Schlagwort-Archive: genügende Entschuldigung

StPO II: „per Schnelltest positiv auf Corona getestet“, oder: Wiedereinsetzung gegen Berufungsverwerfung

Bild von Alexandra_Koch auf Pixabay

Als zweite Entscheidung kommt dann hier der OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.02.2023 – 1 ORs 5/23, der sich noch einmal zu Berufungsverwerfung – Stichworte: genügende Entschuldigung, Wiedereinsetzung – äußert.

Der Angeklagte ist vom LG zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Er legt Berufung ein und wird ordnungsgemäß zur Berufungshauptverhandlung geladen. Wenige  Stunden vor dem geplanten Aufruf der Sache Angeklagte teilt der Angeklagte dem LG am Terminstag über seinen Verteidiger mit, dass er sich per Schnelltest positiv auf das Coronavirus getestet habe. Er habe sogleich einen PCR-Test durchführen lassen, dessen Ergebnis noch ausstehe, und sich in häusliche Quarantäne begeben. Zur Berufungshauptverhandlung erschien dann weder der Angeklagte noch sein Verteidiger.

Daraufhin hat das LG die Berufung des Angeklagten wegen unentschuldigten Ausbleibens nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen. Die Mitteilung des Verteidigers entbehre der erforderlichen Glaubhaftmachung. Namentlich beanstandete die Kammer, dass kein Nachweis über die Durchführung eines positiv ausgefallen Schnelltest bzw. die Teilnahme an einer PCR-Testung vorgelegt worden sei.

Hiergegen hat der Angeklagte unter Vorlage einer Bescheinigung über einen positiven PCR-Test sowohl Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung beantragt als auch Revision eingelegt. Den Wiedereinsetzungsantrag hat das LG verworfen und zur Begründung insbesondere darauf abgestellt, dass es an einer Glaubhaftmachung des geltend gemachten Entschuldigungsgrundes fehle. Auf die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde des Angeklagten hat das OLG den Beschluss aufgehoben und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Das Verwerfungsurteil und die Revision hiergegen seien deshalb gegenstandslos:

„1. a) Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Potsdam vom 29. März 2022 ist gemäß § 46 Abs. 3 StPO statthaft und nach §§ 306, 311 Abs. 1 StPO form- und fristgerecht eingelegt worden.

b) In der Sache hat das Rechtsmittel Erfolg.

aa) Nach §§ 329 Abs. 7 StPO kann ein Angeklagter unter den Voraussetzungen von §§ 44, 45 StPO die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beanspruchen, wenn er darlegt und glaubhaft macht, dass er ohne Verschulden verhindert war, an der Berufungsverhandlung teilzunehmen. Hierzu sind nach § 329 Abs. 7 i. V. m. § 45 Abs. 2 S. 1 StPO binnen Wochenfrist nach Wegfall des Hindernisses die Tatsachen so vollständig vorzutragen, dass ihnen – als wahr unterstellt – die unverschuldete Verhinderung des Angeklagten ohne weiteres entnommen werden kann. Hierzu bedarf es einer genauen Darstellung der Tatsachen, die für die Frage bedeutsam sind, wie und durch welche Umstände es zur Versäumung der Berufungsverhandlung gekommen ist. Das Mittel der Glaubhaftmachung kann auch im Beschwerderechtszug nachgereicht werden (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 45 Rn. 7 m. w. N.).

Diesen Formerfordernissen hat der Angeklagte entsprochen, indem er mit den am 14. Februar 2022 und am 19. Mai 2022 bei Gericht angebrachten Anwaltsschriftsätzen, spätestens am 19. Mai 2022 unter Vorlage des positiven PCR-Testergebnisses vom 28. Januar 2022, dargelegt hat, dass er im Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung an einer SARS-Cov-2-Infektion gelitten habe.

bb) Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungshauptverhandlung ist nicht durch die gleichzeitig erhobene Revision ausgeschlossen (vgl. § 342 StPO).

(1.) Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungshauptverhandlung nach § 329 Abs. 7 StPO setzt voraus, dass zur Entschuldigung geeignete Tatsachen geltend und glaubhaft gemacht werden, die dem Berufungsgericht nicht bekannt waren (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 31. Juli 2008, 3 Ss 288/08, zit. n. juris; OLG Köln StV 1989, 53; OLG München NStZ 1988, 377). Die Rechtsfehlerhaftigkeit der Verwerfung der Berufung bei fehlerhafter Würdigung gerichtsbekannter Tatsachen kann nicht im Wiedereinsetzungsverfahren, sondern nur mit der Revision geltend gemacht werden (vgl. OLG Hamm wistra 2008, 40; OLG Hamm wistra 1997, 157; OLG Düsseldorf StV 2009, 13; OLG Düsseldorf wistra 2003, 399 f.; OLG Düsseldorf VRS 97, 139; OLG Jena VRS 205, 299). Auch auf neue Beweismittel für die vom Berufungsgericht schon gewürdigten Tatsachen kann der Wiedereinsetzungsantrag nicht gestützt werden (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 28. September 2017, 4 Ws 120/17, zit. n. juris; OLG Düsseldorf NStZ 1992, 99f.; OLG Hamburg MDR 1991, 469; zum Ganzen: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. § 329 Rdnr. 42 m.w.N.).

