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Staatsschutzsache beim Jugendschöffengericht, oder: Pauschgebühr wegen „besonderer Schwierigkeit“

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Und dann zum Wochenschluss noch etwas fürs Portemonnaie.

Zunächst hier eine Entscheidung des OLG München Pauschvergütung (§ 51 RVG) – ja, es gibt sie doch noch. Und dann auch noch vom OLG München, das m.E. sonst an der Stelle recht „zugeknöpft“ ist. Es geht im OLG München, Beschl. v. 02.01.2023 – 1 AR 280/22 – um die Frage der „besonderen Schwierigkeit“ i.S. von § 51 Abs. 1 RVG bei einem Staatsschutzdelikt eines Jugendlichen.

Der Kollege Riggenmann aus Ausgbrug, der mit die Entscheidung geschickt hat, war Pflichtverteidiger in einem JGG-Verfahren beim Jugendschöffengericht, in dem dem Angeklagten die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat in Tateinheit mit Sichverschaffens einer Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zur Last gelegt worden ist. Der Kollege hat nach Abschluss des Verfahrens die Gewährung einer Pauschgebühr nach § 51 RVG beantragt. Das OLG hat für die Tätigkeit als Pflichtverteidiger des Angeklagten im Vorverfahren und im Hauptverfahren eine Pauschgebühr in Höhe von 2.000,00 EUR bewilligt:

„Gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 und 3 RVG ist Voraussetzung der Bewilligung einer Pauschgebühr, die über die gesetzlichen Gebühren hinausgeht, dass diese wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache bzw. des betroffenen Verfahrensabschnitts nicht zumutbar ist. Die Bewilligung einer Pauschgebühr stellt dabei die Ausnahme dar; die anwaltliche Mühewaltung muss sich von sonstigen – auch überdurchschnittlichen Sachen – in exorbitanter Weise abheben (BGH, Beschluss vom 11. Februar 2014 – 4 StR 73/10, Rn. 5; Beschluss vom 17. September 2013 – 3 StR 117/12, Rn. 5). Bei der Beurteilung ist ein objektiver Maßstab zu Grunde zu legen (vgl. BVerfG, NJW 2005, 1264, 1265 mwN). Entscheidend ist, ob die konkrete Strafsache selbst umfangreich war und infolge dieses Umfangs eine zeitaufwändigere, gegenüber anderen Verfahren erhöhte Tätigkeit des Verteidigers erforderlich geworden ist. Dabei ist nur der Zeitaufwand berücksichtigungsfähig, der allein aus verfahrensbezogenen Tätigkeiten des Pflichtverteidigers herrührt, nicht hingegen solcher, der seinen Grund in nur verteidigerbezogenen/persönlichen Umständen hat (OLG Saarbrücken, Beschluss vom 24. August 2010 – 1 AR 2/09, Rn. 18 zitiert nach juris; OLG Hamm, NStZ 2007, 343).

Bei der Festsetzung einer etwaigen Pauschgebühr kommt es hierbei auf eine Gesamtschau der den Pflichtverteidiger be- und entlastenden Umstände an (Senatsbeschluss vom 17.02.2021,1 1 AR 280/22     – Seite 3 -AR 22/21; so auch Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 22. April 2020 – VerfGH 177/19 –, juris; NStZ RR 2020, S. 191/192).

Auch nach Ansicht des Senats handelte es sich nicht um ein besonders umfangreiches Verfahren. Anders als der Antragsteller meint, entspricht der Aktenumfang – auch unter Berücksichtigung der Sonderbände – noch dem für ein erstinstanzliches Verfahren vor dem Jugendschöffengericht senatsbekannt häufigen Umfang. Selbst ein überdurchschnittlicher Aktenumfang vermag nur dann eine Pauschgebühr gem. § 51 Abs. 1 RVG zu begründen, wenn er besonders ist und die gesetzlichen Gebühren für den Pflichtverteidiger ein unbilliges Sonderopfer bedeuten würden. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Jedoch rechtfertigt vorliegend die besondere Schwierigkeit der Sache i.S.d. § 51 Abs. 1 S.1 RVG die Gewährung einer Pauschgebühr. Gegenstand des Verfahrens ist unter anderem ein Staatsschutzdelikt, die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat in Tateinheit mit Sichverschaffens einer Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Bei Erwachsenen ergäbe sich die sachliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts, mit der Folge, dass die Gebühren gemäß VV 4118 zu Anwendung kommen. Bei Erwachsenen ist hierbei der Schwierigkeitsgrad einer Staatsschutzsache zumindest im Grundsatz bereits durch die erhöhten Verfahrens- und Terminsgebühren für Verfahren im ersten Rechtszug vor den Oberlandesgerichten berücksichtigt (Burhoff/Volpert aaO Rdn. 36 bezogen auf die ebenfalls von VV RVG 4118 erfassten Schwurgerichtssachen und Wirtschaftsstrafsachen), ebenso wie die sogenannten Haftzuschläge bei dem inhaftierten Mandanten eine gewisse Kompensation des hierdurch erhöhten Aufwandes intendieren (OLG München Beschl. v. 16.3.2018 – 8 St (K) 3/18, BeckRS 2018, 19729). Eine entsprechende Regelung in Strafverfahren gegen Jugendliche fehlt. Infolge des Tatvorwurfs ist bei der konkreten Strafsache eine zeitaufwändigere, gegenüber anderen Verfahren vor dem Jugendschöffengericht erhöhte Tätigkeit des Verteidigers erforderlich geworden.“

Pauschgebühr bei „überlappenden Umfangsverfahren“, oder: Pauschale Kürzung um 10 %

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Im zweiten Posting stelle ich den OLG München, Beschl. v. 25.11.2021 – 7 St (K) 4/21 vor. Der ist schon etwas älter, nämlich heute genau ein Jahr, ich bin auf den Beschluss aber erst vor kurzem gestoßen. Ich stelle ihn trotz des Alters hier noch vor, da er zu einer interessanten Frage Stellung nimmt, nämlich der Höhe der Pauschgebühr bei sich „überlappenden Umfangsverfahren“.

