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StGB III: Fahrlässige Tötung durch Unterlassen, oder: Übertragung von Verkehrssicherungspflichten

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Und als letzte Entscheidung dann der OLG Celle, Beschl. v. 07.09.2023 – 2 Ws 244/23 – zur (behaupteten) fahrlässigen Tötung durch Verletzung von Verkehrssicherungspflichten.

Das OLG geht von folgendem Sachverhalt aus:

„Die Staatsanwaltschaft hat nach mehrjährigen Ermittlungen am 23.02.2023 Anklage gegen den Angeschuldigten S. sowie die Angeklagte L. S. R. wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen am 17. und 18.06.2019 sowie im Zeitraum 12.02.2017 bis 18.06.2019 erhoben. In der Anklageschrift wurde folgender Sachverhalt zur Last gelegt:

Am 18.06.2020 kam es auf dem Gelände des W. H., zu einem Unglücksfall, bei dem der elfjährige V. F. D. beim Spielen von einer außerhalb des Spielplatzes auf einem ca. 100 m langen Schienenstrang abgestellten, in eine Sitzbank umgebauten, tatsächlich aber durch Schieben beweglichen, ca. 400 kg schweren Lore überrollt und getötet wurde. Die Lore entsprach gem. des Sachverständigengutachtens vom 24.06.2022 nicht den Vorschriften DIN EN 1176 und wäre mithin nicht als Spielgerät zugelassen worden. V. F. D. hatte zusammen mit 10 anderen Kindern auf bzw. mit der Lore gespielt. Die Kinder schoben die Lore in beide Richtungen, wobei stets einige Kinder auf der Lore saßen und einige Kinder sich vor, neben und hinter der Lore aufhielten. Aus ungeklärter Ursache kam V. F. D. vor der Lore zu Fall und wurde von dieser im Bereich der Brust überrollt. Er erlitt mehrere Frakturen im Brustbereich, wodurch Blut in seine Lungen gelangte und er noch am Unfallort gegen 10:55 Uhr verstarb.

Die Angeschuldigte R. war als angestellte Försterin für die Besucher zuständig, die mehrere Tage in dem W. eingebucht waren. Die 5. Klasse des T.-H.-Gymnasiums aus W. reiste am 17.06.2019 mit 28 Schülern und 2 Lehrern am W. an, um dort eine Woche zu verbringen. Die Einweisung der Lehrer und Schüler in das Gelände des W. erfolgte am 17.06.2019 durch die Angeschuldigte, wobei sie nicht auf die Beweglichkeit und die damit verbundene Gefährlichkeit der Lore hingewiesen hat, obwohl sie von der Fahrbereitschaft gewusst hatte. Die Lore war eindeutig erkennbar nicht mit einem irgendwie gearteten Schutz versehen, der es verhindert hätte, dass Gegenstände oder – wie vorliegend geschehen – Personen unmittelbar vor die Räder geraten und bei fahrender Lore von dieser überrollt werden können.

Die Angeschuldigte hätte das Spielen mit der Lore verbieten, jedenfalls die Lehrer und Schüler auf die Gefährlichkeit des Spielens mit der Lore hinweisen müssen. Hätten die Angeschuldigten die nötigen Hinweise an die Lehrer und Schüler erteilt, wäre es mit an der Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu dem Unfall und dem damit verbundenen Tod des V. F. D. gekommen.

Der Angeschuldigte S. war zum Unglückszeitpunkt seit dem 12.02.2017 Leiter des W. und hatte es unterlassen, die Lore, die bereits seit 2013 in der Form auf dem Gelände des W. stand und mindestens seit 2016 als fahrbereites Spielelement genutzt wurde, sicherheitstechnisch überprüfen zu lassen, oder diese Aufsicht an eine andere Person zu übertragen. Das Gelände wurde jährlich durch den Zeugen B. begutachtet, dem jedoch durch den Angeschuldigten in fahrlässiger Weise nicht mitgeteilt worden war, dass die Lore fahrbereit war und in dieser Form zum Spielen von Kindern genutzt wurde.

Hätte der Angeschuldigte die notwendigen Maßnahmen (Überprüfung und Sicherung der Lore) ergriffen oder ergreifen lassen, wäre es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu dem Unfall und dem Tod des Kindes gekommen.“

Nach der Durchführung weiterer Ermittlungen hat das LG Verden mit dem angefochtenen Beschluss hinsichtlich der Angeklagten R. die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Hinsichtlich des Angeschuldigten S. hat es die Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen Gründen abgelehnt, da er der angeklagten Tat nicht hinreichend verdächtig sei.

Gegen die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft  mit dem Ziel, die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens auch hinsichtlich des Angeschuldigten S. zu beschließen.

Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg. Ich beschränke mich wegen des Umfangs der Entscheidungsgründe hier auf die Leitsätze. Die lauten:

    1. Bei der Übertragung von Verkehrssicherungspflichten im Rahmen vertikaler Arbeitsteilung hängt der Umfang der verbleibenden Kontrollpflichten für die mit der Überwachung betraute Person davon ab, inwieweit dem Delegaten bei der Ausführung seiner Tätigkeit Eigenverantwortlichkeit zukommt.
    2. Soweit bei komplexen oder besonders gefahrgeneigten Großbauprojekten aufgrund bekannter und besonderer Gefährdungslagen ein strengerer Maßstab an den Umfang der Überwachungs- und Kontrollpflichten angelegt werden kann, ist dieser Maßstab nicht vergleichbar mit Überwachungspflichten, die sich auf die Wahrnehmung allgemeiner Verkehrssicherungspflichten – wie etwa Streupflichten – durch damit betraute Personen auf einem als nicht außergewöhnlich anzusehenden Außengelände beschränken.
    3. Personen, denen innerhalb des Arbeitsverhältnisses die Verkehrssicherungspflicht für ein Außengelände übertragen worden ist, sind von ihrer Verantwortlichkeit nicht hinsichtlich solcher Gefahrenquellen entbunden, die bereits vor ihrem Eintritt in die Verantwortlichkeit durch andere Personen geschaffen worden sind und sich in der Folgezeit nicht realisiert haben.
    4. Es stellt eine Überspannung der Anforderungen an eine mit Überwachungspflichten betraute Person dar, wenn man von ihr auf Grundlage der allgemeinen Gefahrenabwehrpflicht erwarten würde, eine für sie bis dahin gänzlich unbekannte Gefahrenlage zunächst zu ermitteln. Eine Kontrollpflicht beinhaltet gerade nicht, die übertragene Aufgabe selbständig vorzunehmen. Rechtsmittel gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).

StGB II: Vorsätzliche falsche eidliche Versicherung, oder: Irrtum bei der Vermögensauskunft?

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Als zweite Entscheidung heute dann eine Revisionsentscheidung des OLG Celle, und zwar der OLG Celle, Beschl. v. 12.10.2023 – 1 ORs 4/23. Es geht um vorsätzliche falsche Versicherung an Eides Statt.

Das LG hatte folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

„Nach den Feststellungen des landgerichtlichen Urteils gab der Angeklagte am 27. Oktober 2020 gegenüber der Obergerichtsvollzieherin W. in seiner Wohnung in Z. eine Vermögensauskunft nach § 802c ZPO ab und versicherte nach erfolgter Belehrung über die Strafbarkeit bei vorsätzlich falschen Angaben deren Richtigkeit und Vollständigkeit an Eides Statt.

Die ihm schriftlich in der Vermögensauskunft unterbreitete Frage zu Ziffer 14 über vorhandene Konten, insbesondere Sparguthaben, Gehaltskonten, Geschäftskonten, Girokonten, Paypalkonten und ohne vermögenswirksame Leistungen anzusparenden Bausparverträgen verneinte der Angeklagte zunächst, gab jedoch nachfolgend ergänzend an, über ein derzeit mit einem negativen Saldo von 400 Euro bestehendes Guthabenkonto bei der P. zu verfügen. Ein weiteres vom Angeklagten als Einzelkaufmann genutztes Geschäftskonto bei der Sparkasse R.-O. verschwieg der Angeklagte dagegen. Der Angeklagte nutzte dieses Konto sowohl für Zahlungsabwicklungen im Rahmen seines Gebrauchtwagenhandels als auch für private Zwecke. Dem vor-bezeichneten Geschäftskonto lag eine Kreditrahmenvereinbarung von 10.000 Euro zugrunde, welche der Angeklagte regelmäßig mindestens teilweise in Anspruch nahm. Zum Zeitpunkt der Abgabe der Vermögensauskunft wies das Konto einen negativen Saldo in Höhe von 8.800,04 Euro auf.

Die Frage zu Ziffer 19 nach sonstigen Forderungen, insbesondere solchen aus Kauf- und Darlehensverträgen, Rückerstattungs- und/oder Ersatzansprüchen, Bezugsrechten an/aus Versicherungen, verneinte der Angeklagte ebenfalls bewusst wahrheitswidrig. Tatsächlich war ihm bei Abgabe der Vermögensauskunft jedoch bekannt, dass er eine Zahlung in Höhe von 6.700 Euro von einem Fahrzeugfinanzierer (der B. K. GbR) erwartete. Dem lag ein Finanzierungsgeschäft zum Verkauf eines Personenkraftfahrzeugs zugrunde, welches der Käufer M. zuvor vom Angeklagten erworben hatte. Bereits am 19. Oktober 2020 hatte der Käufer eine entsprechende Anzahlung über 1.500 Euro auf das Geschäftskonto des Angeklagten überwiesen.

Zur Beweiswürdigung hat das Landgericht ausgeführt, dass der Angeklagte den äußeren Sach-verhalt sowie die Höhe des vereinbarten Kreditrahmens eingeräumt habe. Er sei jedoch der Auffassung gewesen, sein Geschäftskonto aufgrund der fortwährenden Überziehung nicht habe angeben zu müssen. Zudem habe es sich um ein Geschäftskonto gehandelt, welches er schon aus betriebswirtschaftlichen Gründen getrennt von seinem sonstigen Vermögen zu unterhalten habe.

Die Feststellungen zu den im Rahmen der Vermögensauskunft getätigten Angaben sowie die zuvor erfolgte Belehrung hat die Kammer auf die Bekundungen der die Vermögensauskunft entgegennehmenden Obergerichtsvollzieherin W. und die auszugsweise Verlesung der vom Angeklagten unterzeichneten Erklärung vom 27. Oktober 2023 gestützt.

