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OWi II: Anforderungen an das Verwerfungsurteil, oder: „bin beim falschen Gericht, kann aber noch kommen.“

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Die zweite Entscheidung, der OLG Brandenburg, Beschl. v. 18.01.2024 – 2 ORbs 202/23 – befasst sich mal wieder mit einem der verfahrensrechtlichen Dauerbrenner im OWi-Verfahren, nämlich Verwerfung des Einspruchs des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG.

Das AG hat den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid, mit dem dem Betroffenen eine Geschwindigkeitsüberschreitung zur Last gelegt worden ist, verworfen, weil der Betroffene ohne genügende Entschuldigung zum Termin der Hauptverhandlung nicht erschienen sei. Zur Begründung hat das Amtsgericht wie folgt ausgeführt:

„Die von den Betroffenen telefonisch am Sitzungstag um 12:00 Uhr angegebenen Gründe vermögen über das Fernbleiben nicht zu entschuldigen, weil sie offensichtlich ein Verschulden des Betroffenen begründen.“

Dagegen der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, der erfolgreich war und zur Aufhebung des Verwerfungsurteils geführt hat:

„Die zulässig erhobene, den Begründungsanforderungen gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG genügende Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe rechtsfehlerhaft und mit unzureichender Würdigung angenommen, das Ausbleiben des Betroffenen sei nicht genügend entschuldigt, dringt durch.

1. Nach dem Rügevorbringen hat der Betroffene am Sitzungstag um 12:00 Uhr zu Beginn der Hauptverhandlung telefonisch mitgeteilt, „dass er sich im Gericht geirrt“ habe und „zum Gericht nach („Ort 01“) in die („Adresse 01“) gefahren“ sei. Ein diesbezüglicher Telefonvermerk der Verwalterin der Geschäftsstelle ist im Termin bekannt gegeben worden. Der Betroffene habe auch „angeboten, noch zum Gericht zu fahren“ und damit seine Absicht, an der Verhandlung teilzunehmen, telefonisch bekundet. Ihm hätte deshalb die Möglichkeit gegeben werden müssen, zu einer späteren Terminsstunde zu erscheinen. Das Amtsgericht habe rechtsfehlerhaft konkrete Feststellungen zur Frage der genügenden Entschuldigung nicht getroffen.

2. Das angefochtene Urteil unterliegt bereits deshalb der Aufhebung, weil sich das Amtsgericht in den Urteilsgründen mit dem Entschuldigungsvorbringen des Betroffenen nicht konkret und aus sich heraus verständlich befasst hat und dies dem Rechtsbeschwerdegericht keine hinreichende Überprüfung erlaubt, ob das Tatgericht rechtsfehlerfrei angenommen hat, dass der Betroffene ohne genügende Entschuldigung zum Termin der Hauptverhandlung nicht erschienen war.