Die Pflichtverteidigerin war als Verteidigerin in einem erstinstanzlichen Verfahren vor dem Staatsschutzsenat des OLG München tätig. Diese endete am 28.07.2020 mit der Verurteilung des Angeklagten nach 234 Hauptverhandlungstagen wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren 6 Monaten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Die gesetzlichen Gebühren für das Verfahren betragen 146.464 EUR. Die Pflichtverteidigerin hat am 31.03.2021/18.06.2021 die Bewilligung eines Vorschusses auf eine zu erwartende Pauschgebühr gem. § 51 Abs. 1 Satz 1 und 5 RVG in Höhe von insgesamt 312.212,50 EUR beantragt. Die Vertreterin der Staatskasse hat sich dazu dahin geäußert, dass eine Anhebung der gesetzlichen Gebühren für Tätigkeiten im Vorfeld angemessen sei Hinsichtlich der geltend gemachten Pauschalgebühren für die Teilnahme an der Hauptverhandlung bestünden keine Einwendungen gegen eine Zubilligung an der Obergrenze der Wahlverteidigerhöchstgebühren. Ggf. sei aber vergütungsmindernd zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin parallel im sog. NSU-Verfahren (Verhandlungsbeginn im Mai 2013, Urteil am 11.07.2018) als Nebenklagevertreter tätig gewesen sei und ihr insoweit für ihre Tätigkeit als Nebenklagevertreter für einen Nebenkläger eine Pauschgebühr von 391.128 EUR bewilligt worden sei.

Das OLG hat einen Vorschuss auf eine Pauschvergütung bewilligt. Nach Auffassung des OLG macht die Pflichtverteidigerin den Anspruch auf Gewährung eines Vorschusses auf eine Pauschvergütung – allerdings nicht in der geltend gemachten Höhe – zurecht geltend.

Ich stelle die recht umfangreiche Begründung des Beschlusses, so weit es um die besondere Schwierigkeit und den besonderen Umfang und die Einzelbemessung der Gebühren geht , hier nicht ein, sondern verweise insoweit auf den verlinkten Volltext. Die Ausführungen des OLG kann man zusammenfassen in dem (Leit)Satz:

Das Verfahren ist sowohl besonders umfangreich als auch besondere schwierig i.S.d. § 51 RVG, wenn sich im Aktenbestand über 150 Bände Sachakten und etwa 100 Bände Personenakten befinden, Tatvorwürfe über einen Zeitraum von rund zwölf Jahren verhandelt wurden, die Hauptverhandlung an insgesamt 234 Hauptverhandlungstagen und über einen Zeitraum von über vier Jahren stattfand und es sich um das erste Verfahren im Hinblick auf eine zur Last gelegte Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung namens TKP/M handelt.

Hier geht es mir heute um die Frage der „Überlappung“ der beiden Umfangsverfahren und das Umgehen des OLG mit dem Umstand. Dazu führt der Senat aus:

„7. Bei der Bemessung der Pauschgebühr war zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin im über mehrere Jahre parallel verlaufenden sog. NSU-Verfahren ebenfalls eine Pauschvergütung in Höhe von insgesamt 391.128 EUR erhalten hatte. Im Hinblick auf die überschneidende Dauer der Verfahren vom Beginn der Hauptverhandlung in dieser Sache am 17.06.2016 bis zur Urteilsverkündung im Verfahren 6 St 3/12 am 11.07.2018 kann das Sonderopfer, das der Verteidiger mit der Übernahme der Mandate übernimmt, nicht in voller Höhe doppelt berücksichtigt werden.

Eine Kürzung rechtfertigt sich aus dem Grundgedanken der Pflichtverteidigung und der Pauschvergütung: Die Bestellung zum Pflichtverteidiger ist eine besondere Form der Indienstnahme Privater zu öffentlichen Zwecken. Sinn der Pflichtverteidigung ist es nicht, dem Anwalt zu seinem eigenen Nutzen und Vorteil eine zusätzliche Gelegenheit beruflicher Betätigung zu verschaffen. Ihr Zweck besteht ausschließlich darin, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass der Beschuldigte in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird. Angesichts der umfassenden Inanspruchnahme des Pflichtverteidigers für die Wahrnehmung dieser im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe hat der Gesetzgeber die Pflichtverteidigung nicht als eine vergütungsfrei zu erbringende Ehrenpflicht angesehen, sondern den Pflichtverteidiger honoriert. Der Umstand, dass sein Vergütungsanspruch unter den als angemessen geltenden Rahmengebühren des Wahlverteidigers liegt, ist durch einen vom Gesetzgeber im Sinne des Gemeinwohls vorgenommenen Interessenausgleich, der auch das Interesse an einer Einschränkung des Kostenrisikos berücksichtigt, gerechtfertigt, sofern die Grenze der Zumutbarkeit für den Pflichtverteidiger gewahrt ist. In Strafsachen, die die Arbeitskraft des Pflichtverteidigers für längere Zeit ausschließlich oder fast ausschließlich in Anspruch nehmen, gewinnt die Höhe des Entgelts für den Pflichtverteidiger existenzielle Bedeutung. Für solche besonderen Fallkonstellationen gebietet das Grundrecht des Pflichtverteidigers auf freie Berufsausübung eine Regelung, die sicherstellt, dass ihm die Verteidigung kein unzumutbares Opfer abverlangt. Dieses Ziel stellt § 51 Abs. 1 RVG sicher (vgl. BVerfGE 68, 237, 255; BVerfG NJW 2007, 3420; BVerfG NJW 2019, 3370).