(2.) Es kann vorliegend dahinstehen, ob die Tatsache, dass der Angeklagte auch mit dem PCR-Test positiv auf eine Coronainfektion getestet wurde, eine neue Tatsache ist, die die Prüfung der Wiedereinsetzung veranlasst. Denn der Grundsatz, dass eine Wiedereinsetzung nicht mit der gleichen Tatsachenbehauptung beantragt werden kann, mit der ein Angeklagter sein Nichterscheinen bereits entschuldigt hat, gilt jedenfalls dann nicht, wenn es das Berufungsgericht versäumt hat, diese Tatsache in dem Urteil nach § 329 Abs. 1 StPO zu würdigen (vgl. OLG München, Beschluss vom 21. April 1988, 2 Ws 191/88, NStZ 1988, 377 f.; Löwe/Rosenberg, StPO, 23. Aufl., § 329 Rn. 118; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 329 Rn. 42 jeweils m.w.N.).

Ein solcher Fall liegt hier vor. Das Berufungsgericht hat das tatsächliche Vorbringen des Angeklagten nicht gewürdigt. In dem Verwerfungsurteil des Landgerichts Potsdam vom 29. März 2022 ist zwar ausgeführt, dass der Verteidiger mitgeteilt habe, „der Angeklagte habe sich per Schnelltest positiv auf Corona getestet und habe sich vorsorglich in die häusliche Quarantäne begeben“, jedoch erachtet das Berufungsgericht diesen Vortrag als unbeachtlich, da diese Mitteilung des Verteidigers „der erforderlichen Glaubhaftmachung etwa durch einen Nachweis eines positiv ausgefallenen Schnelltestes“ entbehre. Die von der Berufungskammer postulierte Notwendigkeit einer Glaubhaftmachung, aufgrund derer in die Prüfung der Entschuldigungsgründe nicht eingetreten wurde, ist rechtsfehlerhaft. Eine Entschuldigung gemäß § 329 Abs. 1 StPO ist dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Angeklagten einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d.h. wenn dem Angeklagten unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolgedessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann (vgl. Senatsbeschluss vom 8. April 2010, 1 Ss OWi 84 B/10; Senatsbeschluss vom 23. Februar 2009 – 1 Ss (OWi) 9 B/09; OLG Bamberg DAR 2008, 217). Dabei trifft den Angeklagten hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes im Rahmen des § 329 Abs. 1 StPO – anders als im Wiedereinsetzungsverfahren (§ 45 Abs. 2 Satz 1 StPO) – keine Pflicht zur Glaubhaftmachung oder auch zu einem lückenlosen Nachweis (vgl. bereits BGHSt 17, 391, 396, KG JR 1978, 36; OLG Celle StV 1987, 192; OLG Koblenz VRS 64, 211, 212; OLG Köln NZV 1999, 261, jeweils m.w.N.). Daraus wiederum folgt, dass eine genügende Entschuldigung nicht schon deshalb zu verneinen ist, weil der Entschuldigungsgrund nicht glaubhaft gemacht worden ist (vgl. BayObLG NJW 1998, 172; OLG Köln NJW 1953, 1046).

Erforderlich und ausreichend ist hier, dass der Angeklagte vor der Hauptverhandlung schlüssig einen Sachverhalt vorträgt oder vortragen lässt, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen, dem Gericht somit hinreichende Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung zur Kenntnis gebracht sind (vgl. Senatsbeschluss vom 8. April 2010 a.a.O.; OLG Bamberg DAR 2008, 217).