a) Urteile, durch die ein Einspruch des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 Satz 1 OWiG verworfen wird, sind so zu begründen, dass das Rechtsbeschwerdegericht die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung nachprüfen kann. Hat der Betroffene Entschuldigungsgründe für sein Nichterscheinen vor dem Hauptverhandlungstermin mitgeteilt, oder bestehen sonst Anhaltspunkte für ein entschuldigtes Ausbleiben des Betroffenen, so muss sich das Urteil mit ihnen auseinandersetzen und erkennen lassen, warum das Gericht den vorgebrachten bzw. ersichtlichen Gründen die Anerkennung als ausreichende Entschuldigung versagt hat (ständige Rechtsprechung der Senate des Brandenburgischen Oberlandesgerichts, vgl. Beschl. v. 1. Dezember 2011 – 1 Ss [OWi] 207/11; Beschl. v. 21. März 2017 – [2 B] 53 Ss-OWi 124/17 [68/17]; Beschl. v. 20. Februar 2007 – 1 Ss [OWi] 45/07; Beschl. v. 30. Mai 2018 – [2 B] 53 Ss-OWi 164/18 [144/18]; vgl. auch OLG Düsseldorf VRS 74, 284, 285; BayObLG, Beschl. v. 5. Januar 1999 – 2 ObOWi 700/98, NStZ-RR 1999, 187; Göhler/Seitz/Bauer, OWiG 18. Aufl. § 74 Rn. 34, 35). Da das Rechtsbeschwerdegericht an die tatsächlichen Feststellung des angefochtenen Urteils gebunden ist und diese nicht im Wege des Freibeweises nachprüfen oder ergänzen darf (OLG Köln, Beschl. v. 20. Oktober 1998 – Ss 484/98 B, NZV 1999, 261, 262), ist eine tragfähige, in der Rechtsbeschwerdeinstanz nachprüfbare Auseinandersetzung mit dem Entschuldigungsvorbringen des Betroffenen unabdingbar; das Amtsgericht ist deshalb bei der Verwerfung des Einspruchs wegen Ausbleibens des Betroffenen in der Hauptverhandlung gehalten, die Umstände, die nach Auffassung des Betroffenen sein Fernbleiben im Hauptverhandlungstermin entschuldigen sollen, so vollständig und ausführlich mitzuteilen, dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Prüfung, ob zutreffend von einer nicht genügenden Entschuldigung ausgegangen worden ist, allein aufgrund der Urteilsgründe möglich ist (vgl. OLG Hamm VRS 93, 450, 452).

b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Weder wird das Entschuldigungsvorbringen des Betroffenen nachvollziehbar mitgeteilt noch ausgeführt, weshalb eine genügende Entschuldigung nicht vorliege. Die Würdigung des Amtsgerichts ist nicht aus sich heraus hinreichend verständlich dargestellt und lässt eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung nicht in ausreichendem Maße zu.

3. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass das Urteil auf der unzureichenden tatgerichtlichen Würdigung des Entschuldigungsvorbringens beruht. Dies wäre lediglich dann nicht der Fall, wenn die vom Betroffenen vorgebrachten Gründe von vornherein und ohne weiteres erkennbar nicht geeignet waren, sein Ausbleiben in der Hauptverhandlung zu entschuldigen (BayObLG, Beschl. v. 5. Januar 1999 – 2 ObOWi 700/98. NStZ-RR 1999, 187; OLG Oldenburg, Beschl. v. 31. August 2010 – 2 SsRs 170/10, NZV 2011, 96; Göhler/Seitz/Bauer, aaO. § 74 Rdnr. 48). So verhält es sich hier jedoch nicht.

Das in § 74 Abs. 2 OWiG geregelte Verfahren der Verwerfung des Einspruchs ohne Verhandlung zur Sache beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiterverfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet (Karlsruher Kommentar-OWiG/Senge, 5. Aufl. § 74 Rdnr. 19). Diese Vermutungswirkung ist u.a. dann entkräftet, wenn der Betroffene noch vor oder im Termin mitteilt, nicht rechtzeitig erscheinen zu können und sein Erscheinen in angemessener Zeit ankündigt (KG, Beschl. v. 10. März 2022 – 3 Ws [B] 56/22, zit. nach Juris). Das Gericht ist in diesem Fall gehalten, einen längeren Zeitraum zuzuwarten; nur wenn dem Gericht ein weiteres Zuwarten wegen anstehender weiterer Termine – auch im Interesse anderer Verfahrensbeteiligter – nicht zumutbar ist, gebührt dem Gebot der termingerechten Durchführung der Hauptverhandlung der Vorrang (KG, Beschl. v. 4. Juli 2012 – 3 Ws [B] 359/12, zit. nach Juris). Die Wartepflicht besteht unabhängig davon, ob den Betroffenen an der Verspätung ein Verschulden trifft, es sei denn ihm fällt grobe Fahrlässigkeit oder Mutwillen zur Last (KG aaO., mwN.).