Mit Blick auf die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung stellt der Senat darauf ab, ob die Höhe des Entgelts für die im Rahmen der Hauptverhandlung entfaltete Tätigkeit wegen für längere Zeit währender ausschließlicher oder fast ausschließlicher Inanspruchnahme für den Pflichtverteidiger von existenzieller Bedeutung ist. Für die Zeiträume der Überschneidung von NSU-Verfahren und dem hiesigen Verfahren kann von einer ausschließlichen Inanspruchnahme für die Pflichtverteidigung in diesem Verfahren nicht die Rede sein. Soweit die Antragstellerin selbst vorträgt, dass sie neben dem hiesigen Verfahren noch im sog. NSU-Verfahren tätig war, kann auch nur bedingt von fast ausschließlicher Inanspruchnahme für die Pflichtverteidigung in diesem Verfahren ausgegangen werden, da ja ein anderes ungewöhnlich umfangreiches Verfahren noch parallel betrieben wurde. Ein vollständiger Ausschluss einer Pauschvergütung für den Überschneidungszeitraum erscheint unter Billigkeitsgesichtspunkten angesichts des ebenso außergewöhnlichen Umfangs des hiesigen Verfahrens aber dennoch nicht angemessen.

Der Senat geht stattdessen davon aus, dass eine pauschale Kürzung der nach den obigen Ausführungen berechneten gesamten Pauschgebühr um 10 % auch unter Berücksichtigung des nicht unerheblichen Zeitraums, in dem die Antragstellerin nicht mehr in beiden Verfahren tätig war (Juli 2018 bis Juli 2020) angemessen erscheint.

Damit ergibt sich folgende Rechnung: 253.970 EUR ./. 10 % (25.397 EUR) = 228.573 EUR.“

Die vom OLG gewährte/errechnete (Ursprungs)Pauschgebühr ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Denn, wenn nicht in einem solchen Verfahren, wann soll dann noch eine Pauschgebühr gerechtfertigt sein? Das Verfahren hat sich rund vier Jahre hingezogen. Dafür wären rund 146.500 EUR gesetzliche Gebühren entstanden, also rund 36.600 EUR/Jahr oder rund 3.000 EUR/Monat. Die Pauschgebühr hatte also schon „existenzielle Bedeutung“ für die Pflichtverteidigerin.

Allerdings: Man darf m.E. nicht übersehen, dass das nur gilt, wenn man Verfahren isoliert betrachtet, was man hier aber kaum kann. Denn die Pflichtverteidigerin hat über einen gewissen Zeitraum zwei Umfangsverfahren gleichzeitig betrieben, so dass man schon – zumindest auf der Grundlage der Rechtsprechung der OLG – nicht aus dem Auge verlieren darf, dass auch für das zweite Verfahren eine Pauschgebühr gewährt worden ist. Von daher ist es m.E. gerechtfertigt, wenn das OLG hier die Pauschgebühr kürzt und das damit begründet, dass „nur bedingt von fast ausschließlicher Inanspruchnahme für die Pflichtverteidigung in diesem Verfahren ausgegangen werden“ kann. Damit entfällt – zumindest teilweise – ein Argument für die Gewährung einer Pauschgebühr, dass die OLG immer zur Begründung heranziehen. Man wundert sich, dass das sonst nicht sehr „großzügige“ OLG hier „nur“ einen pauschalen Abschlag von 10 % vornimmt. Man hätte sich auch einen höheren Abschlag vorstellen können, wobei ein vollständiger Ausschluss der Pauschgebühr in diesem Verfahren sicherlich deshalb nicht gerechtfertigt gewesen wäre, weil die Pflichtverteidigerin dieses Verfahren immerhin rund zwei Jahre ausschließlich betrieben hat.

bea II: Elektronisches Dokument im Zivilverfahren, oder: Einfache Signatur, Glaubhaftmachung, GBO

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Und nach den Entscheidungen von heute Mittag (vgl. dazu: beA I: elektronisches Dokument im Strafverfahren, oder: Technische Infrastruktur, Professor, StA) hier dann die Entscheidungen zu den Fragen aus dem Zivilverfahren bzw., was damit zu tun hat. Teilweise haben die Entscheidungen, wenn es um allgemeine Frage geht, natürlich auch für das Strafverfahren Bedeutung.