Dadurch, dass das Berufungsgericht das Verwerfungsurteil (rechtsfehlerhaft) auf die fehlende Glaubhaftmachung eines Entschuldigungsgrundes gestützt hat, folgt, dass es das tatsächliche Vorbringen des Angeklagten, sich am Tag der Hauptverhandlung wegen eines positiven Corona-Schnelltests in häuslicher Quarantäne befunden zu haben, nicht bei seiner Entscheidung erwogen und gewürdigt hat, ja nicht einmal konkrete Tatsachen festgestellt hat und auch nicht in das Freibeweisverfahren, beispielsweise zur Ermittlung des Aufenthalts des Angeklagten, eingetreten ist. Die Verwehrung einer Sachentscheidung im Wiedereinsetzungsverfahren ist nur gerechtfertigt, wenn sich aus der Wiederholung des Tatsachenvortrages ergibt, dass sich der Antragsteller damit lediglich gegen die Beweiswürdigung wendet und rügt, dass das Berufungsgericht das Vorbringen zu Unrecht als zur Entschuldigung nicht genügend angesehen habe. In einem solchen Fall ist im Hinblick auf die Möglichkeit der Revision kein Schutzbedürfnis dafür gegeben, dass der gleiche Sachverhalt von dem Berufungsgericht ein zweites Mal entschieden werden soll. Die Berechenbarkeit des Rechts erfordert aber, dass der Angeklagte auch weiß, dass sein Entschuldigungsvorbringen bereits in vollem Umfang gewürdigt wurde. Ein solches Wissen ist nur aus dem Urteil selbst zu gewinnen. Gibt das Urteil darüber keinen ausreichenden Aufschluss, kann der Angeklagte durchaus der Meinung sein, dass sein Vorbringen zumindest teilweise übersehen oder auch nur im Tatsächlichen verkannt wurde, also über erhebliche Gründe möglicherweise noch gar nicht entschieden ist (vgl. OLG München, Beschluss vom 21. April 1988, 2 Ws 191/88 NStZ 1988, 377 f.). Letzteres ist hier der Fall, da das Berufungsgericht das Verwerfungsurteil auf die fehlende Glaubhaftmachung gestützt hat und die vorgebrachten Tatsachen dazu konsequent nicht erwogen hat.

Nach alledem ist der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungshauptverhandlung der maßgebliche Rechtsbehelf (vgl. § 342 StPO).

cc) Aufgrund der über seinen Verteidiger vorgetragenen Coronainfektion ist das Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung am 27. Januar 2022 genügend entschuldigt und im Wiedereinsetzungsverfahren durch das im Beschwerdeverfahren eingereichte positive Ergebnis des PCR-Tests auch ausreichend glaubhaft gemacht worden.

Nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung ist § 329 Abs. 1 StGB eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift, die sich bei der Frage der genügenden Entschuldigung in Zweifelsfällen zu Gunsten des Angeklagten auswirkt (vgl. OLG Stuttgart Justiz 2004, 126 m. zahlr. N.; BayObLG StV 2001, 338). Entscheidend ist nicht, ob sich der Angeklagte genügend entschuldigt hat, sondern ob er genügend entschuldigt ist (ganz h. M., vgl. statt vieler: BayObLG NZV 1998, S. 426; OLG Düsseldorf VRS 92, S. 259; OLG Koblenz VRS 60, S. 465; OLG Stuttgart NZV 1992, S. 462). Eine Entschuldigung ist dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Angeklagten einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d.h. wenn dem Angeklagten unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolgedessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann (vgl. Senatsbeschluss vom 8. April 2010, 1 Ss OWi 84 B/10; Senatsbeschluss vom 23. Februar 2009 – 1 Ss (OWi) 9 B/09; OLG Bamberg DAR 2008, 217). Dabei ist es, wie bereits ausgeführt, erforderlich, dass der Angeklagte mit dem Wiedereinsetzungsantrag schlüssig einen Sachverhalt vorträgt oder vortragen lässt, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen. Eine Krankheit stellt dabei einen ausreichenden Entschuldigungsgrund dar, wenn sie nach ihrer Art und nach ihren Wirkungen, insbesondere nach dem Umfang der von ihr ausgehenden körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unzumutbar erscheinen lässt (OLG Düsseldorf NStZ 1984, 331; OLG Köln DAR 1987, 267). Ein Sachvortrag, der dem Gericht eine Bewertung von Krankheit eines Angeklagten als Entschuldigungsgrund nach diesen Kriterien ermöglichen soll, erfordert für seine Schlüssigkeit daher zumindest die Darlegung eines krankheitswertigen Zustandes, also eines regelwidrigen Körper- oder Geisteszustands, der ärztlicher Behandlung bedarf (vgl. auch BSGE 35, 10 ff., 12). Für den Fall, dass eine Infektion mit dem Coronavirus vorgebracht wird, ist ein solches Vorbringen indes nicht erforderlich, denn das Fernbleiben ist in diesem Fall nicht lediglich durch eine Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten, sondern bereits durch die Schutzbedürftigkeit anderer Prozessbeteiligter vor einer Infektion gerechtfertigt (BayObLG, Beschluss vom 25.10.2022 – 206 StRR 286/22BeckRS 2022, 30918). Eine Infektion mit dem Coronavirus rechtfertigte und gebot zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung schon aufgrund bestehender öffentlich-rechtlicher Vorschriften (auch ohne das Vorliegen von Krankheitssymptomen) das Fernbleiben von einer Gerichtsverhandlung (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 2. SARS-CoV-2-EindV).

