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Pflichti III: Bestellung im KCanG-Nachverfahren?, oder: Ja, Verfahrensfairness und kostenrechtliche Sicherheit

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Und dann habe ich hier noch den LG Neuruppin, Beschl. v. 22.07.2024 – 11 Kls 5/22 – der zur Bestellung eines Pflichtverteidigers im Nachverfahren über die anlässlich des teilweisen Inkrafttretens des KCanG zum 01.04.2024 nach Maßgabe der Art. 313 Abs. 3 Satz 3, 316p EGStGB gebotene Strafermäßigungsprüfung Stellung nimmt. Für mich ein für die Praxis wichtiger Beschluss. Vor allem, weil ich bisher zu der Frage noch keinen Beschluss kannte.

Das LG führt zu der Frage aus:

§ 143 Abs. 1 StPO bestimmt, dass die – wie vorliegend geschehen – im Erkenntnisverfahren erfolgte Bestellung eines Pflichtverteidigers auch für das in § 460 StPO geregelte Nachverfahren über die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe fortwirkt. Ob eine derartige Erstreckung allerdings auch für das Nachverfahren über die anlässlich des teilweisen Inkrafttretens des Konsumcannabisgesetzes zum 01.04.2024 nach Maßgabe der Art. 313 Abs. 3 Satz 3, 316p EGStGB gebotene Strafermäßigungsprüfung gilt, erscheint mit Blick auf die fehlende Nennung des § 460 StPO in Art. 313 Abs. 5 EGStGB zumindest nicht unproblematisch. Da jedoch die Festsetzung von Freiheitsstrafen über einem Jahr nach den zu § 140 Abs. 2 StPO in der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäben ohne Verteidigung des Verurteilten in der Sache offenkundig ausscheiden muss, erscheint es aus Gründen der Verfahrensfairness wie zugleich auch, der kostenrechtlichen Sicherheit für den im Erkenntnisverfahren bereits bestellten Pflichtverteidiger geboten, dessen Bestellung auch für das vorliegende besondere Nachverfahren – und sei es mit bloß deklaratorischer Wirkung – erneut ausdrücklich auszusprechen.“

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: LG Halle versus LG Neuruppin/AG/LG Krefeld

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Und dann hier einige „Rückwirkungsentscheidungen“.

    1. Eine rückwirkende Bestellung zum Pflichtverteidiger ist jedenfalls dann vorzunehmen, wenn der Beschuldigte rechtzeitig eine Pflichtverteidigerbestellung ausdrücklich beantragt hatte, wenn die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen haben und wenn eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag ohne zwingenden Grund nicht unverzüglich erfolgt ist, da die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.
    2. Eine Vorlage des Antrages auf Bestellung des Pflichtverteidigers beim zuständigen Ermittlungsrichter mehr als drei Wochen nach dem (erstmaligen) Eingang des Antrages bei der Polizei ist nicht mehr unverzüglich.
    1. Der Verteidiger kann gegen die Ablehnung seiner Bestellung als Pflichtverteidiger nicht im eigenen Namen sofortige Beschwerde ein legen, weil er nicht in eigenen Rechten verletzt ist.
    2. Eine rückwirkende nachträgliche Bestellung eines Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger kommt nicht in Betracht (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung).

Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist nicht zulässig.

Die Entscheidung des LG Halle ist zutreffend, die des LG Neuruppin bzw. die von AG/LG Krefeld sind falsch.

Ich verstehe bei der Entscheidung des LG Neuruppin schon nicht, warum man den richtigen Weg, den man mal gegangen ist, nun verlässt und sich dabei mit der richtigen anderslautenden Rechtsprechung nicht auseinandersetzzt, sie ja noch nicht einmal erwähnt. Und das in einer Sache, in der die Frage überhaupt keine Rolle gespielt hat. Denn, wenn die sofortige Beschwerde unzulässig war, kam es auf die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung nicht an. Warum problematisiert man das dann und warum ändert man dann gerade in der Sache seine Rechtsprechung. Das sieht ein wenig nach „Herr Lehrer, ich weiß was.“ aus. Zudem dürfte das LG die Frage der Beschwerdebefugnis wohl nicht richtig entschieden haben. Denn: Warum geht man nicht den Weg der Auslegung, den andere Gerichte gegangen sind und sieht die sofortige Beschwerde als im Namen des Mandanten eingelegt an. Letztlich müsste man aber den genauen Wortlaut der Beschwerdeschrift kennen.

Beim AG Krefeld „erstaunt“ die Kürze der Begründung – gelinde ausgedrückt. Man kann dem Satz: „Zudem ist das Verfahren bereits eingestellt.“ entnehmen, dass das AG das Für und Wider erwogen und sich mit den für und gegen die rückwirkende Bestellung auseinandergesetzt hat. Oder doch nicht? Jedenfalls hat diese tiefschürfende Begründung das LG nicht davon abgehalten, sich mit dem Satz: „Die Kammer schließt sich auch in der Begründung den zutreffenden Erwägungen des mit der Beschwerde angegriffenen Beschlusses an.“ Man möchte schreien, wenn man es liest. Beides ist schlicht eine Unverschämtheit. Zumindest von einem LG als Beschwerdegericht sollte man mehr erwarten dürfen.

Gebühren des Terminsvertreters des „Pflichti“, oder: Der Terminsvertreter verdient alle Gebühren

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Und dann noch einmal etwas zum Terminsvertreter des Pflichtverteidigers, und zwar den LG Neuruppin, Beschl. v. 25.03.2024 – 11 Qs 76/23.