Gemessen daran ist das Vorbringen des Betroffenen nicht von vornherein ungeeignet, eine genügende Entschuldigung und eine Verpflichtung des Amtsgerichts zu begründen, ihn aufgrund der bestehenden Fürsorgepflicht die Möglichkeit einzuräumen, durch ein verspätetes Erscheinen die Folgen einer Säumnis abzuwenden. Das Tatgericht wäre insofern gehalten gewesen, zu den zugrunde liegenden Einzelheiten – u.a. die Bereitschaft und der zu erwartende Zeitpunkt eines nachträglichen Erscheinens des Betroffenen, gegebenenfalls nach Rücksprache unter der von ihm angegebenen Mobilfunknummer sowie anstehende weitere Termine am Sitzungstag – konkrete Feststellungen zu treffen und diese unter Berücksichtigung des Grundsatzes des fairen Verfahrens in den Urteilsgründen näher zu würdigen.“

Teilwahlanwaltsvergütung neben Prozesskostenhilfe, oder: Eine ganz „besondere“ Vergütungsvereinbarung

Heute bei den RVG-Tag zunächst etwas zur Vergütungsvereinbarung, und zwar das OLG Brandenburg, Urt. v. 25.04.2023 – 6 U 78/22. Allerdings nicht eine der „normalen“ Entscheidungen zu § 3a RVG, sondern etwas Ungewöhliches. Und zwar:

Kläger und Beklagter sind in S. zugelassene Rechtsanwälte. Der Kläger begehrt von dem Beklagten, es zu unterlassen, mit Mandanten Vergütungsvereinbarungen zu treffen, durch die diese für den Fall der Bewilligung von Prozesskostenhilfe verpflichtet werden, an ihn zusätzlich zu der aus der Staatskasse zu zahlenden Vergütung (Abschlags-)Zahlungen in Höhe der Differenz zur Wahlanwaltsvergütung (§ 13 RVG) zu leisten. Weiterhin verlangt er von dem Beklagten, es zu unterlassen, entsprechende Gebühren zu verlangen bzw. in Empfang zu nehmen.

Der Klage liegt der folgende Sachverhalt zugrunde:

Am 23.11.2020 hatte der Beklagte mit seiner damaligen Mandantin Frau B… eine „Vergütungsvereinbarung“ getroffen, die auszugsweise lautete:

„I Vergütung

Die Auftraggeberin schuldet dem Rechtsanwalt gemäß § 49b BRAO mindestens die gesetzliche Vergütung.

Der Rechtsanwalt erhält für die Vertretung im Verfahren vor dem Arbeitsgericht Cottbus wegen Kündigung eine Abschlagszahlung in Höhe von insgesamt 252,30 €. Dieser Berechnung liegt ein Gegenstandswert von 6.000,00 € zu Grunde. Sollte durch das Gericht ein anderer Gegenstandswert festgelegt werden, ist eine Neuberechnung erforderlich.

Diese Abschlagszahlung wird bis zur Höhe der gesetzlichen Gebühr durch die im Rahmen der Prozess-/Verfahrenskostenhilfe aus der Landeskasse geleisteten Zahlungen ergänzt. (…)

Die Summe von Abschlagszahlung und die von der Landeskasse geleisteten Zahlung entsprechen der gesetzlichen Mindestgebühr.“ (…)

III Fälligkeit

Die vereinbarte Abschlagszahlung ist in monatlichen Raten zu je 50,– auf das Konto der … zu zahlen.“ (Anlage K1, Bl. 8 d.A.).