Zur subjektiven Tatseite hat das Landgericht ausgeführt, dass der Angeklagte die Existenz des Geschäftskontos nebst eingeräumten Kreditrahmen zum Zeitpunkt der Vermögensauskunft ein-gestanden habe. Die entsprechende Kenntnis werde auch durch mehrere im Rahmen des Onlinebankings am Tattag durchgeführte Verfügungen belegt. Darunter hätten sich auch mehrere negative Buchungen befunden, was für die Kenntnis vom im Zeitpunkt der Erklärung noch nicht ausgeschöpften Kreditrahmen spreche. Dass der Angeklagte sich bei der Abgabe der Auskunft auch über Bestand und Umfang einer unmittelbar bevorstehenden Zahlung in Höhe von 6.700 Euro aus der festgestellten Fahrzeugfinanzierung bewusst gewesen sei, werde durch den am nächsten Tag in entsprechender Höhe eingegangenen Zahlungseingang und mit einer bereits am 19. Oktober 2020 erfolgten Anzahlung im Rahmen desselben Fahrzeuggeschäfts belegt. Soweit der Angeklagte die Trennung von Geschäfts- und Privatkonten als Grund für die unterbliebene Angabe vorgebracht habe, hat die Kammer dies als Schutzbehauptung gewertet, weil die auf dem Geschäftskonto festgestellten Buchungen sowohl geschäftlichen als auch privaten Transaktionen dienten. Die Kammer vermochte hingegen nicht auszuschließen, dass der Ange-klagte der Auffassung war, ein debitorisches Konto nicht angeben zu müssen.

Bezüglich der Fehlvorstellung über die Angabeverpflichtung bezüglich debitorischer Konten sah die Kammer einen vermeidbaren Verbotsirrtum im Sinne von § 17 S. 2 StGB als verwirklicht an und hat den Strafrahmen des § 156 StGB nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert.“

Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Aus seiner Sicht sei von der Verpflichtung zur Angabe im Rahmen der Vermögensauskunft nur das aktive Vermögen umfasst. Ein debitorisches Konto sei nur dann anzugeben, wenn der Schuldner von seiner Bank aufgrund einer bestehenden Vereinbarung weiteren Kredit in Anspruch nehmen könne und es sich nicht lediglich um eine geduldete Überziehung gehandelt habe. Das Urteil verhalte sich nicht dazu, ob ein solcher Anspruch bestanden habe. Zudem habe sich der Angeklagte über den Umfang seiner Auskunftspflicht geirrt, was zu einem Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum führe. Soweit das Landgericht die Verwirklichung einer falschen Versicherung an Eides Statt wegen fehlender Angabe einer Forderung von 6.700 Euro gesehen habe, sei dies in unzulässiger Weise allein auf den späteren Zahlungseingang gestützt worden. Eine schon zum Zeitpunkt der Abgabe der Versicherung bestehende Rechtsbeziehung werde damit nicht belegt, zumal die Anzahlung für den Fahrzeugkauf auch von einer anderen Person erfolgt sei. Ferner werde eine Einlassung des Angeklagten zu diesem Punkt nicht mitgeteilt.

Die Revision hatte keinen Erfolg.

Hier die Leitsätze zu der OLG-Entscheidung:

    1. Der Schuldner hat im Rahmen der nach §§ 156 und 161 Abs. 1 StGB strafbewehrten Auskunftserteilung nach § 802c ZPO auch solche Konten anzugeben, welche dauerhaft überzogen und mit Schuldzinsen belastet sind (debitorische Bankkonten). Auf die Frage, ob dem Schuldner ein vertraglich vereinbarter Kontokorrentkredit eingeräumt ist oder es sich lediglich um eine geduldete Kontoüberziehung handelt, kommt es nicht an.
    2. Geht der Schuldner im Rahmen der Vermögensauskunft irrtümlich davon aus, dass er bei der Frage über vorhandene Konten solche nicht anzugeben braucht, die ständig im Negativsaldo geführt wurden (debitorische Konten), so handelt es sich nicht um einen Irrtum über Tatum-stände (§ 16 Abs. 1 StGB), sondern um einen Verbotsirrtum (§ 17 StGB).

Anscheinsbeweis beim berührungslosen Unfall, oder: Haftungsverteilung beim berührungslosen Unfall

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Und dann die zweite Entscheidung, die mit dem OLG Celle, Urt. v. 13.12.2023 – 14 U 32/23 – auch vom OLG Celle kommt. Es geht u.a. um die Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises bei einem berührungslosen Unfall/Auffahrunfall und um die Haftungsverteilung bei einem berührungslosen Unfall.

Folgender Sachverhalt:

„Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Beklagten zur Zahlung von materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall verpflichtet sind, bei dem er mit seinem Motorrad stürzte und verletzt wurde.