Folgender – bekannter 🙂 – Sachverhalt:

Dem Verurteilten ist mit Beschluss des AG Rechtsanwalt R1 als Pflichtverteidiger bestellt worden. In der Folgezeit wurde die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Strafrichter an drei Verhandlungstagen durchgeführt, wobei Rechtsanwalt R1 an den ersten beiden Verhandlungstagen als Verteidiger mitwirkte. Nachdem am Morgen des dritten Verhandlungstages eine Mitteilung beim AG eingegangen war, dass Rechtsanwalt R1 erkrankt und daher an einer Terminsteilnehme verhindert sei, zog der Strafrichter den – in unmittelbarer Nähe des AG kanzleiansässigen – Rechtsanwalt R2 hinzu und beschloss zu Verhandlungsbeginn – nach Anhörung des Vertreters der Staatsanwaltschaft, des Angeklagten und des Rechtsanwalts selbst – wie folgt: „Dem Angeklagten wird für den heutigen Hauptverhandlungstag Rechtsanwalt pp. aus pp. als notwendiger Verteidiger beigeordnet.“

Unmittelbar anschließend erfolgte sodann – die Beweisaufnahme war bereits am vorigen Hauptverhandlungstag geschlossen worden, auch waren anschließend bereits sämtliche Schlussanträge gehalten worden und dem Angeklagten das letzte Wort erteilt worden – die Urteilsverkündung.

Rechtsanwalt R 2 hat die Festsetzung seiner Vergütung beantragt und die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG, die Verfahrensgebühr Nr. 4106 W RVG und die Termingebühr Nr. 4108 VV RVG nebst Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG) und Umsatzsteuer beantragt. Die Rechtspflegerin des AG hat lediglich die Terminsgebühr nebst Umsatzsteuer festgesetzt. Gegen diese Festsetzung hat Rechtsanwalt R 2 Erinnerung eingelegt, die der Strafrichter als unbegründet verworfen hat. Die dagegen eingelegte Beschwerde des Rechtsanwalts R 2 hatte, nachdem der Einzelrichter die Entscheidung auf die Kammer übertragen hat, beim LG Erfolg. Nach Auffassung des LG waren die Gebühren so wie von Rechtsanwalt R 2 beantragt, festzusetzen.

Und da wir die Problemati schon zog-mal hatte, hier nur der Leitsatz, der lautet:

Aus der im Bestellungsbeschluss betreffend die Pflichtverteidigerbestellung vorgenommenen Beschränkung der Bestellung „für den heutigen Hauptverhandlungstag“ ergibt sich nicht, dass dem als Pflichtverteidiger bestellten Rechtsanwalt für seine Tätigkeit lediglich die für den Hauptverhandlungstag angefallene Terminsgebühr zustünde.

Rest bitte selbst nachlesen. Mit der Begründung kann man übrigens etwas anfangen, denn Beschluss ist zutreffend.

Pflichti III: Nochmals rückwirkende Bestellung, oder: Pro und Contra – pro hat Recht

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Und dann noch etwas zum Dauerbrenner im Bereich der §§ 140 ff. StPO, nämlich die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Da gibt es zwei Lager, die sich gegenüber stehen. M.E. hat das Lager, das eine rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers, insbesondere in den Fällen der Einstellung des Verfahrens (meist nach § 154 StPO) bejaht, ein leichtes Übergewicht.

Die Argumente in dieser Streitfrage sind ausgetauscht, so dass ich hier nur – der Vollständigkeit halber – die neueren Entscheidung pro/contra vorstelle. Und zwar.

Für die Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung haben sich ausgesprochen:

– LG Karlsruhe, Beschl. v. 14.11.2022 – 16 Qs 62/22

– LG Münster, Beschl. v. 4.11.2022 – 22 Qs 41/22 – für einen Nebenklagefall

– LG Neuruppin, Beschl. v. 01.12.2022 – 12 Qs 17/22 jug.

Gegen die Zulässigkeit argumentieren:

– LG Braunschweig, Beschl. v. 23.11.2022 – 9 Qs 346/22

LG Oldenburg, Beschl. v. 06.12.2022 – 3 Qs 409/22

Ich meine, die Auffassung, die für die Zulässigkeit plädiert, ist zutreffend. Letztlich wird die Frage aber ggf. irgendwann mal der BGH entscheiden. Hoffentlich.

Pflichti I: Zunächst zu den Beiordnungsgründen, oder: Mehrere Beschuldigte, BVV, JGG-Verfahren

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Heute steht dann mal wieder ein „Pflichtverteidigungstag“ an. Ich denke, es wird der letzte in diesem Jahr sein. Bei der Gelegenheit danke ich allen Einsendern, die mir im Laufe des Jahres insbesondere (auch) Pflichtverteidigungsentscheidungen geschickt haben. So ist eine schöne Sammlung zustande gekommen.

Ich beginne heute die Berichterstattung hier mit drei LG-Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Im Falle mehrerer Mitbeschuldigter kann, wenn ein Mitbeschuldigter einen Verteidiger hat, die Beiordnung eines Rechtsanwalts für die anderen Mitbeschuldigten in Betracht kommen, insbesondere wenn sich die Beschuldigten gegenseitig belasten.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO liegt u.a. vor, wenn fraglich ist, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt oder wenn es sich um Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen handelt.

Die Mitwirkung eines Verteidigers ist geboten, wenn die Beschuldigte zur mutmaßlichen Tatzeit erst 14 Jahre und drei Monate alt war und zudem an einer sonstigen kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (ICD-10 F92.8), einer Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (ICD-10 F94.2) und einer ernsthaften sozialen Beeinträchtigung leidet und zudem nur eine unterdurchschnittliche Intelligenz hat.