An erster Stelle hier der BGH, Beschl. v. 07.09.2022 – XII ZB 215/22 – zu einfachen Signatur:

Die einfache Signatur im Sinne des § 130a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 ZPO meint die einfache Wiedergabe des Namens am Ende des Textes, beispielsweise bestehend aus einem maschinenschriftlichen Namenszug unter dem Schriftsatz oder einer eingescannten Unterschrift. Nicht genügend ist das Wort „Rechtsanwalt“ ohne Namensangabe (im Anschluss an BAG, Beschluss vom 14. September 2020 – 5 AZB 23/20, BAGE 172, 186 = NJW 2020, 3476 und BSG, Beschluss vom 16. Februar 2022 – B 5 R 198/21 B, NJW 2022, 1334).

An zweiter Stelle der BGH, Beschl. v. 21.09.2022 – XII ZB 264/22 – zur Frage der Wiedereinsetzung/Glaubhaftmachung, und zwar:

    1. Die Glaubhaftmachung der vorübergehenden Unmöglichkeit der Einreichung
      eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument bedarf einer aus sich
      heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe
      oder Umstände, deren Richtigkeit der Rechtsanwalt unter Bezugnahme auf
      seine Standespflichten anwaltlich versichern muss.
    2. Eine nachgeholte Glaubhaftmachung dreieinhalb Wochen nach der Ersatz-
      einreichung ist nicht unverzüglich erfolgt.

Die dritte Entscheidung, der OLG Schleswig, Beschl. v. 13.10.2022 – 7 U 160/22 – verhält sich auch noch einmal zu Wiedereinsetzungsfragen, und zwar wie folgt:

    1. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird nur gewährt, wenn eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert war, eine Notfrist einzuhalten. Dabei muss sich die Partei nach § 85 Abs. 2 ZPO das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Es gilt der berufsbedingt strenge Sorgfaltsmaßstab, sodass insoweit regelmäßig eine Fristversäumnis verschuldet ist, wenn sie für einen pflichtbewussten Rechtsanwalt abwendbar gewesen wäre.
    2. Die Berufungsschrift darf nicht beim Ausgangsgericht, sondern muss beim zuständigen Berufungsgericht (in diesem Fall beim OLG Schleswig) eingelegt werden. Ein Rechtsanwalt hat durch entsprechende organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht.
    3. Seit dem 01.01.2022 müssen vorbereitende Schriftsätze gemäß § 130 d ZPO als elektronisches Dokument eingereicht werden. Gemäß § 130 a Abs. 5 S. 2 ZPO wird dem Absender nach der Übermittlung eine „automatisierte Bestätigung“ über den Zeitpunkt des Eingangs mitgeteilt.
    4. Das Fristenwesen einer Anwaltskanzlei muss sicherstellen, dass dem Rechtsanwalt die Akten von Verfahren, in denen Rechtsmittelfristen laufen, rechtzeitig vorgelegt werden und zusätzlich eine Ausgangskontrolle schaffen, durch die zuverlässig gewährleistet wird, dass fristwahrende Schriftsätze auch tatsächlich an das zuständige Gericht rechtzeitig hinausgehen. Dabei ist die für die Kontrolle zuständige Bürokraft anzuweisen, dass Fristen im Kalender erst dann als erledigt zu kennzeichnen sind, nachdem sie sich anhand der Akte selbst vergewissert hat, dass zweifelsfrei nichts mehr zu veranlassen ist. Schließlich gehört zu einer wirksamen Fristenkontrolle auch eine Weisung, dass die Erledigung der fristgebundenen Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders nochmals und abschließend selbstständig überprüft wird. Das Erfordernis der allabendlichen Fristenkontrolle hat gerade den Sinn, durch eine doppelte Prüfung möglichst alle Fehlerquellen bei der Einhaltung von Fristen auszuschließen.
    5. Eine wirksame Fristen- und Ausgangskontrolle darf nicht nur mit der bloßen Anwaltssoftware (hier „RA-Micro“) erfolgen, sondern erfordert auch einen Vergleich anhand des Fristenkalenders und der Handakte. Das Büropersonal ist bereits vor Anfertigung und Verarbeitung der Berufungsschrift anzuweisen, in der entsprechenden Anwaltssoftware (hier „RA-Micro“) das zuständige Berufungsgericht einzupflegen.
    6. Die Ursächlichkeit einer falschen Gerichtsadressierung entfällt lediglich dann, wenn ein an sich schuldhaftes Verhalten sich wegen eines Fehlers des unzuständigen Gerichts nicht entscheidend auswirkt. Kausalität wäre in diesem Fall nur dann nicht gegeben, wenn die Fristversäumnis bei pflichtgemäßer Weiterleitung des Schreibens an das zuständige Gericht vermieden worden wäre. Das wäre aber nur dann der Fall, wenn die fristgerechte Weiterleitung an das zuständige Gericht im ordentlichen Geschäftsgang erwartet werden konnte.

Und als letzte Entscheidung dann noch der OLG München, Beschl. v. 07.09.2022 – 34 Wx 323/22 – zum elektronischen Dokument im Grundbuchverfahren, und zwar:

Wird ein über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) eingereichter Schriftsatz ausgedruckt, liegt – unabhängig davon, ob der elektronische Rechtsverkehr im Grundbuchverfahren eröffnet ist – ein schriftlicher Antrag i.S. v. § 13 GBO vor. Ergibt sich aus den Umständen eindeutig, wer Antragsteller ist, muss das Schriftstück nicht von diesem unterschrieben sein.