Am 25.11.2020 fertigte der Beklagte als Prozessbevollmächtigter der Mandantin B… eine Klageschrift verbunden mit einem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und reichte diese bei dem Arbeitsgericht Cottbus ein. Mit Schriftsatz vom 2.12.2020 erweiterte der Beklagte die Klage um 2.000 €. Der Rechtsstreit endete in mündlicher Verhandlung vom 17.12.2020 mit einem Vergleich (vgl. Anlage K3, Bl. 13f. d.A.). Mit Beschluss vom 07.01.2021 gewährte das Arbeitsgericht der Mandantin des Beklagten unter dessen Beiordnung antragsgemäß Prozesskostenhilfe mit Rückwirkung zum 25.11.2020 (Anlage K4, Bl. 15 d.A.). Unter dem 26.01.2021 berechnete der Beklagte gegenüber seiner Mandantin die von ihm beanspruchte Anwaltsvergütung auf Grundlage des nach Klageerweiterung auf 8.000 € erhöhten Gegenstandswerts. Diese übersandt er der Mandantin mit Anschreiben vom selben Tag, in dem er u.a. ausführte: „Ich erlaube mir daher, Ihnen die Neuberechnung, die in der Anlage beigefügt ist, bekannt zu geben und bitte Sie, diesen neuen Betrag in Höhe von 686,14 € bei Ihrer Ratenzahlung zu berücksichtigen“ (Anlage K 5, Bl. 16 f. d.A.).

Der Kläger sah dieses Abrechnungsverhalten des Beklagten als unlauter im Sinne des §§ 3, 3a UWG i.V.m. § 122 Abs. 3 Satz 1 ZPO i.V.m. §§ 4, 50 RVG, § 307 BGB, § 3a RVG und § 352 StGB an, weil der Beklagte Gebühren verlange und entgegennehme bzw. sich versprechen lasse, die ihm nicht zustünden. Er forderte den Beklagten mit Schreiben vom 01.02.2021 auf, dies künftig zu unterlassen und eine entsprechende Unterlassungsverpflichtungserklärung abzugeben. Dem kam der Beklagte nicht nach.

Der Kläger hat dann Klage erhoben und beim LG Recht bekommen. Dagegen dann die Berufung des Beklagten, die weitgehend keinen Erfolg hatte.

Das OLG hat sein Urteil umfassen begründet. Ich stelle daraus hier nichts ein, sondern verweise auf den verlinkten Volltext. Das OLG setzt sich umfassend mit der Zulässigkeit einer solchen Vereinbarung auseinander. M.E. lesenswert.

StPO III: Die „besondere Bedeutung des Falles“ im GVG, oder: Prominente Zeugen aus der Gesangsszene?

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Zu Zuständigkeitsfragen wird wenig veröffentlicht. Heute habe ich mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 19.10.2023 – 2 Ws 143/23 (S) – aber mal etwas aus dem Bereich.

Die Staatsanwaltschaft  wirft den Angeklagten versuchten Betrug beziehungsweise Beihilfe dazu im Zusammenhang mit einem Zivilrechtsstreit des Angeklagten. Dabei sollen die Angeklagten gefälschte Rechnungen ausgestellt und vorgelegt haben, um dem Zeugen F. zu schädigen.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das LG die Anklage der Staatsanwaltschaft zur Hauptverhandlung zugelassen, das Hauptverfahren jedoch abweichend von dem Antrag der Staatsanwaltschaft vor dem AG – Schöffengericht – eröffnet. Gegen Letzteres wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer sofortigen Beschwerde, die Erfolg hatte:

„Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässig und begründet. Das Hauptverfahren war vor dem Landgericht zu eröffnen. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) hat dazu in ihrer Beschwerdebegründung vom 2. August 2023 das Folgende ausgeführt:

„Das Landgericht Frankfurt (Oder) geht nach hiesiger Ansicht zu Unrecht von einem lediglich regional begrenzten Interesse an dem Strafverfahren aus. Zwar hat weder der Angeklagte noch der Zeuge eine besonders herausgehobene Stellung innerhalb der Gesellschaft inne, gleichwohl muss beachtet werden, dass ein erhebliches Medieninteresse, ähnlich wie in dem in B. bereits seit 3 Jahren fortdauernden Prozesses bestehen wird. Das Gericht verkennt insoweit, dass damit zu rechnen ist, dass der Angeklagte die tatsächliche Durchführung der behaupteten Bauarbeiten behaupten werden wird, unabhängig von den vorgelegten Rechnungen. Daher ist damit zu rechnen, dass aus dem Umfeld beider Beteiligten weitere bisher nicht benannte Zeugen zu hören sein werden, die mehr oder weniger Prominentenstatus innerhalb der Gesangsszene haben dürften. Auch die Einschätzung, dass der Zeuge F. lediglich an einem Tag zu vernehmen und seine Ehefrau als Zeugin nicht in Betracht kommt, ist nicht belegt. Auch hier verkennt die Kammer, dass in dem in Berlin geführten Verfahren eine mehrwöchige Vernehmung beider Personen notwendig war. Damit drängt sich die Annahme eines Ausnahmefalls auf, den das OLG Brandenburg (WiStra 2022, S. 479) beschrieben hat.“

Diesen zutreffenden Erwägungen tritt der Senat bei.

 

Einziehung II: Einstellung der angeordneten Einziehung, oder: Entreicherung muss konkret dargelegt werden

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Und dann als zweite Entscheidung eine Entscheidung aus dem Vollstreckungsverfahren, und zwar der OLG Brandenburg, Beschl. v. 17.05.2023 – 1 Ws 65/22.

Der Verurteilte erstrebt die gerichtliche Anordnung des Unterbleibens einer Wertersatzeinziehung gemäß § 459g Abs. 5 StPO, da der Wert des Erlangten nicht mehr in seinem Vermögen vorhanden sei und die weitere Vollstreckung sich als unverhältnismäßig erweisen würde. Eingezogen worden war ein Geldbetrag in Höhe von 117.676,90 EUR.

Wegen der Einzelheiten des Vollstreckungsverfahrens verweise ich auf den verlinkten Volltext.

Das OLG hat die Anordnung, dass die weitere Vollstreckung der angeordneten Einziehung eines Geldbetrages, der dem Wert des Erlangten entspricht, unterbleibt. Dazu führt es u.a. aus:

„a) Die Entscheidung über die Anordnung des Unterbleibens der Vollstreckung von Nebenfolgen, die zu einer Geldzahlung verpflichten, richtet sich im vorliegenden Fall nach § 459g Abs. 5 StPO a.F., d.h. in der bis zum 30. Juni 2021 geltenden Fassung. Nach § 459g Abs. 5 S. 1 StPO a.F. unterbleibt die weitere Vollstreckung von Nebenforderungen, soweit der Wert des Erlangten nicht mehr im Vermögen des Betroffenen vorhanden ist oder die Vollstreckung sonst unverhältnismäßig wäre.

Zwar ist die Vorschrift des § 459 StPO vor der angefochtenen Entscheidung durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25. Juni 2021 (BGBl. 2021, 2099) zum 1. Juli 2021 u.a. dahingehend geändert worden, dass in Absatz 5 die „Entreicherung“ als besonderer Aspekt der „sonstigen Unverhältnismäßigkeit“ und damit zugleich als zwingendes Vollstreckungshindernis gestrichen wurde. Jedoch wurde im vorliegenden Fall die Tat vor dem 1. Juli 2021 beendet und der Verurteilte hat vor dem 1. Juli 2021 das Unterbleiben der Vollstreckung beantragt, so dass entsprechend dem Meistbegünstigungsprinzip des § 2 Abs. 3 StGB das mildere Gesetz gilt. Dies ist im Vergleich zur jetzigen Regelung die bis zum 30. Juni 2021 geltende Fassung des § 459g Abs. 5 Satz 1 StPO, die für den Fall der Entreicherung das Unterbleiben der (weiteren) Vollstreckung zwingend anordnete.