Der Kläger befuhr am 31. März 2021 mit seinem Motorrad in Begleitung seines Sohnes, dem Zeugen A., auf dessen Motorrad die B. Straße (L ) in Richtung H. Vor dem Kläger und seinem Sohn befuhr der Zeuge A1 mit seinem PKW die B. Straße in gleicher Richtung. Die aus Fahrtrichtung des Klägers gesehene Gegenfahrbahn, die die Beklagte zu 1. mit dem bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversicherten Fahrzeug der Marke Mercedes befuhr, war im Kurvenverlauf durch einen Müllwagen blockiert, der zu diesem Zeitpunkt von Mitarbeitern des Abfallservice O. GmbH mit gelben Säcken beladen wurde. Die Beklagte zu 1. versuchte, an dem Müllwagen vorbei zu fahren, und wechselte hierzu auf die Fahrbahn des Klägers und des vor ihm fahrenden Zeugen A1. Der Zeuge A1 bremste sein Fahrzeug stark ab, um eine Kollision mit der Beklagten zu 1., die sich noch auf der Fahrbahn des Zeugen befand, zu vermeiden. Auch der Kläger, dessen Motorrad über kein ABS verfügte, machte eine Vollbremsung, geriet dabei ins Rutschen und stürzte. Die Fahrzeuge des Klägers und des Zeugen A1 kollidierten nicht. Der hinter dem Kläger fahrende Zeuge A. konnte sein Motorrad abbremsen, ohne selbst zu stürzen. Die Beklagte zu 1. wendete ihr Fahrzeug bei der nächsten Gelegenheit und fuhr zur Unfallstelle zurück. Die zugelassene Höchstgeschwindigkeit beträgt am Unfallort 70 km/h. Der Kläger, der vom Unfallort mit dem Rettungshubschrauber ins Krankhaus transportiert wurde, erlitt durch den Sturz eine Schulterblattfraktur links, eine Lungenkontusion sowie eine Schürfwunde am linken Knie. Er war infolgedessen bis zum 25. Mai 2021 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 08. Juni 2021 forderte der Kläger die Beklagte zu 2. auf, ihre Haftung aus dem Unfallgeschehen vollständig dem Grunde nach anzuerkennen. Die Beklagte zu 2. lehnte jegliche Haftung ab.

Der Kläger hat behauptet, er habe zum Fahrzeug des Zeugen A1 einen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten. Er sei vor dem Sturz nicht schneller als 70 km/h gefahren. Er sei mit seinem Motorrad gestürzt, weil die Beklagte zu 1. Anlass für seine und die Vollbremsung des Zeugen A1 gegeben habe. Der Kläger war der Ansicht, dass der Unfall für ihn – auch aufgrund des fehlenden ABS – unvermeidbar gewesen sei. Ferner sei sein Motorrad durch den Sturz beschädigt worden und dieser Sachschaden betrage 2.750,00 €. Darüber hinaus seien weitere Kosten für das außergerichtliche Schadensgutachten in Höhe von 698,95 € sowie eine Kostenpauschale von 25 € angefallen. Die Heilbehandlungen des Klägers seien noch nicht abgeschlossen, wie sich aus dem ärztlichen Attest vom 19. Mai 2021 ergebe. Er könne daher seine – materiellen wie auch immateriellen – Schäden nicht abschließend beziffern, so dass ein Feststellungsinteresse bestehe.

Die Beklagten haben behauptet, der Kläger habe bereits zum Fahrzeug des Zeugen A1 keinen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten und darüber hinaus die zugelassene Höchstgeschwindigkeit überschritten. Die Beklagte zu 1. habe ohne Komplikationen an dem Müllwagen vorbeifahren können. Der Kläger habe daher seinen Sturz durch einen Bremsfehler und das Überschreiten der zulässigen Geschwindigkeit allein verursacht. Eine Haftung der Beklagten bestünde nicht. Zudem bestehe bereits kein Feststellunginteresse. Die Behandlungen des Klägers seien abgeschlossen, so dass ihm eine Bezifferung seiner Schäden möglich gewesen wäre.“

Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Feststellungsklage sei zwar zulässig, aber in der Sache unbegründet. Der Kläger habe den Sturz seines Motorrades allein verschuldet. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei nicht erwiesen, dass die Beklagte zu 1. risikoreich „überholt“ habe. Eine Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer durch den Überholvorgang der Beklagten zu 1. sei nicht festzustellen. Nach Würdigung der Angaben der Parteien und der Zeugenaussagen ließe sich zwar weder ein risikoreiches Überholen der Beklagten zu 1. noch ein zu geringer Abstand des Klägers auf das Fahrzeug des Zeugen A1 sicher nachweisen. Es bestünden aber Indizien für ein zu dichtes Auffahren, die sich aus den Schilderungen der Zeugen A. und A1 ergeben würden. Nach Würdigung des Gutachtens lasse sich feststellen, dass durch das Tätigen des Handbremshebels das Vorderrad blockiert und dadurch das Motorrad Stabilität verloren habe. Infolgedessen sei das Motorrad weggerutscht und der Kläger gestürzt. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. O. sei jedoch keine zeitliche Kopplung zwischen der Bewegung des Motorrades und dem Fahrzeug des Zeugen A. herstellbar. Der Kläger habe damit den Nachweis der Unvermeidbarkeit nicht geführt. Vielmehr sei aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen festzustellen, dass der Kläger den Unfall hätte vermeiden können, wenn er kontrolliert gebremst hätte. Der entstandene Schaden sei ihm daher selbst zuzurechnen.

