, die durch das Verfahren belasteten Angehörigen der Exhumierten zu schonen; zugleich lässt dies die Annahme, er habe das Verfahren – so der Vorwurf der Angeschuldigten – „emotionalisieren“ wollen, eher fernliegend erscheinen.

Zudem hat der Vorsitzende Richter sowohl seinerzeit in der Hauptverhandlung als auch in der Stellungnahme deutlich unterstrichen, dass sich das Gedenken „an sämtliche exhumierten Toten“ richten sollte, „deren Umstände ihres Versterbens Gegenstand des Verfahrens“ waren und zwar ausdrücklich unabhängig davon, ob der „Angeklagte etwas mit ihrem Tod zu tun hatte oder nicht“. Er habe keine „Rollenzuschreibung als Opfer“ vorgenommen. Vor diesem Hintergrund liegt eine Verletzung der Unschuldsvermutung fern und es trifft gerade nicht zu, dass ein „Gedenken für Geschädigte“ stets impliziere, diese seien Opfer einer Straftat geworden (a.A. Leitmeier, StV 2019, 282 <284>). Damit geht auch der Einwand des Angeschuldigten BB in seiner Beschwerdebegründung fehl, dass die „Opfer des Mörders FF […] öffentlich gewürdigt werden [sollten].“

Schließlich ist weder ersichtlich noch sonst dargetan, inwiefern durch die Anordnung der Schweigeminute in einem vorangegangen Verfahren wesentliche Verteidigungsrechte der Angeschuldigte im nunmehr anhängigen Verfahren tangiert, geschweige denn gravierend eingeschränkt worden sein sollen, zumal bislang keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass der Vorsitzende Richter am Landgericht (…) auch in dem jetzt anhängigen Verfahren ähnlich verfahren wird.“

Im Übrigen: Auch der Rest des 31 Seiten langen Beschlusses ist „empfehlenswert“. Na ja, ich weiß nicht. Ist vielleicht dann insgesamt doch ein wenig viel, oder?

Geldbuße I: Verstöße gegen Corona-VO, oder: Vorsatz bzw. Jugendlicher

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Heute dann Entscheidungen zur Geldbuße – mal nicht nur zu Corona, wie an den letzten Montagen. Aber ganz ohne Corona geht es auch nicht. Denn hier im ersten Posting habe ich zwei OLG-Entscheidungen, die sich mit der Höhe der Gledbuße bei Corona-Verstößen befassen.

In dem Zusammenhnag weise ich zunächst noch einmal auf den OLG Hamm, Beschl. v. 28.01.2021 – 4 RBs 446/20 – hin, über den ich ja schon berichtet hatte (Corona II: “Zusammenkunft oder Ansammlung” schon bei zwei Personen, oder: CoronaschutzVO NRW ist ok). In der Entscheidung hat das OLG auch Ausführungen zur Bußgeldbemessung gemacht, und zwar:

b) Die Höhe der verhängten Geldbuße hat jedoch keinen Bestand.

Die Bußgeldbemessung liegt grundsätzlich im Ermessen des Tatrichters, weshalb sich die Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht darauf beschränkt, ob der Tatrichter von rechtlich zutreffenden Erwägungen ausgegangen ist und von seinem Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht hat (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2001, 278).

Der Bußgeldkatalog der CoronaSchVO NRW (Stand 30.03.2020) sieht für vorsätzliche oder fahrlässige Verstöße gegen das Ansammlungsverbot gemäß § 12 Abs. 1 CoronaSchVO NRW für jeden Beteiligten ein Bußgeld in Höhe von 200,00 Euro vor. Auch wenn dieser als Verwaltungsrichtlinie keine Rechtsatzqualität hat und damit für die Gerichte nicht bindend ist, darf er mit Blick auf eine möglichst gleichmäßige Behandlung aller gleichgelagerten Fällen nicht gänzlich außer Betracht bleiben (vgl. Göhler/Gürtler, a.a.O, § 17 Rn. 32).