Die Vorschrift des § 459g Abs. 5 Satz 1 StPO in der bis zum 30. Juni 2021 geltenden Fassung schreibt das Unterbleiben der Vollstreckung zwingend vor, wenn das durch die Straftat Erlangte bzw. dessen Wert nicht (mehr) im Vermögen des Tatbeteiligten vorhanden ist (vgl. BT-Drucks. 18/9525, 31, 95; BGH, Urteil vom 8. Mai 2019, 5 StR 95/19, zit. n. juris, dort Rn. 6; BGH, Urteil vom 15. Mai 2018, 1 StR 651/17, zit. n. juris, dort Rn. 57; BGH, Beschluss vom 22. März 2018, 3 StR 577/17; Senatsbeschluss vom 22. September 2022, 1 Ws 118/21 (S), in: NZI 2022, 954 ff.; OLG München, Beschluss vom 19. Juli 2018, 5 OLG 15 Ss 539/17, zit. n. juris, dort Rn. 26, OLG Nürnberg, Beschluss vom 13. Februar 2020, Ws 2/20, StraFo 2020, 393 f.), wobei die zivilrechtlichen Gesichtspunkte der verschärften Haftung gemäß § 818 Abs. 4, 819 BGB nach der Rechtsprechung bei der Auslegung von § 459g StPO keine Rolle spielen kann (vgl. Senatsbeschluss a.a.O.; OLG Schleswig, Beschluss vom 30. Januar 2020, 2 Ws 69/19 (40/19), NStZ-RR 2021, 63; OLG Nürnberg, Beschluss vom 13. Februar 2020, Ws 2/20, ZInsO 2020, 2144; LG Bochum Beschluss vom 24. April 2020, 12 KLs 6/19, NInsO 2021, 1452 f, jew. m.w.N.). Denn erkennbar hat sich der Gesetzgeber für eigenständige Wertungen des Vollstreckungsrechts entschieden, um zwar einerseits die Vermögensabschöpfung zu effektivieren, andererseits aber die Tatbeteiligten vor der „erdrosselnden“ Wirkung der Wertersatzanordnung trotz möglicher Entreicherung zu schützen (amtl. Begründung des Regierungsentwurfs zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, BT-Drucks. 18/9525, S. 57).

Zur Entlastung der Hauptverhandlung verlagerte der Reformgesetzgeber 2017 (Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017, BGBl. I, 872) die Härteklausel des § 73c StGB a.F., der dem erkennenden Gericht für den Fall der Entreicherung ein Ermessen eröffnete, von Verfallserscheinungen abzusehen, in das Vollstreckungsverfahren und erweiterte sie dahin, dass die Entreicherung nicht mehr fakultativ, sondern zwingend zum Ausschluss der Vollstreckung führte (s.o.; BT-Drucks. aaO.). Ungeachtet des Vorstehenden stellt die Frage der Entreicherung auch einen Aspekt der allgemeinen Verhältnismäßigkeit dar.

b) Im vorliegenden Fall ist von einer Entreicherung des Beschwerdeführers auszugehen.