Der bloße Verdacht, dass ein Entschuldigungsgrund nur vorgeschützt sein könnte, rechtfertigt es im Übrigen nicht, den Angeklagten als unentschuldigt zu behandeln. Bleibt zweifelhaft, ob er genügend entschuldigt ist, dann sind die Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht gegeben; solche Zweifel verpflichten vielmehr zu ihrer Klärung (Gössel in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auflage, § 329 Rn. 26).

Mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat der Angeklagte weit mehr als den Verdacht einer bei ihm akut vorliegenden Coronainfektion vorgetragen und durch den Befundbericht vom 28. Januar 2022 über das positive Ergebnis des PCR-Tests vom 26. Januar 2022 glaubhaft gemacht, nämlich dass er tatsächlich im Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung mit dem SARS-Cov-2-Virus infiziert war. Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft bestehen keine begründeten Zweifel an einer Coronainfektion des Angeklagten zu jenem Zeitpunkt.

Zur Glaubhaftmachung der Wiedereinsetzungstatsache genügt es, dass dem Gericht in einem nach Lage der Sache vernünftigerweise zur Entscheidung hinreichendem Maß die Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit dargetan wird (OLG Düsseldorf NJW 1985, 2207, wistra 1990, 364). Das vorgelegte Testergebnis des Labors bezieht sich auf den Angeklagten, dessen Vor- und Zuname sowie sein Geburtsdatum dort korrekt angegeben sind. Zwar ist eine Personalausweis- oder Reisepassnummer nicht eingetragen, sodass die Testung eines anderen mit dem Coronavirus infizierten Mannes, der die Personalien des Angeklagten angegeben hat, theoretisch möglich ist. Der Senat betrachtet dies jedoch unter Berücksichtigung der üblichen Gepflogenheiten im medizinischen Bereich als fernliegend, Anhaltspunkte dafür sind jedenfalls nicht ersichtlich.

Nach alledem ist der Angeklagte unverschuldet der Berufungshauptverhandlung am 27. Januar 2022 ferngeblieben, mithin als entschuldigt anzusehen, so dass er unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses der 7. kleinen Strafkammer des Landgerichts Potsdam vom 29. März 2022 gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung am 27. Januar 2022 in den vorigen Stand zu setzen ist.

Corona II: Ausbleiben im Termin wegen Corona, oder: Foto vom positiven Selbsttest reicht als Entschuldigung

Bild von Alexandra_Koch auf Pixabay

Die zweite „Corona-Entscheidung“, der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 16.02.2023 – 1 ORs 2 Ss 44/22 – behandelt auch eine verfahrensrechtliche Problematik, und zwar die Frage der genügenden Entschuldigung für das Ausbleiben in der Berufungshauptverhandlung (§ 329 StPO).

Das LG hat die Berufung des Angeklagten gegen ein amtsgerichtliche Urteil gemäß § 329 Abs. 1 StPO verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Angeklagte mit E-Mail vom 23.08.2022 mitgeteilt habe, an Corona erkrankt zu sein und deshalb den Termin nicht wahrnehmen zu können. Ihm sei unter Hinweis auf die Folge des Nichterscheinens erklärt worden, dass er ein Attest vorlegen müsse. Der Angeklagte habe mitgeteilt, sein Hausarzt sei im Urlaub und er selbst befinde sich in Quarantäne. Sodann habe er ein Lichtbild eines positiven Coronatests vorgelegt. Nachdem die Geschäftsstelle erneut mitgeteilt habe, dass ein ärztliches Attest oder der Nachweis einer Coronaerkrankung in Form eines schriftlichen Testergebnisses vorgelegt werden müsse, habe er am 25.02.2022 ein ärztliches Attest vorgelegt, aus dem sich ergebe, dass er bei einer Praxis angerufen und dort erklärt habe, er sei hochfiebrig und habe eine Covid-19-Infektion. Eine ärztliche Untersuchung habe nicht stattgefunden. Weitere Entschuldigungsgründe seien nicht bekannt geworden.

Die dagegen eingelegte Revision hat beim OLG mit der Verfahrensrüge Erfolg:

„Die Revision hat mit der formgerecht gemäß § 344 Abs. 2 StPO erhobenen Verfahrensrüge der Verletzung des § 329 Abs. 1 StPO Erfolg, da das Landgericht rechtsfehlerhaft davon ausgegangen ist, der Angeklagte sei nicht genügend entschuldigt.

1. Gemäß § 329 Abs. 1 StPO hat das Gericht die Berufung zu verwerfen, wenn bei Beginn des Hauptverhandlungstermins der Angeklagte nicht erschienen und sein Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist.