Vorliegend hat das Amtsgericht allein unter Hinweis auf die vorsätzliche Begehung der Tat auf eine erhöhte Geldbuße von 230,00 Euro erkannt. Den Urteilsgründen ist jedoch nicht zu entnehmen, ob das Amtsgericht überhaupt bedacht hat, dass der Bußgeldkatalog grundsätzlich für einen vorsätzlichen Verstoß, sofern es sich nicht um eine Wiederholungstat handelt, eine Geldbuße von 200,00 Euro vorsieht. Die Begründung für die Höhe der verhängten Geldbuße reicht deshalb nicht aus. Einer Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht bedarf es deswegen jedoch nicht. Der Senat entscheidet vielmehr nach § 79 Abs. 6 OWiG in der Sache selbst und hält eine Geldbuße in Höhe von 200,00 Euro für schuldangemessen. Erschwerende Tatumstände waren nicht ersichtlich. Insbesondere handelte es sich um einen Erstverstoß. Soweit der Betroffene nach den Urteilsfeststellungen einige Tage zuvor gemeinsam mit anderen Personen beim Picknick bzw. Grillen von der Polizei angetroffen worden war, ist es lediglich zu einer Verwarnung gekommen.“

Die zweite Entscheidung kommt vom OLG Oldenburg. Das AG hatte die Betroffene, die zur Tatzeit knapp 16 Jahre alt war, wegen Verstoßes gegen die Niedersächsische Verordnung über die Beschränkung sozialer Kontakte zur Eindämmung der Corona Pandemie vom 7.4.2020 zu einer Geldbuße von 250 € verurteilt. Das passt dem OLG so nicht. Es hat im OLG Oldenburg, Beschl. v. 11.01.2021 – 2 Ss (OWi) 3/21 – den Rechtsfolgenausspruch des AG-Urteils aufgehoben:

„2. Als rechtsfehlerhaft erweist sich allerdings die Bemessung der Geldbuße durch das Amtsgericht.

Das Amtsgericht hat insoweit festgestellt, dass die Betroffene Schülerin sei. Sie lebe mit ihren älteren Geschwistern und ihren Eltern in einem Haushalt. Ihr Vater bestreite das Familieneinkommen. Derzeit beziehe dieser ein Krankengeld in Höhe von 1.000 €. Die Betroffene verfüge über ein monatliches Taschengeld in Höhe von 15 €. Über sonstiges Einkommen verfüge sie nicht.

Nicht zu beanstanden ist, dass das Amtsgericht eine Geldbuße gegen die Betroffene verhängt und sich dabei zunächst an der vorgesehenen Regelgeldbuße orientiert hat.

Eine Reduzierung allein deshalb, weil ein Betroffener Jugendlicher oder Heranwachsender ist, ist nicht geboten. Umgekehrt ist es aber nicht geboten, allein deshalb nicht zu reduzieren, weil gemäß § 98 OWiG die Geldbuße bei Nichtzahlung unter anderem in die Erbringung von Arbeitsleistungen umgewandelt werden kann, da diese Vorschrift lediglich das Vollstreckungsverfahren betrifft.

Es gelten vielmehr die allgemeinen Grundsätze für die Geldbußenbemessung (vgl. OLG Düsseldorf NZV 1992, 418; BeckOK OWiG, Stand 01.10.2020 – Graf, § 17 Rn. 21). Gemäß § 17 Abs. 3 OWiG ist Grundlage für die Zumessung der Geldbuße die Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und der Vorwurf, der den Täter trifft. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters kommen in Betracht; bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten bleiben sie jedoch in der Regel unberücksichtigt.

Dem angefochtenen Urteil lässt sich nicht entnehmen, ob die eingeschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten der Betroffenen berücksichtigt worden sind.

Dabei kann dahinstehen, ab wann eine geringfügige Ordnungswidrigkeit anzunehmen ist (vergleiche hierzu OLG Hamm DAR 2020, 214), da auch bei einer solchen die wirtschaftlichen Verhältnisse gemäß § 17 Abs. 3 Satz 2 OWiG nur „in der Regel“ unberücksichtigt bleiben. Liegen aber Anhaltspunkte für schlechte finanzielle Verhältnisse des Betroffenen vor, was unter anderem auch bei jugendlichem Alter der Fall sein kann (vergleiche Göhler-Gürtler/Thoma, OWiG 18. Aufl. § 17 Rn. 24), ist die Feststellung der wirtschaftlichen Verhältnisse angezeigt.

