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(Mehrfacher) Anfall der Grundgebühr, oder: Begriff des Rechtsfalls

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Schon etwas länger hängt in meinem Blogordner der OLG Hamm, Beschl. v. 10.06.2021 – 4 Ws 85/21 u. 4 Ws 104/21, den ich heute dann aber endlich vorstellen will. Dabie geht es mir hier nur um die mit der Grundgebühr zusammenhängenden Fragen. Die verfahrensrechtliche Problematik, zu der das OLG Stellung genommen hat, lasse ich mal außen vor.

Für die Problematik: „Grundgebühr“ ist Folgender von Bedeutung

„Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG:

Auch hier folge ich den Ausführungen des Bezirksrevisors, insbesondere in seiner ausführlichen Stellungnahme hierzu vom 23.02.2021.

Die Gebühr entsteht nach Abs. 1 für die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall nur einmal, unabhängig davon, in welchem Verfahrensabschnitt sie erfolgt.

Die Grundgebühr hat einen eigenen Abgeltungsbereich. Sie honoriert den zusätzlichen Arbeitsaufwand des RA, der einmalig mit/bei/nach der Übernahme des Mandates für die erstmalige Einarbeitung entsteht. Das ist einmal das erste, häufig nicht sehr lange Gespräch mit dem Mandanten. Hierzu gehört vor allem idR die erste Akteneinsicht nach § 147 StPO. Weitere, im Verlauf des Verfahrens und sich anschließender Verfahrensabschnitte durchgeführte Akteneinsichten werden nicht mehr von der Grundgebühr, sondern von den jeweiligen Verfahrensgebühren abgegolten. Auch das „eingehende Studium“ der Verfahrensakten wird nicht mehr von der Grundgebühr erfasst (Gerold/Schmidt/Burhoff, 24. Aufl. 2019, RVG VV 4100 Rn. 1, 6, 10 f.; HK-RVG/Ludwig Kroiß, 8. Aufl. 2021, RVG VV 4100 Rn. 19 ff.).

Der vom Gesetz verwendete Begriff des Rechtsfalls ist legal nicht definiert.

Teilweise wird „Rechtsfall“ mit „Angelegenheit“ in § 15 RVG als bedeutungsgleich behandelt (Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, Teil 1: Justiz, Anwaltschaft, Notariat Vergütungsverzeichnis VV RVG Nr. 4100 -4103 Rn. 6, 7, beck-online).

Aus seiner Schaffung ist zu schließen, dass er mit dem Begriff der Angelegenheit (vgl. §§ 15 ff. RVG) aber nur entfernt verwandt, keinesfalls aber identisch ist. Aus Anmerkung Abs. 2 kann allerdings hergeleitet werden, dass es sich um den Lebenssachverhalt handelt, der den Gegenstand des Ermittlungsverfahrens bildet. Unter „Rechtsfall“ ist die gesamte Strafsache von Beginn des Ermittlungsverfahrens bis zum Ende der Revisionsinstanz zu verstehen (BeckOK RVG/Knaudt, 51. Ed. 1.3.2021, RVG VV 4100 Rn. 8).

Soweit der Begriff des Rechtsfalls nicht definiert ist, finden sich insbesondere auch keine Anhaltspunkte, wie er von den Begriffen der „Angelegenheit“, der „Tat“ oder der „Handlung“ abzugrenzen ist. Für den Rechtsfall ist wohl auf den Tatvorwurf, und wie er von den Ermittlungsbehörden verfahrensmäßig behandelt wird, abzustellen (HK-RVG/Ludwig Kroiß, 8. Aufl. 2021, RVG VV 4100 Rn. 23).

Wie die Kammer in dem (aufzuhebenden) Beschluss vom 30.03.2021 bestätigt hat, wurde nach Einstellung im Urteil vom 20.04.2018 in dem gerichtlichen Verfahren 23 KLs 8/18 (V/1235 ff.) derselbe Sachverhalt erneut zum Gegenstand der neuen Klage vom 04.04.2019 (VI/1426 ff.) gemacht.