Der Begriff der „genügenden Entschuldigung“ ist zugunsten des Angeklagten weit auszulegen. Denn § 329 Abs. 1 StPO enthält eine Ausnahme von der Regel, dass ohne den Angeklagten nicht verhandelt werden darf, und birgt die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich (BGH, Beschluss vom 01.08.1962 – 4 StR 122/62, NJW 1962, 2020; Senat, Beschlüsse vom 27.08.2007 – 1 Ws 337/07, juris Rn. 2, vom 07.11.2011 – 1 Ss 85/10). Eine genügende Entschuldigung im Sinne von § 329 Abs. 1 StPO ist anzunehmen, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Angeklagten einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d.h. wenn dem Angeklagten unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolge dessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann (Senat, Beschluss vom 07.09.2011 – 1 Ss 85/10; Gössel in LR-StPO, 26. Aufl., § 329 Rn. 33 mwN). Eine Krankheit entschuldigt insbesondere dann, wenn sie nach Art und Auswirkungen eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unzumutbar macht (Senat, Beschluss vom 30.08.2011 – 1 Ss 29/11; OLG Hamm, Beschluss vom 08.04.1998 – 2 Ss 394/98, NStZ-RR 1998, 281, 282). Wird eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vorgebracht, ist das Fernbleiben eines Angeklagten nicht nur durch eine Verhandlungsunfähigkeit gerechtfertigt, sondern bereits durch die Schutzbedürftigkeit anderer Prozessbeteiligter vor einer Infektion (BayObLG, Beschluss vom 25.10.2022 – 206 StRR 286/22, juris Rn. 11).

Bei der Prüfung, ob die Voraussetzung einer Verwerfung der Berufung gemäß § 329 Abs. 1 StPO vorliegen, kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob und in welcher Form der Angeklagte sich entschuldigt hat, sondern ob er tatsächlich entschuldigt ist. Den Angeklagten trifft hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes keine Pflicht zur Glaubhaftmachung oder gar zu einem lückenlosen Nachweis. Bloße Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Vorbringens dürfen nicht zu Lasten des Angeklagten gehen. Nur der Nachweis, dass die Entschuldigung unwahr ist, lässt sie als ungenügend erscheinen. Bloßen Zweifeln hat das Gericht im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nachzugehen (BayObLG, Beschluss vom 25.10.2022 – 206 StRR 286/22, juris Rn. 15 ff. mwN; Senat, Beschluss vom 31.07.2015 – 1 OLG 1 Ss 65/15; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 329 Rn. 20 ff.; Paul in KK-StPO, 9. Aufl., § 329 Rn. 7).

2. Diese Maßstäbe zugrunde gelegt, rechtfertigen die Urteilsgründe die Annahme, dass der Angeklagte nicht genügend entschuldigt gewesen sei, in rechtlicher Hinsicht nicht.

a) Das Urteil leidet bereits an einem Darstellungsmangel. Hat der Angeklagte vor dem Termin bereits Gründe für eine Entschuldigung seines Nichterscheinens vorgetragen, muss das Urteil diese anführen, sich mit ihnen auseinandersetzen und erkennen lassen, weshalb dem Vorbringen die Anerkennung als Entschuldigung versagt wurde. Dies gilt insbesondere für gesundheitliche Gründe (BayObLG, Beschluss vom 21.12.1995 – 5St RR 127/95, juris Rn. 9 mwN; OLG Hamm, Beschluss vom 08.04.1998 – 2 Ss 394/98, NStZ-RR 1998, 281; Senat, Beschluss vom 07.11.2011 – 1 Ss 85/10). Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Aus ihnen ergibt sich nicht, aus welchem Grund das Landgericht davon ausgegangen ist, dass der Angeklagte nicht hinreichend entschuldigt sei. Es gibt nur das Verfahrensgeschehen wieder, ohne sich inhaltlich und rechtlich damit auseinander zu setzen.

b) Die Ausführungen des Landgerichts lassen zudem besorgen, dass es entweder unzutreffend darauf abgestellt hat, der Angeklagte habe sich nicht ausreichend entschuldigt, ohne zu klären, ob er ausreichend entschuldigt war, oder, dass es etwaig bestehende Zweifel an der Richtigkeit der vorgebrachten Entschuldigung zu Lasten des Angeklagten gewertet hat (s. zu einer dem vorliegenden Fall vergleichbaren Konstellation BayObLG, Beschluss vom 25.10.2022 – 206 StRR 286/22, juris). Die Strafkammer ist insoweit ihrer Aufklärungspflicht nicht nachgekommen.

Die Strafkammer hat festgestellt, dass der Angeklagte sowohl ein Foto von einem positiven Selbsttest als auch ein ärztliches Attest vorgelegt hat, mit dem – nach telefonischer Konsultation des Arztes – das Vorliegen einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 bestätigt wird. Damit hat der Angeklagte schlüssig einen Sachverhalt vorgetragen, der, zumindest aufgrund der Infektionsgefahren für die Öffentlichkeit und die Verfahrensbeteiligten, geeignet war, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen (s. BayObLG, Beschluss vom 25.10.2022 – 206 StRR 286/22, juris Rn. 19). Soweit sich aus dem Attest ergibt, dass der Angeklagte angeben habe, hochfiebrig zu sein, ist auch ein Umstand vorgetragen, der eine Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten nahelegt.