U-Haft I: Überwachung von Telefongesprächen, oder: Auch noch, wenn es nur noch um die Rechtsfolgen geht

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Heute dann noch einmal Entscheidungen, die mit U-Haft zu tun haben. Allerdings nicht mit der Anordnung von U-Haft, sondern mit deren Vollzug, vor allem also mit U-Haft-Beschränkungen.

Und den Opener mache ich mit dem OLG München, Beschl. v. 25.05.2022 – 2 Ws 283/22 – zur Aufrechterhaltung von Haftbeschränkungen zur Abwendung von Verdunkelungsgefahr auch noch in einem Verfahren, in dem nur noch über den Rechtsfolgenausspruch zu verhandeln ist. Der Angeklagte befindet sich seit dem 28.06.2019 in U-Haft/Unterbringung wegen des dringenden Verdachts der Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch eines Kindes und Nötigung. Es ist u.a. bestimmt, dass Telekommunikation des Angeklagten der Erlaubnis bedarf und ggf. zu überwachen ist. In der Folge Erlaubnisse wurden für Telefonate zwischen dem Angeklagten und seinen Eltern Erlaubnisse erteilt.

Am 13.07.2021 ist der Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Vergewaltigung und Nötigung schuldig gesprochen worden, gegen ihn wurde eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren verhängt und die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Den Haftbefehl ist nach Maßgabe des Urteils aufrecht erhalten worden.

Auf Revision des Angeklagten hat der BGH das Urteil am 22.03.2022 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Inzwischen befinden sich die Akten wieder „in der Instanz“.

Der Verteidiger des Angeklagten hat beantragt, die Anordnung über die akustische Überwachung der Telefonate zwischen dem Angeklagten und dessen Eltern aufzuheben. Der Antrag hatte keinen Erfolg:

„2. In der Sache hat das Rechtsmittel keinen Erfolg. Denn die Voraussetzungen für eine Überwachung der Telekommunikation des Angeklagten mit seinen Eltern liegen weiterhin vor.

Gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 2 StPO kann das Haftgericht anordnen, dass Telekommunikation eines Untersuchungsgefangenen überwacht wird, soweit dies unter anderem zur Abwehr von Verdunkelungsgefahr erforderlich ist. Das gilt auch dann, wenn sich der Haftbefehl – wie hier – auf einen anderen Haftgrund stützt (Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, 2019, § 119, Rn 16).

Im vorliegenden Fall besteht nach wie vor die Gefahr, dass der Angeklagte unüberwachte Telefonate mit seinen Eltern zu Verdunkelungshandlungen missbrauchen würde. Dass er die verfahrensgegenständliche Tat eingeräumt hat und der gegen ihn ergangene Schuldspruch rechtskräftig ist, steht dem nicht entgegen. Denn aufgrund der Teilaufhebung des Urteils ist über den Rechtsfolgenausspruch neu zu verhandeln, und aus in dem Urteil wiedergegebenen Äußerungen des Angeklagten gegenüber seinen Therapeuten ergibt sich, dass er mit Nachdruck eine Unterbringungsanordnung gemäß § 63 StGB auch im vorliegenden Verfahren anstrebt (vgl. insbesondere Bl. 51 der Urteilsgründe, sechster Absatz). Angesichts dessen liegt es nahe, dass der Angeklagte einen Wegfall der Telekommunikationsüberwachung zu nutzen versuchen würde, um in Telefonaten mit seinen Eltern manipulativ darauf hinzuwirken, dass diese in der neuen Verhandlung als Zeugen Angaben zu seiner psychischen Verfassung vor der Tat machen, die geeignet wären, den Rechtsfolgenausspruch im erläuterten Sinne zu seinen Gunsten zu beeinflussen (gemäß § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO stünde das Verschlechterungsverbot der Anordnung einer Unterbringungsmaßregel gemäß § 63 StGB in der neuen Verhandlung nicht entgegen).

Konkreter Anhalt dafür, dass der Angeklagte eine Aufhebung der Telekommunikationsüberwachungsanordnung zu entsprechenden Verdunkelungshandlungen nutzen würde, resultiert daraus, dass er im Ermittlungsverfahren gezielt eine angeordnete Haftbeschränkung umging: Aufgrund der diesbezüglichen Ausführungen im vorletzten Absatz auf Seite 3 des Nichtabhilfebeschlusses hat der Senat die seinerzeitige Berichterstatterin des Hauptsachverfahrens vor der 20. Strafkammer des Landgerichts München I, Frau Richterin am Landgericht P., zu dem konkreten Hintergrund des dort erwähnten Vorfalls befragt. Diese erklärte, dass eine als sachverständige Zeugin vernommene Ärztin des BKH S. im Hauptverhandlungstermin vom 14.04.2021 ausgesagt habe, der Angeklagte sei zu einem Zeitpunkt, zu dem ihm die erforderliche Erlaubnis, Telefonate zu führen, noch nicht vorlag, an einen im Besitz einer Telefonkarte befindlichen Mitpatienten herangetreten und habe diesen dazu überredet, ihm – dem Angeklagten – die Telefonkarte vorübergehend zu überlassen, um damit ein unüberwachtes Telefonat mit seinen Eltern zu führen. Der Senat hat keinen Grund daran zu zweifeln, dass Frau Richterin am Landgericht P. die Aussage der Ärztin zutreffend wiedergegeben hat. Dass deren Angaben nicht den Tatsachen entsprechen, sondern gleichsam aus der Luft gegriffen sind, ist auszuschließen. Der Senat teilt die Bewertung des Landgerichts, wonach aus jenem Vorfall eine grundsätzliche Bereitschaft des Angeklagten zu einer Gefährdung der Haftzwecke mittels gezielter Manipulationen abzuleiten ist.