Dagegen die Berufung, die teilweise Erfolg hatte. Auch hier verweise ich wegen des Umfangs der Gründe wegen der Einzelheiten auf den verlinkten Volltext und stelle hier nur die Leitsätze ein. Die lauten:

    1. Auch bei einem berührungslosen Unfall können die Grundsätze zum Anscheinsbeweis Anwendung finden (ebenso OLG Schleswig, Beschluss vom 17. Februar 2022 – 7 U 144/21, SVR 2022, 302; entgegen OLG München, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 10 U 767/16, Rn. 9; OLG Hamm, Urteil vom 9. Mai 2023 – 7 U 17/23, Rn. 51)
    2. Gelingt es einem Verkehrsteilnehmer nicht, rechtzeitig auf eine wahrgenommene Gefahrenlage zu reagieren, und verhindert er lediglich durch einen vorherigen Sturz (hier: als Motorradfahrer) eine Kollision mit dem vorausfahrenden Kraftfahrzeug, spricht wie im Fall einer „Auffahrkollision“ der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Hinterherfahrenden.
    3. Wer an einer unübersichtlichen Engstelle vor einer Kurve ein Hindernis (hier: ein haltendes Müllfahrzeug) links umfährt, muss gemäß § 6 Satz 1 StVO den Gegenverkehr sichern und besonders vorsichtig prüfen, ob ein Vorbeifahren den Gegenverkehr behindern würde.

Haftung nach Verkehrsunfall mit Kind/Radfahrer, oder: Abwägung Betriebsgefahr/Verschulden

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Und dann heute der erste „Kessel Buntes“ im neuen Jahr 2024. Und in dem liegen zwei verkehrzivilrechtliche Entscheidungen. Beide kommen vom OLG Celle.

Ich beginne mit dem OLG Celle, Urt. v. 11.10.2023, Az.: 14 U 157/22 – zur Haftungsverteilung bei einem berührungslosen Unfall.

Das Urteil geht von folgendem Sachverhalt aus: Der Kläger verlangt von den Beklagten als Gesamtschuldner unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens in Höhe von 40 % die Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall am 07.03.2017.

Der zum Unfallzeitpunkt 12 Jahre alte Kläger fuhr am 07.03.2017 gegen 13.50 Uhr parallel zu der S.straße kurz vor der Einmündung M.straße – wobei zwischen den Parteien streitig ist, ob er den Radweg oder den Gehweg befuhr. Er war mit seinem Mountainbike (ohne Helm) unterwegs. Die Beklagte zu 3) fuhr mit dem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Pkw Smart fortwo Coupé ebenfalls auf der S.straße Richtung M.straße. Als der Kläger auf seinem Fahrrad fahrend die Fahrbahn der S.straße in Höhe der M.straße überquerte – wobei zwischen den Parteien insoweit streitig ist, ob auf oder hinter dem dortigen Zebrastreifen – kam es zur Kollision, durch die der Kläger 18,5 Meter weit geworfen und im rechten Seitenbereich einer Parkbucht zu Fall kam. Der Kläger erlitt lebensgefährliche Verletzungen (u. a. ein schweres offenes Schädel-Hirn-Trauma mit Einblutungen, eine Felsenbeinfraktur rechts, eine Schlüsselbeinfraktur rechts und multiple Prellungen sowie Schürfungen an beiden Kniegelenken). Im Krankenhaus erhielt er eine Hirndrucksonde und wurde bis zum 12.03.2017 künstlich beatmet. Zehn Tage nach dem Unfall wurde er von der Intensiv- auf die Normalstation verlegt. Am 20.03.2017 kam er in die H.-Klinik G. zur Anschlussheilbehandlung, die ursprünglich drei bis sechs Monate dauern sollte. Da der Kläger starkes Heimweh hatte, blieb er nur bis zum 12. April 2017 und absolvierte in der Folgezeit von zuhause aus eine Vielzahl von Behandlungen und Therapien.

Mit außergerichtlichem Schreiben vom 15. März 2017 forderte der Kläger die Beklagte zu 1) – die Versicherung – auf, ihre Regulierungsbereitschaft anzuzeigen. Die hat abgelehnt.

Gestritten worden ist dann im Klageverfahren um den genauen Hergang des Unfallgeschehens sowie die Bildung der Haftungsquote.

Das LG hat dann  der Klage zu einem überwiegenden Teil stattgegeben und die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 40.000 EUR und Erstattung materieller Schadensersatzansprüche in Höhe von 1.790,93 EUR verurteilt. Zudem hat es dem auf Feststellung der Haftung gerichteten Antrag beschränkt auf eine Ersatzpflicht in Höhe von 60 % sowie dem auf Freistellung von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichteten Antrag stattgegeben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung führte das LG insbesondere Folgendes aus:

„Die Beklagte zu 3) habe den Unfall überwiegend verschuldet. Der Unfall sei bei dem Betrieb des Fahrzeuges entstanden. Die Beklagten hätten aus dem Verkehrsunfallgeschehen mit einer Quote von 60 % für die Schäden des Klägers einzustehen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei erwiesen, dass die Beklagte zu 3) den Unfall durch einen Verstoß gegen § 3 Abs. 2a StVO verschuldet habe. Die Beklagte zu 3) habe von dem Zeitpunkt an, in dem sie den Kläger an der S.straße hätte sehen können, besondere Vorkehrungen im Sinne einer Verringerung der Fahrgeschwindigkeit und Einnehmen der Bremsbereitschaft zu treffen gehabt. Die konkrete Gefahrenlage habe sich daraus ergeben, dass ein Kind auf einem Fahrrad in Richtung Zebrastreifen gefahren sei. Dass die Beklagten behauptet hätten, der Kläger habe nicht wie ein Kind ausgesehen, vermöge sie bereits deshalb nicht zu entlasten, weil die Beklagte zu 3) den Kläger überhaupt nicht wahrgenommen habe, als er auf den Zebrastreifen zufuhr, was sie jedoch hätte tun können und müssen. Die Beklagte zu 3) sei jedoch – wie sich aus den Ausführungen des Sachverständigen ergäbe – mit einer Geschwindigkeit im Bereich von 50 km/h auf den Zebrastreifen zugefahren. Nach Ansicht des Landgerichts hätte die Beklagte zu 3) richtigerweise zumindest auf 30 km/h abbremsen müssen, um eine Gefährdung des Klägers auszuschließen. Im Ergebnis läge daher ein Verstoß der Beklagten zu 3) gegen § 3 Abs. 2a StVO vor. Ob der Kläger vor dem Auffahren auf den Zebrastreifen angehalten habe, könne dahinstehen, da der Sachverständige ausgeführt habe, dass die Beklagte zu 3) bei einem Abbremsen auf 30 km/h in jedem Fall die Kollision vermieden hätte. Schließlich sei der Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Landgerichts in einer Bogenfahrt nach links in die Fahrbahn eingefahren. Anhand der Unfallspuren habe sich feststellen lassen, dass der Kollisionsort auf dem Zebrastreifen gewesen sei. Der Vernehmung der Zeugin H., die zum Termin vor dem Landgericht nicht erschienen war, habe es demnach nicht bedurft. Erstattungsfähig seien materielle Schäden des Klägers unter Berücksichtigung seines Mitverschuldens von 40 % in Höhe von 1.790,93 €. Darüber hinaus sei die Klage diesbezüglich nicht begründet. Zudem sei ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000 € angemessen. Aufgrund der vom Kläger vorgelegten Arztberichte und Gutachten sowie der Angaben des Klägers und seiner Eltern im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung im Verhandlungstermin am 31. August 2022 könne ohne weitere – gerichtliche – Gutachten das Schmerzensgeld bemessen werden. Der Kläger habe unstreitig erhebliche lebensbedrohliche Verletzungen erlitten und sei durch diesen aus seinem Leben komplett herausgerissen worden. Die Tage des zum Unfallzeitpunkt erst 12-jährigen Klägers seien anschließend durch Schmerzen, körperliche Einschränkungen und Therapien geprägt gewesen und nur mit Kraft und Energie und dank der Unterstützung durch seine Familie habe er es trotz der schwersten Verletzungen geschafft, ins Leben zurückzufinden. Es würden gleichwohl physische und psychische Einschränkungen verbleiben und im Bereich der knöchernen Verletzungen könnten zukünftig Verschleißschäden auftreten, wie etwa Arthrose. Dieser Mechanismus sei der Einzelrichterin, die jahrelang Mitglied in einer Spezialkammer für Arzthaftungssachen gewesen sei, aus einer Vielzahl von Fällen bekannt. In Anbetracht der gravierenden Folgen des Unfalls für den Kläger sei unter Berücksichtigung des Mitverschuldensanteils von 40 % ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000,00 € angemessen. Auf die von den Beklagten bestrittenen Folgen des Unfalls käme es insoweit nicht an. Schließlich bewege sich die geforderte Höhe im Rahmen der Vergleichsrechtsprechung.“

Dagegen die Berufung der Beklagten, die teilweise Erfolg hatte. Das OLG hat – anders als das LG –  eine Haftungsquote der Beklagten von 1/3 angenommen.  Wegen der Begründungen verweise ich auf die recht umfangreichen Gründe der OLG-Entscheidung im Volltext. Hier stelle ich nur die Leitsätze des OLG ein. Sie lauten: 

    1. Wer von einem Radweg auf die Fahrbahn einfahren will, hat sich dabei gemäß § 10 S. 1 StVO so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies gilt auch für denjenigen, der vom Radweg auf einem Fußgängerüberweg auf die Fahrbahn einfährt.
    2. Auch gegenüber Kindern gilt der Vertrauensgrundsatz. Der Fahrer eines PKW muss besondere Vorkehrungen für seine Fahrweise gemäß § 3 Abs. 2a StVO nur dann treffen, wenn das Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigt, die zu einer konkreten Gefährdung führen können, und das Kind nach dem äußeren Erscheinungsbild als solches erkennbar war.
    3. Ein Fahrzeugführer muss auch bei Annäherung an einen Fußgängerüberweg ohne erkennbare Umstände nicht damit rechnen, dass ein 12-jähriges Kind, ohne seine Absicht merklich anzuzeigen, auf dem Fahrrad fahrend den Fußgängerüberweg überquert.
    4. Bei der Abwägung der Betriebsgefahr eines Fahrzeuges gegenüber dem schuldhaften Verstoß eines 12-jährigen Kindes gegen § 10 S. 1 StVO tritt die Betriebsgefahr des Kfz unter Berücksichtigung des Alters des geschädigten Kindes einerseits sowie der deutlichen Erhöhung der Betriebsgefahr des Fahrzeugs im Unfallgeschehen andererseits, auch angesichts der weiteren Gesamtumstände des Unfallgeschehens, nicht zurück (hier: Betriebsgefahr mit 1/3 berücksichtigt).

Unterbringung III: Neuregelung des § 64 StGB, oder: Neufälle/Altfälle – OLG Celle zum anwendbaren Recht

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Und als dritte Entscheidung zur Probelmati: Altes/Neues Recht bei der Unterbringung?, dann hier noch der OLG Celle, Beschl. v. 20.11.2023 – 2 Ws 317/23.