Gründe dafür, dass der Entschuldigungsgrund aus der Luft gegriffen oder ob und aus welchen Gründen das Landgericht möglicherweise von seiner Unrichtigkeit überzeugt war, sind nicht dargetan. Etwaige bloße Zweifel an der Richtigkeit sind ebenfalls nicht aufgezeigt. Insbesondere genügt hierfür der Hinweis darauf, dass das Attest nicht vom Hausarzt, sondern von einem anderen Arzt ohne Untersuchung telefonisch ausgestellt worden sei, nicht. Denn zum einen musste sich der Angeklagte nach dessen Angaben an einen fremden Arzt wenden, weil sein Hausarzt im Urlaub war. Falls das Landgericht bei seiner Entscheidung von der Unrichtigkeit des Vortrags ausgegangen war oder eine solche vermutete, hätte es diesen nachprüfen und das Ergebnis der Nachforschung darlegen müssen. Zum anderen war eine telemedizinische Vorstellung in dem maßgeblichen Zeitraum bei Verdacht einer Corona-Infektion jedenfalls nicht unüblich. Falls das Gericht vermutete, dass die Erkrankung nur vorgeschützt sein könnte, hätte es ebenfalls eigene Ermittlungen anstellen müssen (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 20.02.1987 – 1 Ss 468/86, NJW 1988, 2965; BayObLG, Beschluss vom 25.10.2022 – 206 StRR 286/22, juris Rn. 23 f.). Dieser Verpflichtung ist das Landgericht nicht nachgekommen. Die Urteilsgründe lassen vielmehr besorgen, dass es rechtsfehlerhaft davon ausging, dass der Angeklagte entweder ein schriftliches Testergebnis einer Teststation oder ein Attest, das aufgrund einer persönlichen Vorsprache bei dem Arzt erstellt wurde, vorlegen müsse, um entschuldigt zu sein. Eine solche Forderung begegnet mit Blick auf die fehlende Pflicht zur Mitwirkung durchgreifenden rechtlichen Bedenken (s. BayObLG, Beschluss vom 25.10.2022 – 206 StRR 286/22, juris Rn. 23; OLG Hamm, Beschluss vom 18.03.1997 – 2 Ss 142/97, NStZ-RR 1997, 240).“

OWi II: Mal wieder Verwerfung des Einspruchs, oder: „Mit Corona infiziert, das reicht.“

Bild von Arek Socha auf Pixabay

Die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.10.2022 – IV-3 RBs 198/22 – kommt aus dem schier unerschöpflichen Reservoir der OLG-Entscheidungen zu § 74 Abs. 2 OWiG, also unentschuldigtes Ausbleiben des Betroffenen im Hauptverhandlungstermin.

Hier hatte das AG auch verworfen. Das OLG hat (mal wieder) aufgehoben:

„Die im Sinne von § 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. §. 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ordnungsgemäß ausgeführte Verfahrensrüge führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung.

Die Voraussetzungen für eine Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG lagen nicht vor. Denn der Betroffene ist dem Hauptverhandlungstermin vom 28. Juli-2022 nicht ohne genügende Entschuldigung ferngeblieben. Er war mit Corona infiziert und daher ausreichend entschuldigt. Auf die vom Gericht alleine thematisierte Frage, ob er rechtzeitig seine Rückreise aus der Türkei antreten konnte, kommt es daher nicht an. Ebenso wenig spielt es eine Rolle, dass der Beschuldigte es versäumt hat, den tatsächlich vorliegenden Entschuldigungsgrund rechtzeitig vor der Hauptverhandlung durch ein ärztliches Attest zu belegen. Entscheidend ist nicht, ob sich ein Betroffener entschuldigt hat, sondern ob er tatsächlich entschuldigt ist (vgl. Göhler, OWiG, 17. Aufl., Rn. 31 zu § 74 m.w.N.), zumal der Entschuldigungsgrund einer Erkrankung sowie die Ankündigung der Einreichung von Nachweisen/Attestierungen bereits vor der Hauptverhandlung vom Verteidiger vorgetragen worden war.“

OWi II: Verspätung wegen Vergessen des Impfpasses, oder: Genügende Entschuldigung

Bild von André Globisch auf Pixabay

Die zweite Entscsheidung des Tages kommt mit dem KG, Beschl. v. 10.03.2022 – 3 Ws (B) 56/22 – auch noch einmal aus Berlin. Es geht um die Frage der genügenden Entschuldigung und/oder die Frage der Zulässigkeit der Verwerfung des Einspruchs. Also um die Frage: War der Betroffene im Termin unentschuldigt ausgeblieben.