Da mildere Mittel zur Verhinderung einer manipulativen Einflussnahme des Angeklagten auf seine in der neuen Verhandlung als Zeugen in Betracht kommenden Eltern nicht gegeben sind, ist die Aufrechterhaltung der beschwerdegegenständlichen Anordnung auch nicht unverhältnismäßig. Das durch Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Interesse des Angeklagten an vertraulicher innerfamiliärer Kommunikation hat unter den gegebenen Umständen hinter dem staatlichen Interesse an einer Meidung missbräuchlicher Einwirkungen auf die neue Verhandlung über den Rechtsfolgenausspruch zurückzustehen.“

Corona II: Masketragen und Abstand in der HV, oder: Die Sicherungsverfügung des Vorsitzenden

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Und als zweite Entscheidung dann noch einmal eine Sicherungsverfügung für die Hauptverhandlung. Dazu hat das OLG München im OLG München, Beschl. v. 17.05.2022 – 4d Ws 166/22 – Stellung genommen.

Folgender Sachverhalt: Die Vorsitzende der 1. Jugendkammer des Landgerichts München II hat am 22.06.2021 für eine am 23.08.2021 im Sitzungssaal in der S.straße 10 in M. beginnende Hauptverhandlung eine Sicherungsverfügung erlassen, in der unter Ziffer III. besondere Regelungen zur Vermeidung von Infektionen mit dem Erreger SARS-CoV-2 enthalten sind.

Unter Ziffer III.1. wird ausgeführt, dass nach dem aktuellen Hygieneplan (Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin M. vom 31.08.2020 bzw. 02.03.2021) im Zuschauerbereich des Sitzungssaals insgesamt 23 Sitzplätze für die Saalöffentlichkeit zur Verfügung stünden, von denen 11 Sitzplätze für Journalisten reserviert seien. Weiter enthält die Verfügung den Hinweis, dass ausschließlich die als solche gekennzeichneten Sitzplätze benutzt werden dürften. Die dazwischenliegenden Plätze hätten zur Einhaltung des Sicherheitsabstandes von 1,5 m frei zu bleiben; ihre Benutzung sei untersagt.

In Ziffer III.2. wird im Zuhörerbereich des Sitzungssaals wie auch im Sicherheitsbereich um den Sitzungssaal für das Sicherheitspersonal sowie für alle Zuhörer und Pressevertreter das stetige Tragen eines medizinischen Mund-Nasen-Schutzes (Maske der Schutzklasse FFP 2/KN 95 ohne Ausatemventil oder vergleichbar) vor Beginn, während und nach Ende der Sitzung angeordnet.

Ziffer II.3. regelt für alle Verfahrensbeteiligten (Gericht, Protokollführer, Staatsanwaltschaft, Nebenkläger, Nebenklägervertreter, Sachverständige, Verteidiger und Angeklagte) das Tragen eines medizinischen Mund-Nasen-Schutzes, und zwar entweder das Tragen einer OP-Maske oder einer Maske der Schutzklasse FFP 2/KN 95 ohne Ausatemventil, im Sitzungssaal. Ausgenommen von dieser Pflicht sind diejenigen Verfahrensbeteiligten, denen während der Hauptverhandlung das Wort zu mündlichen Ausführungen erteilt ist.

Weiter behält sich die Vorsitzende vor, im Einzelfall unter bestimmten näher dargelegten Umständen die Maskentragungspflicht für einzelne Verfahrensabschnitte und/oder einzelne Verfahrensbeteiligte aufzuheben. Zudem wird geregelt, dass Zeugen und Sachverständige ihre Zeugenaussage/Gutachtenserstattung ohne Mund-Nasen-Bedeckung abzugeben hätten.

Mit Verfügung vom 03.05.2022 hat die Vorsitzende der 1. Jugendkammer des Landgerichts München II die Verpflichtung zur stetigen Maskentragungspflicht für das Sicherungspersonal, die Zuhörer und Pressevertreter in Ziffer III.2. der Sicherungsverfügung vom 22.06.2021 dahingehend modifiziert, dass nunmehr auch für sie und damit nunmehr für alle im Sitzungssaal anwesenden Personen das Tragen einer medizinischen Maske im Sinne einer sogenannten OP-Maske ausreichend sei.

Dagegen die Beschwerde des Angeklagten und der Verteidiger, die beim OLG keinen Erfolg hatte.

Das OLG sieht das Rechtsmittel als zulässig, aber unbegründet an:

„Die Anordnung, zum Schutz vor einer COVID-19-Infektion in der Hauptverhandlung eine medizinische Maske zu tragen, ist vorliegend von der Ermächtigung der Vorsitzenden zur Ausübung der Sitzungspolizei gemäß § 176 Abs. 1 GVG gedeckt und beruht auch auf einer fehlerfreien Ausübung des Ermessens der Vorsitzenden. Die Regelung des § 176 Abs. 1 GVG ermächtigt zu allen Maßnahmen, die für den ungestörten und gesetzesmäßigen Ablauf der Sitzung nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlich sind (KK-Diemer, StPO, § 176 GVG Rdn.1).