Da es sich um dasselbe Ermittlungsverfahren handelte, wurde auch die neue Anklage unter dem gleichen Az. 31 Js 242/17 geführt und in der Anklage auf Aktenbestandteile des Ermittlungsverfahrens vor der ersten Anklageerhebung Bezug genommen.

Auch wenn sich der Anwalt in die Sache neu eingearbeitet hat, entsteht die Grundgebühr dadurch nicht neu, da sie nur für die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall anfällt.

Eine Ausnahme gilt im Fall des § 15 Abs. 5 S. 2 RVG, wenn der frühere Auftrag seit mehr als zwei Kalenderjahren erledigt ist. Dann kann auch der RA, der im Verfahren schon einmal eine Grundgebühr verdient hat, nochmals eine Grundgebühr verdienen (Gerold/Schmidt/Burhoff, 24. Aufl. 2019, RVG VV 4100 Rn. 7).

Diese Voraussetzung liegt hier aber offensichtlich nicht vor. Nach Teilnahme am Hauptverhandlungstermin am 20.04.2018 (V/1123), in dem das Einstellungsurteil erging, erfolgte die Mandatsanzeige nach Erhalt der neuen Anklage am 07.05.2019 (VI/1478).

Für die mit Kostenfestsetzungsantrag vom 30.03.2020 abgerechnete Leistungszeit ab 06.05.2019 in dem Verfahren 23 KLs 10/19 (siehe Antrag) konnte die Grundgebühr damit in dem Rechtsfall nicht noch einmal neu entstehen.

Auch bei Verfahrenstrennungen entsteht die Grundgebühr nicht noch einmal neu, da ein Verteidiger sich bereits im jeweiligen Ursprungsverfahren in den Rechtsfall eingearbeitet hat (BeckOK RVG/Knaudt, 51. Ed. 1.3.2021, RVG VV 4100 Rn. 12). Entsprechendes gilt bei Zurückverweisungen für den in dem vorherigen Verfahren bereits tätig gewordenen Rechtsanwalt, da auch dann eine Einarbeitung bereits erfolgt ist (BeckOK RVG/Knaudt, 51. Ed. 1.3.2021, RVG VV 4100 Rn. 13).“

OWi III: Zu den Rechtsfolgen, oder: langer Zeitablauf, wirtschaftliche Verhältnisse und StVO-Novelle

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Und zum Tagesschluss geht es in diesem dritten Posting um OLG-Entscheidungen zu den Rechtsfolgen Geldbuße und Fahrverbot. Ich stelle allerdings nur die Leitsätze der Entscheidungen vor:

Auch bei Geldbußen über 250,–EUR sind nähere Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen entbehrlich, solange die im Bußgeldkatalog vorgesehene Regelgeldbuße verhängt wird und sich – wie im vorliegenden Fall – keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen außergewöhnlich gut oder schlecht sind. Dies gilt auch dann, wenn auf den für eine vorsätzliche Begehungsweise nach § 3 Abs. 4 a BKatV vorgesehenen Regelsatz erkannt wird.

Im Anwendungsbereich eines Bußgeldkatalogs hat das Tatgericht bei der Bemessung der Geldbuße auch dessen tatsächliche Handhabung durch die Bußgeldstellen – hier Anwendung der Vorgängerfassung infolge eines Nichtanwendungserlasses betreffend die aktuelle Fassung – Stichwort: 54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, die am 27.04.2020 im Bundesgesetzblatt (BGBl. I S. 814) – in seine Zumessungserwägungen einzubeziehen.

Rund 4,5 Jahre nach der Tat ist ein Fahrverbot als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme nicht mehr geboten, wenn dieser Zeitablauf nicht etwa auf einem Verhalten des Betroffenen, sondern auf einer unterbliebenen Weiterbearbeitung der Bußgeldsache seitens des Amtsgerichts beruht.

Rücknahme der (unbegründeten) Revision der StA, oder: Auch das OLG Hamm macht es wieder falsch

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Das Wochenende naht und daher dann heute – es ist Freitag – hier RVG-Thematik.