Der Verurteilte ist durch Urteil des LG Braunschweig vom 09.01.2023 wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gesprochen und unter Einbeziehung weiterer Strafen aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt. Zugleich wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Nach Verbüßung von Untersuchungs- und Organisationshaft wurde der Verurteilte am 04.04.2023 im Maßregelvollzug in der Psychiatrischen Klinik L. aufgenommen.

Mit Beschluss vom 10.10.2023 hat die Strafvollstreckungskammer des LG Lüneburg die Unterbringung in der Entziehungsanstalt für erledigt erklärt, die Reststrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt, den Eintritt der Führungsaufsicht festgestellt und diese näher ausgestaltet. Zur Begründung hat das LG ausgeführt, der Überprüfung sei die seit dem 01.10.2023 geltende neue Rechtslage zugrundezulegen. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, den Beschwerdeführer durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Abs. 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf seinen Hang zurückgehen, seien angesichts der fehlenden Erreichbarkeit und der ablehnenden Haltung des Beschwerdeführers zu der ihm angebotenen Behandlung nicht gegeben.

Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde. die keinen Erfolg hatte. Das OLG führt zum anwendbaren Recht aus:

„Der Erörterung bedarf lediglich die Frage, welche Fassung des § 64 StGB der gem. § 67e Abs. 2 StGB durch das Landgericht zu treffenden Entscheidung zugrunde zu legen war.

Gem. § 67d Abs. 5 StGB hat das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für erledigt zu erklären, wenn die Voraussetzungen des § 64 Satz 2 StGB nicht mehr vorliegen.

Diese Vorschrift des § 64 StGB wurde durch das am 1. Oktober 2023 in Kraft getretene Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vom 26.07.2023 (BGBl. I Nr. 203) neu gefasst. Während nach § 64 a. F. StGB eine Fortdauer der angeordneten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt „eine hinreichend konkrete Aussicht“ voraussetzte, den Verurteilten durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen, bedarf es nunmehr „tatsächlicher Anhaltspunkte“, aufgrund derer diese Erwartung gerechtfertigt ist.

Da die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers gem. § 64 StGB bereits vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig wurde, stellt sich die Frage, ob sich die Frage der Fortdauer der Vollstreckung nach altem oder neuem Recht richtet.

Der Senat erachtet unter Berücksichtigung des Wortlautes der einschlägigen Vorschriften (vgl. im Folgenden die Ausführungen unter 1.), des gesetzgeberischen Willens und aufgrund systematischer Erwägungen (im Folgenden 2.) sowie nach Sinn und Zweck der Gesetzesänderung (3.) die Anwendung des § 64 StGB in der derzeit gültigen Fassung für angezeigt. Diesem Verständnis stehen auch weder das Rückwirkungsverbot (4.) noch unüberwindbare Schwierigkeiten bei der Überprüfung der Fortdauer der Unterbringung gem. § 67e StGB entgegen (5.).

Im Einzelnen:

1. Durch das Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vom 26. Juli 2023 wurde auch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch geändert und ein neuer Artikel 316o eingefügt. In Abs. 2 dieser Vorschrift wird für die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig angeordneten Unterbringungen nach § 63 oder § 64 des Strafgesetzbuches § 67 StGB in der bis zu diesem Tag geltenden Fassung für anwendbar erklärt.

Nach dem eindeutigen Wortlaut von Artikel 316o Abs. 2 EGStGB haben mithin – von Fragen der Reihenfolge der Vollstreckung gem. § 67 StGB abgesehen – die aktuell gültigen Vorschriften für die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig angeordneten Unterbringungen nach § 63 oder § 64 Anwendung zu finden.

2. Diese Auslegung entspricht auch dem aus den Gesetzgebungsmaterialien ersichtlichen gesetzgeberischen Willen.

Dem Gesetzgeber war – wie aus der in Artikel 316o Abs. 2 EGStGB getroffenen Regelung deutlich wird – bewusst, dass sich infolge der Neufassung des § 64 StGB die Frage stellt, ob die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig gewordenen Unterbringungen nach altem oder neuem Recht erfolgt und dass es einer expliziten Regelung bedarf, wenn das bisherige Recht im Rahmen der Vollstreckung Anwendung finden soll. Denn in den Gesetzgebungsmaterialien ist festgehalten, dass die in Artikel 316o Abs. 2 EGStGB neu eingeführte Regelung der Anwendbarkeit von § 67 StGB a.F. eine Abweichung von dem in § 2 Absatz 6 StGB enthaltenen Grundsatz, wonach bei Maßregeln der Besserung und Sicherung das zum Zeitpunkt der Entscheidung geltende Recht anwendbar ist, darstellt (BT-Drucksache 20/5913, S. 77).

Während § 67 StGB in der bis zum 1. Oktober 2023 geltenden Fassung für den Fall der Vollstreckung der Maßregel vor der Strafe die Möglichkeit einer Aussetzung der Maßregel nach Verbüßung der Hälfte der Strafe unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3 zur Bewährung vorsah, ist nach der Neufassung dieser Vorschrift eine derart frühzeitige Entlassung zur Bewährung nur noch möglich, wenn die (deutlich strengeren) Voraussetzungen des § 57 Absatz 2 StGB entsprechend erfüllt sind.