Dazu zählen auch Maßnahmen zum Schutz der Verfahrensbeteiligten, sodass sich die Ermächtigung auch auf Maßnahmen zur Verhinderung einer Ansteckung mit dem Coronavirus bezieht (OLG Celle, aaO; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 28.09.2020 – 1 BvR 1948/20 -, juris).

Der Vorsitzenden kommt dabei ein weiter Ermessensspielraum zu, wobei sich das Ermessen darauf bezieht, ob überhaupt eingeschritten wird und in welcher Weise auf eine drohende Störung unter Abwägung der betroffenen Rechtsgüter bei Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu reagieren ist (OLG Celle aaO).

Die dabei ergangene Entscheidung unterliegt im Beschwerdeverfahren nur der Prüfung, ob die Vorsitzende ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt und den Zweck sowie die Grenzen des Ermessens beachtet hat. Verwehrt ist dem Beschwerdegericht die Überprüfung der Zweckmäßigkeit sitzungspolizeilicher Maßnahmen (OLG Celle aaO; OLG Stuttgart aaO).

Gemessen an diesen Grundsätzen halten die Sicherungsverfügung vom 22.06.2021 und ihre Abänderung in Ziffer III. 2. mit Verfügung vom 03.05.2022 der Nachprüfung stand.

Es begegnet keinen Bedenken, dass die Vorsitzende das Tragen einer medizinischen Maske in der Hauptverhandlung zum Schutz vor einer Coronainfektion für geeignet hält, das Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus während der Sitzung zu reduzieren. Dies entspricht der Einschätzung des Robert-Koch-Instituts, wonach das Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung das Infektionsrisiko verringern könne (vergleiche Robert-Koch-Institut, Risikobewertung zu COVID-19 vom 05.05.2022). Somit ist die Anordnung geeignet, mögliche Infektionen im Gerichtssaal zu verhindern oder die Wahrscheinlichkeit dafür zu reduzieren.

Es ist auch die Annahme der Vorsitzenden nicht zu beanstanden, dass in geschlossenen Räumen neben der durch die Gerichtsverwaltung bereits festgelegten Mindestabstandsregelung und der Höchstzahlbestimmung anwesender Personen keine Maßnahmen zur Verfügung stehen, die ergänzend zu den Anordnungen der Verwaltung das Ansteckungsrisiko ebenso wirksam wie das Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung reduzieren könnten.

Eine Mund- und Nasenbedeckung wird in geschlossenen Räumen einen höheren Schutz vor Infektionen bieten als das bloße Einhalten eines Abstands und das Lüften der Räumlichkeiten bei gleichzeitiger Beschränkung der Anzahl der anwesenden Personen.

Dies entspricht auch den Ausführungen des Robert-Koch-Instituts in seiner Risikobewertung zu COVID-19 vom 05.05.2022, wonach angesichts der weiterhin hohen Zahl von Neuinfektionen die konsequente kumulative Einhaltung von Hygiene, Lüften, Abstandhalten, Kontakteinschränkung und Maskentragung zur Reduktion des Infektionsrisikos erforderlich sind. Die Maßnahmen weisen nach den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts die höchste Effektivität auf, wenn sie bei einem Zusammentreffen von allen anwesenden Personen eingehalten werden.

Da danach mehrere in Betracht kommende aber noch nicht ausreichende Maßnahmen bereits durch die vorgegebenen Regelungen der Gerichtsverwaltung ausgeschöpft sind, bleibt zur weiteren Reduzierung des Risikos die Anordnung der Mund- und Nasenbedeckung. Die kumulative Anwendung dieser Maßnahmen entspricht den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts.

Die Vorsitzende ist im Rahmen ihrer Ermessensausübung rechtsfehlerfrei auch davon ausgegangen, dass die Anordnung der Mund- und Nasenbedeckung verhältnismäßig im engeren Sinne und damit angemessen ist.

Die Anordnung enthält eine geringfügige Belastung für die Beschwerdeführer und die Sitzungsteilnehmer. Das Tragen einer Maske ist grundsätzlich weder gesundheitsgefährdend noch ruft es körperliche Schmerzen oder gleichwertige nichtkörperliche Beeinträchtigungen hervor. Für den Einzelfall sieht die Anordnung Befreiungsmöglichkeiten vor. Dieser eher geringen Belastung der Sitzungsteilnehmer hat die Vorsitzende die Gefahr einer COVID-19-Infektion gegenübergestellt und dabei das Infektionsschutzinteresse für überwiegend gehalten. Dabei hat die Vorsitzende nicht verkannt, dass mittlerweile insgesamt das Infektionsgeschehen rückläufig ist, die bayerische Staatsregierung im öffentlichen Leben insbesondere hinsichtlich der Maskenpflicht die Coronamaßnahmen gelockert hat und die weiteren Hygienemaßnahmen während der Sitzungen ebenfalls einen Schutz bieten. Es begegnet rechtlich jedoch keinen Bedenken, dass die Vorsitzende diesen Umständen bei ihrer Abwägung letztlich weniger Gewicht beigemessen hat als den Risiko erhöhenden, sich nach wie vor in einer hohen Infektionsgefahr manifestierenden Gesichtspunkten.

