Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich bei der Überschrift zu diesem Posting (wieder) Kommentare bekomme betreffend „RiAG-Bashing“. Nein, ich bin nicht – aus welchen Gründen auch immer – gefrustet, wie neulich ein Kommentator vermutet hat. Aber manche Dinge, die man in OLG-Urteile zu AG-Urteilen liest, kann man m.E. nur mit deutlichen Worten beschreiben und kommentieren. Und dazu gehört für mich jetzt das Verhalten des Amtsrichters beim AG Tiergarten, das das KG im KG, Beschl. v. 14.09.2017 – 3 Ws 282/17 – 122 Ss 144/17 – zu beurteilen hatte. Da fragt man – zumindest ich mich – wirklich: Wie „bescheuert“ muss man eigentlich sein, wenn man die Beweiswürdigung – hier die Identifizierung des Betroffenen als Fahrerin – auf Beweismittel stützt, die erst nach der Hauptverhandlung zur Akte gelangt sind.
Ja, richtig gelesen. Das AG-Urteil stammt vom 22.06.2017, in der Akte befindet sich bis dahin ein Bild der Betroffenen auf Blatt 4 d.A. Es wird dann mit Verfügung des Polizeipräsidenten in Berlin vom 26.06.2017 – eingegangen beim AG Tiergarten am 27.06.2017 einw eiteres Lichtbild übersandt. Das AG stellt bei der Beweiswürdigung auch auf dieses Lichtbild der Betroffenen ab. Die „Inbegriffsrüge“ der Betroffenen hatte dann natürlich Erfolg:
„Das Amtsgericht hat seine Überzeugung von der Fahrereigenschaft der Betroffenen ausdrücklich sowohl auf einen Vergleich der Betroffenen mit dem Lichtbild Bl. 4 d. A. als auch mit dem Lichtbild Bl. 110 d. A. gestützt (UA S. 3):
Aus der Übersendungsverfügung des Polizeipräsidenten in Berlin vom 26. Juni 2017 und dem Eingangsstempel des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. Juni 2017 (Bl. 100 d. A.) ergibt sich jedoch, dass das Lichtbild Bl. 110 d. A. erst nach der Hauptverhandlung zu den Akten gelangt ist und damit in die Hauptverhandlung nicht eingeführt worden sein kann.
Grundlage der Überzeugungsbildung des Richters und der Urteilsfindung darf nur das sein, was innerhalb der Hauptverhandlung, d.h. vom Aufruf der Sache bis zum letzten Wort des Angeklagten mündlich so erörtert worden ist, dass alle Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme hatten (vgl. BGH NStZ 2017, 375 f.; BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 47; Ott in Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Aufl., § 261 Rdnr. 6). Gründet das Gericht seine Überzeugung auch auf Tatsachen, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren, zu denen sich also der Angeklagte dem erkennenden Gericht gegenüber nicht abschließend äußern könnte, so verstößt das Verfahren nicht nur gegen § 261 StPO, sondern zugleich auch gegen den in § 261 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs (vgl. BGH NStZ 2017, 375 f.).
Eine Verletzung des § 261 StPO kann auch nicht bereits, an der Erwägung scheitern; das Urteil könne nicht auf einem Vorgang beruhen, der sich erst. nach Verkündung des Urteils ereignet hat, weil dieser Vorgang bei der vorangegangen Überzeugungsbildung und Urteilsfindung keine Rolle gespielt haben könne,
Dem steht entgegen, dass das Revisionsgericht das angefochtene Urteil nur „in der untrennbaren Einheit“ nachprüfen kann, die der Urteilstenor und die schriftlichen Urteilsgründe miteinander bilden (vgl. bereits RGSt 71, 326, 327; vgl. BGH NStZ 2017, 375 f.). Andernfalls bestünde die Gefahr, dass eine nachträglich erkannte Lücke in der Beweiswürdigung durch Erkenntnisse, die nach Abschluss der Hauptverhandlung gewonnen werden, noch geschlossen werden kannte. Die schriftlichen Urteilsgründe sollen indes die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen des. Urteils wiedergeben, wie sie nach der Hauptverhandlung in der Beratung gewonnen worden sind, und dadurch dem Revisionsgericht die Nachprüfung der getroffenen Entscheidungen auf ihre Richtigkeit ermöglichen. Daher darf auch das schriftliche Urteil nur auf Erkenntnisse gestützt werden, die im Verfahren nach § 261 StPO gewonnen worden sind und zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten (vgl. BGH a.a.O.). Es dürfen mithin weder Erkenntnisse, die während (vgl. BGH NStZ 2001, 595, 596; 9) noch solche, die erst nach der Urteilsverkündung erlangt wurden, zur schriftlichen Begründung der gewonnenen Überzeugung herangezogen werden.
Es ist nicht auszuschließen, dass das Urteil auf diesem Verfahrensfehler beruht; denn das Amtsgericht hat seine Überzeugung von der Fahrereigenschaft der Betroffenen ausdrücklich auf beide Lichtbilder gestützt, die auch unterschiedliche Perspektiven des Gesichts der Betroffenen aufweisen.
Die Bezugnahme auch auf dieses Lichtbild in den schriftlichen Urteilsgründen könnte zwar dann unschädlich sein, wenn zweifelsfrei feststünde, dass das – rechtlich fehlerfrei – gewonnene Ergebnis lediglich durch Umstände bestätigt wurde, die nach Verkündung des Urteils entstanden sind (vgl. BGH NStZ 2017, 375 f.). So verhält es sich hier aber nicht. Der Tatrichter ist nicht von einer nur späteren Bestätigung seiner – unabhängig von dem zweiten Lichtbild – gewonnenen Überzeugung ausgegangen, sondern hat bereits verschwiegen, dass es sich um ein erst nachträglich zu den Akten gelangtes Lichtbild handelt.
„Schön“ auch die weiteren Bestandungen des KG:
„Im Übrigen beanstandet die Rechtsbeschwerde mit der Sachrüge zu Recht, dass das Amtsgericht den Ausschluss der älteren Schwester der Betroffenen als Fahrerin durch einen Vergleich zwischen dem in der Hauptverhandlung überreichten Lichtbild der Schwester der Betroffenen und der Betroffenen selbst vorgenommen hat (UA S. 4) und nicht durch einen Vergleich des Lichtbildes der Schwester mit dem Lichtbild der Fahrerin; denn der Vergleich der beiden Schwestern wäre nur dann von Bedeutung, wenn bereits feststünde, dass die Betroffene die Fahrerin war. Dies sollte jedoch erst bewiesen werden.
Ferner begegnet Bedenken, dass der Tatrichter Zweifel an der Einlassung der Betroffenen, Ihre ältere Schwester könne gefahren sein, auch darauf gestützt hat, dass diese im Vorverfahren nicht benannt würde (UA 3). Denn ein belastendes Indiz darf nicht aus dem Zeitpunkt des Antritts eines Entlastungsbeweises hergeleitet werden. Selbst wenn der Zeitpunkteines Vorbringens ausnahmsweise als solcher einer Beweiswürdigung zugänglich sein sollte, ist eine darauf abstellende Beweiswürdigung nur dann lückenlos und tragfähig, wenn naheliegende Erklärungsmöglichkeiten für ein verspätetes Vorbringen erörtert und ausgeräumt werden (vgl. BGH NStZ 2002, 161).“