Dementsprechend hat das Amtsgericht hier in jedem Fall zu Recht Feststellungen getroffen.

Die Betroffene verfügt danach nur über ein „Einkommen“ in Höhe von 15 Euro, das im Hinblick auf die Regelgeldbuße außergewöhnlich niedrig ist. Die Geldbuße beträgt nämlich das knapp 17fache eines „Monatseinkommens“. Die Regelsätze des Bußgeldkataloges gehen aber von durchschnittlichen wirtschaftlichen Verhältnissen aus. Die nach den bisher getroffenen Feststellungen deutlich unterdurchschnittlichen wirtschaftlichen Verhältnisse wären deshalb im Rahmen der Bemessung der Geldbuße zu berücksichtigen gewesen.

Zwar sind die Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Betroffenen rechtsfehlerfrei getroffen worden. Gleichwohl hebt der Senat sie auf, da nicht auszuschließen ist, dass sich zum Zeitpunkt der neuen Hauptverhandlung insoweit Änderungen ergeben haben. Maßgebend ist nämlich der Zeitpunkt der Entscheidung (Göhler a.a.O. Rn. 21). Um einer derartigen zumindest denkbaren Änderung Rechnung tragen zu können und die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Taschengeldempfängers nicht nur aus dem Taschengeld, sondern im wesentlichen aus allen ihm zufließenden Leistungen, insbesondere auch Unterhalt und seinem Vermögen bestehen (vergleiche OLG Düsseldorf NZV 1997, 410) und auch nicht gänzlich auszuschließen ist, dass die Betroffene über Vermögenswerte verfügt, entscheidet der Senat nicht in der Sache selbst, sondern verweist die Sache im Umfang der Aufhebung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurück.“

U-Haft III: Begriff „derselben Tat“, oder: „besondere Schwierigkeit“/„besonderer Umfang der Ermittlungen“

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Und als dritte U-Haft-Entscheidung dann noch der OLG Oldenburg, Beschl. v. 25.01.2021 – 1 HEs 1/21 -, auch im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO ergangen.

Die amtlichen Leitsätze befassen sich mit dem Begriff „derselben Tat“. Insoweit hat das OLG dem Beschluss folgende Leitsätze mitgegeben:

  1. Im Rahmen des § 121 StPO ist ein von demjenigen des § 264 StPO abweichender, erweiterter Tatbegriff zugrunde zu legen.
  2. Dies hat zur Folge, dass im Falle des Erlasses eines Urteils – welches auf eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung in einem Verfahren erkennt, in welchem ein weiterer Haftbefehl vorliegt, welcher auf Taten gestützt wird, die in den ersten Haftbefehl hätten einbezogen werden können, da sie dem erweiterten Tatbegriff unterfallen – eine Prüfung der Haftfortdauer gem. § 121 StPO hinsichtlich beider Haftbefehle jedenfalls vom Erlass des Urteils an bis zum Abschluss des Verfahrens bzw. zur Aufhebung des (weiteren) Haft-befehls nicht zu erfolgen hat.
  3. In die im Anschluss daran für die Vorlage maßgebende Frist gem. § 121 Abs. 2 StPO ist zumindest die Zeitspanne vom Erlass des Urteils bis zum Verfahrensabschluss bzw. der Aufhebung des Haftbefehls in diesem Verfahren auch dann nicht einzubeziehen, wenn das Parallelverfahren nicht mit einer Verurteilung endet.
  4. Die Frist bestimmt sich alleine nach der vom Zeitpunkt möglicher Einbeziehung der Taten in den Haftbefehl bis zum Erlass des Urteils verstrichenen Zeit unter Hinzuziehung der nach Verfahrensabschluss laufenden Zeitspanne.
  5. Ob darüber hinaus auch die Dauer der Hauptverhandlung selbst auf dem Hintergrund des § 121 Abs. 3 Satz 2 StPO unberücksichtigt zu bleiben hat, kann vorliegend angesichts der Urteilsverkündung am ersten Hautverhandlungstag dahinstehen.