Der Umstand, dass durch Art. 316o Abs. 2 EGStGB eine explizite Regelung der Fortgeltung alten Rechts allein für § 67 StGB und insbesondere für die dort geregelte Frage der frühst möglichen Aussetzung der Maßregel zur Bewährung getroffen wurde, lässt im Umkehrschluss den gesetzgeberischen Willen, dass sich die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig gewordenen Unterbringungen nach neuem Recht richten muss, eindeutig erkennen.

Denn über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich – wie hier – nichts anderes bestimmt ist, gem. § 2 Abs. 6 StGB nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt. Nach dieser Vorschrift sind die Voraussetzungen der seit 1. Oktober 2023 geltenden Neufassung des § 64 StGB auch im Erkenntnisverfahren auf „Altfälle“ anzuwenden (BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2023 – 5 StR 246/23 –, juris; BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2023 – 6 StR 405/23 –, juris).

3. Dieses Verständnis entspricht auch dem Sinn und Zweck, der mit der Gesetzesänderung angestrebt wurde. Denn die Neufassung des § 64 StGB erfolgte insbesondere mit dem Ziel, die Maßregel wieder stärker auf die tatsächlich behandlungsbedürftigen Straftäter zu konzentrieren und so zur Entlastung der Entziehungsanstalten beizutragen (BT-Drucksache 20/5913, S. 77). Gerade die nach der alten Fassung des § 67 StGB vorgesehene, lediglich vom Vorliegen der Voraussetzungen gem. § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und 3 abhängige Möglichkeit der Halbstrafenentlassung stellte zur Überzeugung des Gesetzgebers einen sachwidrigen Anreiz für eigentlich therapieunwillige Angeklagte mit hohen Begleitstrafen dar und führte zu einer Überbelegung der Maßregelvollzugskliniken mit „falschem Klientel“ (BT-Drucksache 20/5913, S. 77). Dem Ziel, die Überbelegung zu reduzieren, dient auch die Neufassung des § 64 StGB im Hinblick auf das Erfordernis der „tatsächlichen Anhaltspunkte“ (BT-Drucksache 20/5913, S. 48).

4. Ungeachtet des Umstandes, dass die h.M. in Rechtsprechung und Literatur von der Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 6 StGB ausgeht und ein Eingreifen des Art. 103 Abs. 2 GG bei Maßregeln der Besserung und Sicherung von vornherein verneint (Dannecker/Schuhr in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 2 Zeitliche Geltung, Rn. 170 m.w.N.), steht auch das Rückwirkungsverbot einer Anwendung des neuen Rechts auf „Altfälle“ nicht entgegen.

Denn während die vom Gesetzgeber gem. Artikel 316o Abs. 2 EGStGB vorgenommene Durchbrechung des Grundsatzes aus § 2 Abs. 6 StGB erforderlich war, um denjenigen, der durch eine vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig angeordneten Unterbringung nach § 64 im Maßregelvollzug untergebracht ist, vor einem mit der Änderung des § 67 StGB einhergehenden Nachteil – namentlich der höheren Anforderungen unterliegenden Möglichkeit einer Halbstrafentlassung – zu bewahren, ist dies hinsichtlich der übrigen Neuregelungen durch das Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vom 26. Juli 2023 nicht zwingend der Fall. Denn die Dauer der Unterbringung im Maßregelvollzug gem. § 64 StGB kann bei zugleich verhängter niedriger Begleitstrafe die Dauer der Inhaftierung im Strafvollzug deutlich übersteigen, so dass mit einer vorzeitigen Entlassung aus dem Maßregelvollzug gem. § 67d Abs. 5 i.V.m. § 64 S. 2 StGB in zahlreichen Fällen ein kürzerer Freiheitsentzug einhergehen kann.

5. Schließlich stehen der dargelegten Anwendbarkeit des § 64 StGB in der aktuellen Fassung auf die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig angeordneten Unterbringungen in einer Entziehungsanstalt auch keine hiermit einhergehenden gravierenden Schwierigkeiten in der vollstreckungsrechtlichen Prüfung entgegen.

Zwar hat die Strafvollstreckungskammer gem. § 67e Abs. 1 StGB von Amts wegen nicht nur ein Prüfungsrecht; vielmehr ist sie von Amts wegen verpflichtet, allen Anhaltspunkten nachzugehen, die darauf hinweisen, dass die Erledigung einer Maßregel angezeigt ist, was grundsätzlich auch der Fall sein kann, wenn sich der Prüfungsmaßstab für die Zulässigkeit der weiteren Unterbringung vor Ablauf der Prüfungsfristen des § 67e StGB ändert (OLG Hamm, Beschluss vom 28. März 2019 – III-3 Ws 99/19 –, juris; Peglau in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Auflage 2022, § 67e, Rn. 12, Fischer, StGB 70. Auflage 2023, § 67e, Rn. 2). Dies führt jedoch nicht zu einer Verpflichtung, nunmehr von Amts wegen die Fortdauer jeder vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig gewordenen Unterbringung gem. § 64 StGB zu prüfen. Denn Anhaltspunkte für eine Erledigung der Maßregel ergeben sich aus einer Gesetzesänderung erst dann, wenn Untergebrachter, Vollstreckungsbehörde oder Maßregelvollzugseinrichtung aufgrund der Gesetzesänderung zu der Einschätzung gelangen, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung nicht mehr vorliegen, und dies der Strafvollstreckungskammer zur Kenntnis bringen. „