Zunächst eine falsche Entscheidung des OLG Hamm, mit der der richtige LG Detmold, Beschl. v. 18.12.2020 – 23 Qs-21 Js 463/18-142/20 – aufgehoben worden ist (zu LG Detmold s. Rücknahme der Revision der StA, oder: Wie ist das dann mit der Verfahrensgebühr des Verteidigers?).

Es geht um die Erstattung der Verfahrensgebühr im Fall der Rücknahme eines Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft vor dessen Begründung. Das LG hatte dem Verteidiger die Nr. 4130 VV RVG erstattet. Das OLG sieht es in seiner unermesslichen Weisheit anders – man mag diesen obergerichtlichen Blödsinn nicht mehr lesen, aber man liest ihn immer wieder, weil nur fröhlich voneinander abgeschrieben wird. Getreu dem Motto: Es machen alle falsch, also schließen wir uns an.

Und da wir die falsche Begründung des OLG Hamm im OLG Hamm, Beschl. v. 13.04.2021 – 4 Ws 22/21 – so oder ähnlich ja nun alle schon mal gelesen haben, wollen wir ihr nicht zu viel Ehre antun. Ich stelle sie hier nicht ein, sondern lasse den Leitsatz reichen:

Für die Tätigkeit des Verteidigers besteht bei alleinigem Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft eine rechtliche Notwendigkeit solange nicht, wie diese ihre Revision nicht begründet hat. Zwar hat ein Angeklagter durchaus ein anzuerkennendes Interesse, eine anwaltliche Einschätzung der Erfolgsaussichten der von der Staatsanwaltschaft eingelegten Revision zu erhalten. Vor Zustellung des Urteils und Begründung der Revision beschränkt sich dieses Interesse aber auf ein subjektives Beratungsbedürfnis, während hingegen objektiv eine Beratung weder erforderlich noch sinnvoll ist.“

Man fragt sich – zumindest ich frage mich – immer wieder, warum entscheiden weitgehend fast alle OLG so negativ wie das OLG Hamm und propagieren damit eine (Pflicht)Verteidigung zum Nulltarif, die es nicht gibt, was der Gesetzgeber gerade erst mit der Stärkung/Erweiterung des Rechts auf einen Pflichtverteidiger durch das „Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung“ v. 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128) deutlich gemacht hat? Eine mögliche Erklärung ist, dass man damit die vielfache Praxis der Staatsanwaltschaften, zunächst mal Revision einzulegen, diese dann aber – aus welchen Gründen auch immer – vor Begründung wieder zurückzunehmen, absegnet bzw. für die Staatsanwaltschaft kostenrechtlich ungefährlich macht. Denn: Zu erstattende Kosten sind ja nicht entstanden, da der Beschuldigte ja keinen Anspruch darauf hat, über ein ggf. auch unsinniges Rechtsmittel informiert/beraten zu werden. Also ein rein fiskalisches Interesse der OLG, Staatsanwaltschaften und Vertretern der Landeskassen, dass die durch das o.a. Gesetz verfolgten Ziele der Stärkung der Rechte des Beschuldigten konterkariert.

OWi I: Verweisung auf Lichtbild in den Urteilsgründen, oder: 2 x KG, 1 x OLG Hamm

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Heute dann noch einmal drei OWi-Entscheidungen, aber aus dem Bereich des Verfahrensrechts.

Zunächst hier dann drei Entscheidungen zu Lichtbildern bzw. zur Verweisung, zwei vom KG, eine vom OLG Hamm. Die vom OLG Hamm ist zwar nicht in einem Bußgeldverfahren ergangen, die angesprochenen Fragen können aber gerade auch dort Bedeutung erlangen. Alle drei Entscheidungen enthalten keine neuen „Aussagen“, zeigen aber noch einmal, worauf man achten muss als Verteidiger.