Folgender Sachverhalt: Zur Hauptverhandlung war der Betroffene nicht erschienen. Grund hierfür ist gewesen, dass der Betroffene keinen Einlass in das Gerichtsgebäude erhalten hatte, weil er weder ein Impfzertfikat noch einen Genesenen- oder Testnachweis bei sich hatte. Das AG hat den Einspruch daraufhin mit der Begründung verworfen, der Betroffene fehle unentschuldigt.

Mit der Rechtsbeschwerde ist dann vorgetragen worden, dass Betroffene 20 bis 30 Minuten vor Terminsbeginn um 10.30 Uhr an der Pforte des AG gewesen sei, dort jedoch mangels Impfnachweises abgewiesen worden. Daraufhin sei er umgekehrt und habe das Zertifikat holen wollen. Fünf Minuten vor Terminsbeginn sei er von seinem Verteidiger angerufen worden; diesem habe er den Sachverhalt geschildert und mitgeteilt, er werde zwischen 10.45 Uhr und 10.55 Uhr erscheinen. Der Verteidiger habe daraufhin dem Gericht mitgeteilt, er, der Betroffene, werde sich geringfügig verspäten. Um 10.45 Uhr habe das AG den Einspruch verworfen.

Die Rechtsbeschwerde hatte beim KG Erfolg:

„2. Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist auch begründet. Das Amtsgericht hätte, nachdem es von einer 15 Minuten nicht erheblich überschreitenden Verspätung des Betroffenen wusste, dessen Einspruch nicht ohne weiteres Zuwarten verwerfen dürfen.

a) Die Vorschrift des § 74 Abs. 2 OWiG beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiterverfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet (vgl. BGHSt 24, 143; Senge in Karlsruher Kommentar, OWiG 5. Aufl., § 74 Rn. 19). Sie dient dem Zweck, den Rechtsmittelführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Rechtsbeschwerde dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Diese Vermutung entfällt jedoch, wenn der Betroffene noch vor dem Termin oder in der normalen Wartezeit von fünfzehn Minuten (vgl. VerfGH Berlin NJW-RR 2000, 1451) die Gründe seiner (voraussichtlichen) Verspätung mitteilt und sein Erscheinen in angemessener Zeit ankündigt (vgl. OLG Köln VRS 42, 184; BayObLG VRS 47, 303; 60, 304; 67, 438; StV 1985, 6; 1989, 94; NJW 1995, 3134; OLG Stuttgart MDR 1985, 871; OLG Düsseldorf StV 1995, 454; OLG Hamm NZV 1997, 408; ebenso zu den Anforderungen an den Erlass eines Versäumnisurteils wegen Nichterscheinens vor Gericht: OLG Dresden NJW-RR 96, 246 und BGH NJW 1999, 724). Das Gericht ist in diesem Fall gehalten, einen längeren Zeitraum zuzuwarten (vgl. Senat VRS 123, 291 m. w. N.). Diese über die normale Wartezeit hinausgehende Wartepflicht besteht unabhängig davon, ob den Betroffenen an der Verspätung ein Verschulden trifft, es sei denn, ihm fällt grobe Fahrlässigkeit oder Mutwillen zur Last (vgl. Senat, a. a. O.).

b) So verhielt es sich hier. Nach dem nachvollziehbaren und glaubhaften Rechtsbeschwerdevortrag war die Abteilungsrichterin bereits vor Terminsbeginn darüber unterrichtet, dass sich der Betroffene „geringfügig“, nämlich 15 bis 25 Minuten, verspäten würde. Dass der Betroffene beim ersten Aufruf der Sache um 10.34 Uhr und beim zweiten Aufruf um 10.45 Uhr fehlte, beruhte also, wie das Gericht wusste, nicht darauf, dass der Betroffene kein Interesse an der Rechtsverfolgung hatte. Es ergab sich vielmehr, wie das Amtsgericht im Urteil auch zutreffend feststellt, daraus, dass der Betroffene seine „Obliegenheit“ verletzt hatte, sich über die pandemiebedingten Zugangsregeln zu informieren. Eine solche Pflichtwidrigkeit erfüllt aber jedenfalls dann nicht die Voraussetzungen des in § 74 Abs. 2 OWiG genannten Merkmals der nicht genügenden Entschuldigung, wenn das alsbaldige Erscheinen des Betroffenen angekündigt und tatsächlich zu erwarten ist. Dies war hier der Fall. Auch grobe Fahrlässigkeit oder gar Mutwillen stehen hier schon angesichts der Volatilität der Pandemieregeln nicht in Rede.

c) Die Generalstaatsanwaltschaft vertritt in ihrer auf die Verwerfung der Rechtsbeschwerde antragenden Zuschrift die bedenkenswerte Auffassung, es könne dahinstehen, ob das Amtsgericht den Einspruch des Betroffenen bereits nach einer fünfzehnminütigen Wartezeit verwerfen durfte. Jedenfalls beruhe das Urteil nicht auf einem solchen – unterstellten – Verstoß gegen § 74 Abs. 2 OWiG, denn die Rechtsbeschwerde verschweige, ob sich der Betroffene überhaupt wieder zurück zum Gericht begeben habe und wann er dort eingetroffen sei.