Aber das OLG macht auch Ausführungen zur „Beschleunigung“, und zwar:

„b) Die besonderen Voraussetzungen für den Vollzug von Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen ebenfalls vor. Auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Akten erst nach Fristablauf vorgelegt worden sind und deshalb erhöhte Anforderungen an die Prüfung des wichtigen Grundes zur Fortdauer der Untersuchungshaft zu stellen sind (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 20.01.2013 – 2 BL 3/03, NStZ-RR 2003, 143; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14.03.1997 – 3 HEs 91/97, NStZ 1997, 452), rechtfertigen die besondere Schwierigkeit der Ermittlungen sowie der besondere Umfang der Sache die Fortdauer der Untersuchungshaft.

Der Verlängerungsgrund der „besonderen Schwierigkeit“ und des „besonderen Umfangs der Ermittlungen“ lässt sich vor allem mit der Anzahl und den Besonderheiten der aufzuklärenden Taten, dem Ausmaß der erforderlichen Ermittlungen – auch wenn sie dadurch mitbedingt sind, dass der Beschuldigte von seinem Schweigerecht nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO Gebrauch macht –, der Notwendigkeit, aufgetretene Widersprüche zu klären, der zeitraubenden Auswertung einer Vielzahl von Dokumenten, der Anzahl der Beschuldigten, Zeugen und Sachverständigen sowie der Schwierigkeiten ausländischer Ermittlungen rechtfertigen (vgl. Schultheis, in KK-StPO8, § 121 Rn. 14 m.w.N.).

Dies ist hier der Fall.

Die Strafverfolgungsorgane haben insbesondere seit der Festnahme des Beschuldigten sowie der Mitbeschuldigten alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen getroffen, die Ermittlungen so schnell wie möglich voranzutreiben. Von den Ermittlungsbehörden zu vertretende Verfahrensverzögerungen sind nicht ersichtlich. Vielmehr hat die Staatsanwaltschaft und die mit den polizeilichen Ermittlungen betraute Ermittlungsgruppe der Zentralen Kriminalinspektion Osnabrück, die seit dem 2. Juni 2020 über einen beachtlichen Personalbestand von 25 Beamten/-innen verfügt, – wie aus dem Übersendungsbericht der Staatsanwaltschaft Osnabrück vom 5. Januar 2021 ersichtlich – nahezu werktäglich das Verfahren gefördert.

Der Umstand, dass die Ermittlungen in der hiesigen Sache gleichwohl bis heute nicht abgeschlossen werden konnten, ist allein dem Umfang der Ermittlungen und der Vielzahl der im Raume stehenden Straftaten der Beschuldigten, die nach Lage der Akten einen Gesamtschaden im zweistelligen Millionenbereich zu verantworten haben, geschuldet. Es sind weit mehr als 1000 Urkunden auf ihre Echtheit zu prüfen. Von insgesamt ca. 130 Datenträgern, die bislang bei den Beschuldigten sichergestellt wurden und die einen Gesamtdatenbestand von mehreren Terabyte aufweisen, sind bislang etwa 100 ausgewertet worden. Das Einlassungsverhalten der Beschuldigten trägt ebenfalls zur besonderen Schwierigkeit der Ermittlungen bei: Auch wenn der Beschuldigte die Begehung der Taten zulasten der EE GmbH, der FF GmbH und der CC GmbH eingeräumt hat, ist dies durch weitere Ermittlungen zu überprüfen, da dessen schriftliche Einlassung an zahlreichen weiteren Punkten nach Aktenlage nachweislich wahrheitswidrig ist. Ob und in welchem Umfang der Beschuldigte im Rahmen seiner Vernehmung vom 17. November 2020 die Wahrheit gesagt hat, wird zur Zeit ermittelt. Das Einlassungsverhalten des Mitbeschuldigten GG erschwert ebenfalls die Ermittlungen, indem er etwa erst unter dem 3. September 2020 den PIN-Code seines sichergestellten Mobiltelefons den Ermittlungsbehörden mitgeteilt, dessen Auslesen bis dato nicht möglich war. Seine am 18. September 2020 eingegangene Einlassung ist bereits nach Aktenlage widerlegt und ersichtlich von dem Bestreben getragen, Mitbeschuldigte zu schonen. Nach Aktenlage besteht ferner der Verdacht, dass auch die Mitbeschuldigte HH lediglich Teile ihres Tatwissens preisgegeben hat. Der Mitbeschuldigte II schweigt hingegen bis heute; auf seine Computer konnten die Ermittlungsbehörden bis dato keinen Zugriff nehmen, da sie verschlüsselt sind. Nennenswerte Aufklärungsbemühungen gehen einzig von der Mitbeschuldigten JJ aus, die allerdings nach Aktenlage eine Vielzahl an offenen Fragen schlichtweg nicht beantworten kann. Zudem tragen die derzeitige Covid-19-Pandemie und die damit einhergehenden Maßnahmen zum Zwecke des Arbeits- und Infektionsschutzes ebenfalls nicht zur Beschleunigung des Verfahrens bei. Schließlich sind Rechtshilfeersuchen nach Andorra und Großbritannien, die in separaten AR-Vorgängen gestellt wurden, bis heute nicht beantwortet worden.