KG, Beschl. v. 17.06.2021 – 3 Ws (B) 144/21 – zur Verweisung nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO

  1. Die Praxis, eine Abbildung im Urteil einfach nur zu benennen und in Klammern die Blattzahl als Aktenfundstelle zu bezeichnen, stellt jedenfalls ihrem unmittelbaren Wortlaut nach keine Verweisung dar.
  2. Zumindest zur Vermeidung von Unklarheiten sollte das Lichtbild in Augenschein genommen, die Datenzeile aber verlesen werden. Dass, was im Einzelnen umstritten ist, bei einer sehr kurzen Buchstaben- oder Zahlenfolge der Augenschein ausnahmsweise ausreichen kann (vgl. KG VRS 133, 138 m. w. N. [Dauer des Rotlichtverstoßes]), sollte im Grundsatz keinen Anlass geben, auf die Verlesung zu verzichten.

OLG Hamm, Beschl. v. 22.06.2021 – 4 RVs 40/21 – ebenfalls zur Verweisung nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO

Der bloße Hinweis auf die Durchführung einer Inaugenscheinnahme eines Lichtbildes in der Hauptverhandlung – ohne Angabe einer Fundstelle und Angabe seines wesentlichen Aussageinhalts – ist nicht ausreichend, um die Voraussetzungen einer Bezugnahme auf die Einzelheiten i.S.v. § 267 Abs. 1 S. 3 StPO zu erfüllen.

KG, Beschl. v. 21.06.2021 – 3 Ws (B) 145/21 – zur Verweisung auf „einzelne Abbildungen“ eines Films

  1. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der zufolge auf Filme nicht nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen werden kann (vgl. BGHSt 57, 53), kann nicht dadurch umgangen werden, dass auf „einzelne Abbildungen … der Videoaufnahmen“ Bezug genommen wird.
  2. Etwas anderes gilt für zur Akte genommene Videoprints, also körperliche Bilder.

Strafzumessung III: Kurzfristige Freiheitsstrafe, oder: Die kurze Freiheitsstrafe muss „unverzichtbar“ sein

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Als dritte und letzte Entscheidung des Tages dann noch der OLG Hamm, Beschl. v. 27.04.2021 – 5 RVs 28/21. Er nimmt mal wieder zu § 47 StGB Stellung. Das LG hatte u.a. wegen Beleidigung eine Einzel(freiheits)strafe von drei Monaten verhängt. Das hat dem OLG so nicht gefallen:

„Nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung des § 47 StGB soll die Verhängung kurzfristiger Freiheitsstrafen weitestgehend zurückgedrängt werden und nur noch ausnahmsweise unter ganz besonderen Umständen in Betracht kommen (Senatsbeschluss vom 08.01.2009 – 5 Ss 528/08 -, Rn. 19 – 20, juris; Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 47 StGB Rn. 1). Die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten hat danach regelmäßig nur dann Bestand, wenn sie sich aufgrund einer Gesamtwürdigung aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist (vgl. hierzu Fischer, a.a.O., § 47 StGB Rn. 7; Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 29 Aufl. 2018, § 47 StGB Rn. 6, jeweils m.w.N.). Zwar können nähere Ausführungen zur Begründung einer kurzen Freiheitsstrafe – worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hingewiesen hat – ausnahmsweise dann entbehrlich sein, wenn sich aus den Urteilsgründen ergibt, dass die Voraussetzungen des § 47 StGB auf der Hand liegen, insbesondere der abgeurteilten Tat zahlreiche oder einschlägige Vorstrafen, wiederholte Bewährungsbrüchigkeit oder mehrfache Strafhaftverbüßungen vorangingen oder eine auffällig hohe Rückfallgeschwindigkeit vorliegt (Maier, in: MünchKomm, StGB, 4. Aufl. 2020, § 47 StGB Rn. 60). Stellt das Gericht hingegen dem Angeklagten eine günstige Legalprognose und setzt – wie vorliegend – die verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, versteht sich die Unerlässlichkeit der Verhängung nicht von selbst (Maier, in: MünchKomm, a.a.O., § 47 StGB Rn. 59).“