Dieser Überlegung ist zuzugeben, dass sich die Rechtsbeschwerde nicht dazu verhält, ob und wann sich der Betroffene tatsächlich verhandlungsbereit vor dem Gerichtssaal eingefunden hat. Weiter ist anzuerkennen, dass die gerichtliche Wartepflicht auch dann nicht unbegrenzt andauert, wenn dem Gericht die Gründe der Verspätung bekannt sind. Daraus lassen sich die Erfordernisse ableiten, dass die Rechtsbeschwerde die Dauer der tatsächlichen oder zu erwarten gewesenen Verspätung beziffern und auch mitteilen muss, dass diese dem Tatrichter unterbreitet worden ist. Denn nur in diesem Fall kann das Rechtsbeschwerdegericht beurteilen, ob dem Amtsgericht ein Zuwarten tatsächlich zumutbar war.

Allerdings teilt die Rechtsbeschwerde hier mit, dass von einer 15- bis 25-minütigen Verspätung auszugehen gewesen sei und dem Amtsgericht demzufolge eine „geringfügige Verspätung“ angekündigt worden sei. Nach der Auffassung des Senats reicht dies für die Bewertung aus, dass das Amtsgericht nicht bereits nach einer fünfzehnminütigen Wartezeit den Einspruch des Betroffenen verwerfen durfte. Es dürfte die Anforderungen überspannen, würde vom Betroffenen die Mitteilung verlangt, dass und wann er sich im Falle eines bereits verkündeten Verwerfungsurteils tatsächlich verhandlungsbereit an Gerichtsstelle eingefunden hat.“

Rechtsmittel I: Dreimal Berufungsverwerfung, oder: übersetzte Ladung?, AU, Verteidiger fehlt

© sss78 – Fotolia.com

Heute dann ein „Rechtsmitteltag“, also mit Entscheidungen zu Berufung, Revision und Rechtsbeschwerde.

Und ich beginne mit einigen Entscheidungen zum Dauerbrenner: Berufungsverwerfung, also § 329 StPO. Das stelle ich folgende Entscheidungen vor, allerdings jeweils nur mit Leitsatz:

Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung macht eine Verhandlungsunfähigkeit auch dann nicht glaubhaft, wenn auf ihr der ICD10-Code Z 29.0 (Notwendigkeit der Isolierung als prophylaktische Maßnahme) eingetragen wurde. Es ist Sache des Gerichts, darüber zu entscheiden, wie es einem von dem Angeklagten ausgehenden Ansteckungsrisiko, dem durch die ärztlich für erforderlich gehaltene Isolierung vorgebeugt werden soll, begegnet.

1. Die Beanstandung, dass verfahrensrechtliche Voraussetzungen einer Berufungsverwerfung gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht vorgelegen haben, ist mit der Verfahrensrüge geltend zu machen.
2. Ist der Angeklagte nicht der deutschen Sprache mächtig und ist seine Unterrichtung nicht auf andere Weise sichergestellt, liegt es nahe, dass sich aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren die Pflicht zur Übersetzung der Ladung und des Warnhinweises gemäß §§ 216 Abs. 1 Satz 1, 323 Abs. 1 Satz 2 StPO ergibt.
3. Unterbleibt die Übersetzung, führt dies nicht zur Unwirksamkeit der Ladung; der Anspruch auf ein faires Verfahren wird in der Regel durch die Möglichkeit zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewahrt.

1. Das Vertrauen eines Angeklagten darauf, sein Verteidiger werde absprachegemäß von der ihm erteilten Vertretungsvollmacht Gebrauch machen, entschuldigt die eigene Abwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht.
2. Nimmt der Verteidiger den Termin in solchen Fällen schuldhaft nicht wahr, ist die Berufung des Angeklagten zu verwerfen.
3. Ein Wiedereinsetzungsantrag, der lediglich damit begründet wird, dass der Angeklagte seinen Verteidiger pflichtbewusst und sorgfältig mit der Vertretung beauftragt und sich auf dessen Erscheinen verlassen hat, ist unbegründet.
4. Alle Tatsachen, auf die der Antragsteller sein Wiedereinsetzungsgesuch stützen möchte, müssen innerhalb der Frist des § 329 Abs. 7 Satz 1 StPO dargelegt werden.