Von der Möglichkeit, aus Gründen des Beschleunigungsgebotes Teilanklage gegen den Beschuldigten und die weiteren Beschuldigten zu erheben, konnte kein Gebrauch gemacht werden, da keiner der – auch für sich genommenen äußerst umfangreichen – Ermittlungskomplexe aufgrund des Umfangs und der besonderen Schwierigkeit der Sachlage polizeilich ausermittelt werden konnte.“

StPO II: Terminsverlegung (hier wegen Corona), oder: Sitzen die richtigen Schöffen auf der Richterbank?

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Die zweite Entscheidung kommt mit dem OLG Oldenburg, Beschl. v. 14.05.2020 – 1 Ws 190/20 – vom OLG Oldenburg. Der Beschluss ist schon etwas älter. Es hat aber leider gedauert, bis ich den im Volltext vorliegen hatte.

Das OLG hat im Rahmen der Bescheidung eines Besetzungseinwandes (§§ 222a, 222b stPO) zur Frage der „richtigen“ Besetzung einer Strafkammer Stellung genommen. Die Angeklagte hatte geltend gemacht, die Strafkammer, bei der die Hauptverhandlung stattfinden sollte, sei nicht richtig besetzt, und zwar seien die Richterbank mit den falschen Schöffen besetzt. Hintergrund der Rüge ist, dass die Hauptverhandlung wegen der Corona-Krise nicht an dem zunächst geplanten Terminstag beginnen konnte, sondern der Beginn knapp vier Wochen verschoben worden war und die Hauptverhandlung erst an dem Tag begonnen worden ist, der regulär schon der 4. Verhandlungstag gewesen wäre. Die Angeklagte war der Auffassung, es seien die für den zunächst geplanten Terminstag ausgelosten Schöffen zuständig (gewesen) und nicht die für den Terminstag, an dem das Verfahren tatsächlich begonnen wordne ist.

Das haben das LG und das OLG Oldenbrug – m.E. zutreffemd – anderes gesehen:

„Auch durch die Heranziehung der für den 28. April 2020 ausgelosten Schöffen ergibt sich keine vorschriftswidrige Besetzung des Gerichts. Die Frage, ob die für einen ordentlichen Sitzungstag, hier etwa den 1. April 2020, ausgelosten Schöffen zu einer an einem anderen Sitzungstag beginnenden Hauptverhandlung heranzuziehen sind, stellt sich nur, wenn es sich hierbei um einen anderen als einen ordentlichen Sitzungstag handelt (vgl. BGH, Urteil v. 14.07.1995, 5 StR 532/94, BGHSt 41, 175, Rz. 13). Vorliegend hat die Hauptverhandlung in-dessen am 28. April 2020 und damit an einem ordentlichen Sitzungstag begonnen, für den die Schöffinnen BB und CC am 14. November 2019 der 2. großen Strafkammer zugelost worden sind. Damit waren sie und nicht die – was die Rüge allerdings mitzuteilen unterlässt (s.o.) – mit ihnen nicht identischen, für den 1. April 2020 ausgelosten Schöffen für die am 28. April 2020 begonnene Hauptverhandlung heranzuziehen.