Für die sichere Annahme eines Vermögensabflusses über bloße Vermutungen hinaus bedarf es einer tragfähigen Tatsachengrundlage, wozu das Gericht konkrete Feststellungen zu treffen hat. Insoweit kann bei der Entscheidung nach § 459g Abs. 5 Satz 1 StPO nichts anderes gelten als bei der Feststellung einer Entreicherung im Erkenntnisverfahren (vgl. Senatsbeschluss vom 22. September 2022, 1 Ws 118/21 (S), in: NZI 2022, 954 ff.; ebenso: KG Berlin, Beschluss vom 7. September 2020, 5 Ws 105/19, zit. n. juris, dort Rn. 18; OLG München, Beschluss vom 12. Februar 2019, 3 Ws 939/18, zit. n. juris, dort Rn. 13; Lubini, NZWiSt 2019, 419, 422; Appl, KK-StPO, 8. Aufl. § 459g Rn. 17; siehe auch zum Erkenntnisverfahren: BT-Drs. 18/9525, 47; BGH, Beschluss vom 8. August 2013, 3 StR 179/13, zit. n. juris, dort Rn. 2). Eine Amtspflicht zur Ermittlung dieser Tatsachengrundlage besteht für das Gericht indes nicht (Senatsbeschluss aaO.; KG aaO.; Rettke, NZWiSt 2019, 338, 339). Sie muss vielmehr – soweit entsprechende Tatsachen dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft nicht ohnehin bereits bekannt sind – vom Einziehungsadressaten dargelegt und nachgewiesen werden (Lubini a.a.O.; Wolf, Rpfleger 2017, 489, 493; Rettke, a.a.O., 340; siehe auch BT-Drs. 18/10146, 6, 12). Dies ist Folge der seit 2017 umgesetzten Verschiebung der Entreicherungsprüfung in das Vollstreckungsverfahren. Die Darlegungs- und Beweislastzuschreibung stellt dabei keine ungebührliche Belastung des Verurteilten dar, da die maßgeblichen Umstände zur Ermittlung eines Vermögensabflusses grundsätzlich in seiner Einfluss- und Kenntnissphäre liegen und er – anders als im Erkenntnisverfahren – bei der Tätigung von Angaben zu seinem Vermögen nicht mehr auf seine Verteidigung gegen den Tatvorwurf Bedacht nehmen muss (vgl. BGH, Beschluss vom 22. März 2018, 3 StR 577/17, zit. n. juris). Bloße, nicht nachprüfbare Behauptungen des Verurteilten bilden keine ausreichende Grundlage für die durch das Gericht zu treffenden Feststellungen (vgl. OLG Jena, Beschluss vom 7. November 2019, 1 Ws 341/19, zit. n. juris, dort Rn. 12), da sonst das Rechtsinstitut der Vermögensabschöpfung auf der Vollstreckungsebene ausgehöhlt werden könnte, was dem gesetzgeberischen Zweck der effektiven Abschöpfung inkriminierten Vermögens zuwiderliefe (siehe dazu BT-Drs. 18/9525, 45, 48).

Im vorliegenden Fall ist der Beschwerdeführer seiner Nachweispflicht nachgekommen, indem er seine Lohnabrechnungen eingereicht und seine Wohnkosten belegt hat. Aus den von ihm eingereichten Unterlagen ergibt sich, dass der Verurteilte verarmt ist.

Von seiner Nachweispflicht ist der Verurteilte zudem ausnahmsweise dann entbunden, wenn die absehensbegründenden Tatsachen der Strafvollstreckungsbehörde bzw. dem zur Entscheidung berufenen Gericht sicher bekannt sind (vgl. Senatsbeschluss vom 22. September 2022, 1 Ws 118/21 (S), in: NZI 2022, 954 ff.; OLG Jena, Beschluss vom 7. November 2019, 1 Ws 341/19, zit. n. juris, dort Rn. 12; Rettke, NZWiSt 2019, 338, 339). Eine entsprechende Kenntnis kann beispielsweise aus erfolglosen Vollstreckungsversuchen der Staatsanwaltschaft (dazu vgl. OLG München, Beschluss vom 3. November 2017, BesckRS 2017 136037, dort Rn. 15) oder aus den Feststellungen des die Wertersatzeinziehung anordnenden rechtskräftigen Urteils erwachsen. Hat das erkennende Gericht konkrete Feststellungen zur Entreicherung bei dem Verurteilten getroffen, sind diese von Amts wegen ermittelten und durch Strengbeweis gewonnenen Erkenntnisse im Vollstreckungsverfahren grundsätzlich taugliche Beurteilungsgrundlage (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 7. September 2020, 5 Ws 105/19, zit. n. juris, dort Rn. 18; OLG Nürnberg, Beschluss vom 13. Februar 2020, Ss 2/20, zit. n. juris, dort Rn. 2, 8; OLG München, Beschluss vom 3. November 2017, BesckRS 2017 136037, dort Rn. 16). Etwas anderes gilt nur dann, wenn nachträglich bekannt gewordene Tatsachen geeignet sind, die Urteilsfeststellungen in Zweifel zu ziehen. In diesem Fall lebt die Darlegungs- und Beweislast des Verurteilten hinsichtlich des Vermögensabflusses wieder auf. Denn für die Prüfung der Entreicherung kommt es auf den Zeitpunkt der Vollstreckungsentscheidung und nicht auf den der Verurteilung an (Köhler in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 459g Rn. 13); die Neuregelung des Rechts der Vermögensabschöpfung im Jahr 2017 sollte gerade auch der Abschöpfung nachträglich entdeckten Vermögens dienen (vgl. BT-Drs. 18/9525, 47 f., 57, 94). Für die Berücksichtigungsfähigkeit nachträglich bekannt werdender oder eintretender Umstände streitet auch die Regelung des § 459g Abs. 5 Satz 2 StPO, die für diese Fälle sogar die Wiederaufnahme der Vollstreckung nach einer zuvor gemäß § 459g Abs. 5 Satz 1 StPO getroffenen Absehensentscheidung vorsieht.