Diese Umstände rechtfertigen es, die Anordnung der Vorsitzenden als angemessen anzusehen. Die Hauptverhandlung ist das Zusammentreffen einer Vielzahl von Personen in einem geschlossenen Raum mit einem vergleichsweise hohen Infektionsrisiko. Auch der Umstand, dass alle Verfahrensbeteiligten zur Teilnahme an der Hauptverhandlung verpflichtet sind, ohne selbst die Hygienemaßnahmen im Saal wesentlich beeinflussen zu können, spricht für die Schaffung eines hohen Schutzes. Somit war die Vorsitzende berechtigt, unter Ausübung ihres Ermessens, die angefochtene Anordnung gemäß § 176 Abs. 1 GVG zu verfügen.

Der Anordnung steht auch nicht die Regelung in § 176 Abs. 2 GVG entgegen, deren Satz 1 bestimmt, dass an der Verhandlung beteiligte Personen ihr Gesicht während der Sitzung weder ganz noch teilweise verhüllen dürfen.

Denn § 176 Abs. 2 Satz 2 GVG sieht weiter vor, dass die Vorsitzende Ausnahmen vom Verbot des Verhüllens gestatten kann, wenn und soweit die Kenntlichmachung des Gesichts weder zur Identitätsfeststellung noch zur Beweiswürdigung notwendig ist. In Ausübung pflichtgemäßen Ermessens kann die Vorsitzende daher Ausnahmen von § 176 Abs. 2 Satz 1 GVG bestimmen.

§ 176 Abs. 2 Satz 1 GVG bezweckt keineswegs eine Beschränkung der Befugnisse des Vorsitzenden zur Aufrechterhaltung der Ordnung (BayObLG, Beschluss vom 09.08.2021, BeckRS 2021, 25633). Vielmehr ging es dem Gesetzgeber um eine Entlastung des Vorsitzenden, der nicht mehr verpflichtet sein sollte, ein Verbot der Gesichtsverhüllung im Interesse der Sachaufklärung aussprechen und gegebenenfalls begründen zu müssen (Bay ObLG aaO).

Der sitzungspolizeilichen Anordnung der Vorsitzenden stehen auch nicht die Vorschriften der Art. 2 Abs. 1, Art. 11 Abs. 2 Satz 3, Art. 15 Satz 3 BayRiStAG i.V.m. Art. 75 BayBG entgegen, die vorsehen, dass Richter, Staatsanwälte und ehrenamtliche Richter bei Ausübung des Dienstes ihr Gesicht nicht verhüllen dürfen, es sei denn dienstliche Gründe erforderten dies. Eine sitzungspolizeiliche Anordnung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im Sitzungssaal, die sich auf vernünftige Gründe des Gemeinwohls stützt, um die Wahrscheinlichkeit einer COVID-19-Infektion zu senken, stellt einen dienstlichen Grund im Sinne dieser Vorschriften zur teilweisen Verhüllung des Gesichts dar.

Die Befugnis zu sitzungspolizeilichen Anordnungen der Vorsitzenden bezieht sich auch auf die am Strafverfahren beteiligten Verteidiger (Meyer-Goßner/Schmitt aaO § 176 Rdn.10).

Bei Zuwiderhandlungen gegen Anordnungen der Vorsitzenden kommen bei Ihnen jedoch Zwangsmaßnahmen gemäß § 177 GVG regelmäßig nicht zur Anwendung, da der Gesetzgeber erwartet, dass sich Verteidiger – wie alle am Verfahren beteiligten Organe der Rechtspflege – an rechtmäßige sitzungspolizeiliche Anordnungen halten.

Es begegnet im Hinblick auf die angeordneten Maßnahmen der Sicherungsverfügung keinen rechtlichen Bedenken, dass die Sechzehnte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 01.04.2022 und das Infektionsschutzgesetz vom 20.03.2022 für eine Hauptverhandlung vor Gericht weder eine Verpflichtung zum Tragen einer medizinischen Gesichtsmaske noch die weiteren angeordneten Maßnahmen vorsehen. Die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung enthält dazu lediglich allgemeine Verhaltensempfehlungen.

Die Sicherungsverfügung beruht auf § 176 Abs. 1 GVG und nicht auf dem Infektionsschutzgesetz und auch nicht auf der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung. Letztere haben für ihren Regelungsbereich die schützenswerten wirtschaftlichen Interessen von Einrichtungen und Veranstaltern an einem möglichst ungehinderten Besucher- und Kundenverkehr zu berücksichtigen und gegen den Infektionsschutz abzuwägen (OLG Celle NStZ-RR 2022, 58). Bei sitzungspolizeilichen Anordnungen sind ökonomische Interessen nicht berührt. Maßgeblich sind dafür die Umstände der jeweiligen Hauptverhandlung und Gesichtspunkte des Infektionsschutzes.

Soweit die Beschwerdeführer sich gegen das Hygienekonzept für den Sitzungssaal in der S.straße 10 und damit zusammenhängend gegen die maximal zugelassene Anzahl der anwesenden Personen sowie das Mindestabstandsgebot wenden, handelt es sich nicht um eine von der Vorsitzenden der Strafkammer in der Sicherungsverfügung getroffene Regelung.

Das Abstandsgebot und die einzuhaltende Kapazitätsgrenze wurden im Rahmen des vom Präsidenten des Oberlandesgerichts M. festgelegten Hygienekonzepts durch die Gerichtsverwaltung für den Sitzungssaal bestimmt. Auch die Auswahl und Zuweisung des Sitzungssaals durch die Gerichtsverwaltung wird nicht durch die Sicherungsverfügung der Vorsitzenden geregelt.