Auch der Senat vermag daher die begehrte Feststellung, dass das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt ist (§ 222b Abs. 3 Satz 4 StPO), nicht zu treffen.“

StGB III: Das Werfen mit dem „Cafestuhl“ oder: Besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs?

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Und als dritte und letzte Entscheidung des Tages stelle ich dann das OLG Oldenburg, Urt. v. 23.11.2020 – 1 Ss 166/20 – vor.

Entschieden hat das OLG über folgenden Sachverhalt:

„Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es im Zusammenhang mit einem Fußballländerspiel zwischen der niederländischen und der deutschen Nationalmannschaft am TT.MM 2018 in der Innenstadt von Amsterdam vor dem Café „(pp.)“, Straße1, zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe Deutscher und einer Gruppe Niederländern, die aus Anlass des Fußballspiels nach Amsterdam gereist waren, wobei diese aufeinander einschlugen und eintraten und sich mit Stühlen aus dem Außenbereich des Cafés bewarfen. Der Angeklagte, der zunächst an einer Grachtenfahrt teilgenommen hatte, entschloss sich, an dieser Auseinandersetzung teilzunehmen. In der Folge wirkte er in der aus mindestens 25 Personen bestehenden deutschen Gruppe mit, indem er sich gewalttätig gerierte und in der Folgezeit insgesamt drei Caféstühle aus Metall mit Lehnen in Richtung der niederländischen Gruppe warf. Dabei nahm er zumindest billigend in Kauf, einen Niederländer zu treffen und zu verletzen. Ob durch den ersten geworfenen Stuhl jemand getroffen wurde, vermochte die Kammer nicht festzustellen. Der zweite Stuhl ging bereits vor Erreichen der Niederländer zu Boden. Beim dritten Wurf war ein Niederländer gezwungen, eine Ausweichbewegung zu machen, um nicht von dem Stuhl getroffen zu werden.“

Auf der Grundlage dieser Feststellungen ist der Angeklagte wegen Landfriedensbruchs unter Annahme eines unbenannten besonders schweren Falls (§ 125a Satz 1 StGB) verurteilt worden. Dagegen die Revision, die im Ergebnis keinen Erfolg hatte:

3. Auch die Strafzumessung hält im Ergebnis revisionsrechtlicher Prüfung stand.

a) Das Landgericht hat die Tat als unbenannten besonders schweren Fall im Sinne des § 125a Satz 1 StGB eingestuft. Zwar liege keines der Regelbeispiele vor. Indem aber der Angeklagte dreifach Gegenstände auf Personen geworfen habe, wobei es Zufall sei, dass keine erheblichen Verletzungen entstanden seien, sei die Tat den Regelbeispielen vergleichbar. Wenngleich die Gefahr schwerer Gesundheitsschädigungen nicht bestanden habe, gehe das Verhalten deutlich über den bereits ohne die Stuhlwürfe erfüllten Grundtatbestand des § 125 StGB hinaus.

b) Diese Erwägungen sind – worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 14. September 2020 zu Recht hinweist – nicht unbedenklich.

Die Annahme eines unbenannten besonders schweren Falles erfordert, dass die Tat im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut mit den benannten Regelbeispielen vergleichbar ist. Indem das Landgericht zwar auf eine mögliche erhebliche Verletzung abstellt, indessen ausdrücklich das Fehlen der Voraussetzungen des § 125a Satz 2 Nr. 3 StGB feststellt, liegt insoweit eine Vergleichbarkeit gerade nicht vor. Das wiederholte Werfen allein vermag die Annahme eines unbenannten besonders schweren Falles ebenfalls nicht zu begründen.

c) Indessen beruht die Strafzumessung nicht auf diesem Rechtsfehler.

Denn entgegen der Auffassung der Strafkammer ist durch das Werfen mit einem Metallstuhl das Regelbeispiel des § 125a Satz 2 Nr. 2 StGB erfüllt. Anders als bis zur Änderung dieser Vorschrift durch das 44. Strafrechtsänderungsgesetz (m.W.v. 05.11.2011) erfordert dieses Regelbeispiel nicht mehr das Beisichführen einer anderen Waffe als einer Schusswaffe in Verwendungsabsicht, sondern lässt hierfür das Beisichführen eines anderen gefährlichen Werkzeugs ausreichen. In der aktuellen und auch zur Tatzeit gültigen Fassung das 52. Strafrechtsänderungsgesetz (m.W.v. 30.05.2017) bedarf es nicht einmal mehr der Verwendungsabsicht beim Beisichführen.