Entsprechend den vorgenannten Maßstäben ist bei einer Gesamtbetrachtung davon auszugehen, dass der Wert des durch die erhaltenen Provisionen Erlangten nicht mehr im Vermögen des Verurteilten vorhanden ist…..“

EV III: Mal wieder Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: Anwendbar auch beim Heranwachsenden

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Und dann zum Tagesschluss noch der OLG Brandenburg, Beschl. v. 12.10.2023 – 2 Ws 142/23 -, der sich mit der Frage der Anwendbarkeit des Haftgrundes der Widerholungsgefahr (§ 112a StPO)  im JGG-Verfahren befasst.

Das OLG hat die Anwendbarkeit bejaht:

„2. Aus den zutreffenden und fortdauernden Gründen des Haftbefehls besteht der Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO).

Dem Beschuldigten wird vorgeworfen, fortgesetzt schwerwiegende räuberische Erpressungen begangen zu haben. Neben den dem Haftbefehl zugrunde liegenden Vorwürfen soll er ausweislich des Schlussberichts vom 29. September 2023 in vorliegendem Ermittlungsverfahren eine Vielzahl weiterer gleichartiger Delikte begangen haben und es wurden darüber hinaus bereits mehrere Strafverfahren wegen derartiger Taten gegen ihn geführt. Wegen der großen Anzahl der Tatvorwürfe und der besonders hohen Rückfallgeschwindigkeit, die auch durch zwischenzeitliche Ermittlungsverfahren ersichtlich nicht verringert werden konnte, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er sich von den gegen ihn geführten Ermittlungen und Strafverfahren nicht von weiteren Erpressungen abhalten lassen, sondern vor rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens weitere derartige Straftaten begehen wird.

Entgegen der von der Verteidigung vertretenen Auffassung ist der Haftgrund der Wiederholungsgefahr nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Beschuldigte zur Tatzeit Heranwachsender war und insoweit möglicherweise nicht die Verhängung einer Freiheitsstrafe, sondern – jedenfalls wegen schädlicher Neigungen – aufgrund des Ausmaßes der Tatvorwürfe die Verurteilung zu einer unbedingten, ein Jahr weit übersteigenden Jugendstrafe zu erwarten ist. Entgegen der von der Verteidigung vertretenen Auffassung ist § 112 a StPO auch im Jugendstrafrecht anwendbar (vgl. OLG Hamburg, Beschl. v. 2. März 2017 – 1 Ws 14/17; KG, Beschl. v. 28. Februar 2012 – 4 Ws 18/12, zit. nach Juris mwN.). Auch der Umstand der erst nach Inhaftierung des Beschuldigten unterrichteten Jugendgerichtshilfe steht der Untersuchungshaft nicht entgegen. Möglichkeiten zur Haftvermeidung sind seitens des Jugendamtes verneint worden.“