Ein Beisichführen liegt bereits dann vor, wenn sich der Täter des Gegenstandes ohne Schwierigkeiten bedienen kann, also etwa durch Ergreifen eines auf dem Boden liegenden Pflastersteines während der Tat (vgl. MüKo-Schäfer, StGB, 3. Aufl., § 125a Rz. 19). Die von dem Angeklagten geworfenen Metallstühle stellen auch gefährliche Werkzeuge im Sinne dieses Regelbeispiels dar. Hierunter fallen auch Gegenstände, die zwar nicht bei bestimmungsgemäßem Gebrauch, wohl aber nach ihrer objektiven Beschaffenheit und der Art ihrer Benutzung im Einzelfall geeignet sind, erhebliche Verletzungen zuzufügen. Dazu zählen nicht nur Flaschen, Steine etc., sondern etwa auch als Wurfgeschoss verwendete Plastikklappstühle (vgl. KG, Urteil v. 06.07.2010, 1 Ss 462/09, bei juris Rz. 20). Das Werfen von Caféstühlen aus Metall erfüllt daher, wovon bereits die unverändert zugelassene Anklage vom 29. Oktober 2019 zutreffend ausgegangen ist, erst Recht das Regelbeispiel. Die Kommentierung bei Fischer (StGB, 67. Aufl., § 125a Rz. 4) steht dem nicht entgegen. Diese bezieht sich, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, allein auf die Frage, ob mitgeführte Alltagsgegenstände auch ohne Verwendungsabsicht schon geeignet sind, das Regelbeispiel zu erfüllen. Hierauf kommt es aber angesichts der durch die Würfe dokumentierten tatsächlich vorliegenden Absicht, die Gegenstände als Werkzeug gegen Personen einzusetzen (vgl. dazu BGH, Beschluss v. 26.03.2019, 4 StR 381/18, bei juris Rz. 21; LK-Krauß, StGB, 12. Aufl., § 125a Rz. 17), nicht an.

Eine über diese Gebrauchsabsicht hinausgehende Verletzungsabsicht ist hingegen nicht erforderlich. Soweit das Kammergericht in seiner Entscheidung vom 6. Juli 2010 (a.a.O., Rz. 22) dahingehende Feststellungen für erforderlich gehalten hat, um zur Bejahung eines besonders schweren Falles des Landfriedensbruchs zu gelangen, ist dieses der damaligen, andere gefährliche Werkzeuge nicht umfassenden Ausgestaltung des Regelbeispiels in § 125a Satz 2 Nr. 2 StGB geschuldet. Angesichts des damaligen Wortlauts der Vorschrift wäre es mit dem Analogieverbot nicht vereinbar gewesen, durch die Annahme eines unbenannten besonders schweren Falles im Sinne von § 125a Satz 1 StGB das Beisichführen eines anderen gefährlichen Werkzeugs in Verwendungsabsicht ohne Weiteres dem das Regelbeispiel des § 125a Satz 2 Nr. 2 StGB erfüllenden Beisichführen einer Waffe in Verwendungsabsicht gleichzustellen. Der deswegen durch das Kammergericht aufgestellten weitergehenden Anforderungen an die subjektive Tatseite bedarf es aber nach der Erweiterung des Regelbeispiels auf andere gefährliche Werkzeuge nicht mehr.

Angesichts der Ausführungen des Landgerichts schließt der Senat aus, dass dieses bei Annahme eines benannten statt eines unbenannten Regelbeispiels gleichwohl zu Gunsten des Angeklagten von der Anwendung des für besonders schwere Fälle vorgegebenen Strafrahmens abgewichen wäre. Die Festsetzung der danach zulässigen Mindeststrafe beschwert den Angeklagten nicht. Gleiches gilt auch für Strafaussetzung zur Bewährung.“