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Fluchtgefahr, oder: Wenn der Angeklagte 2009 (!) schon mal ins Ausland wollte

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Heute dann mal „quer durch den Garten“ oder ein „Kessel Buntes“ in der Woche. Und in dem „schwimmt“ zunächst der OLG Celle, Beschl. v. 08.09.2019 – 3 Ws 102/19, der in einem Verfahren mit dem Vorwurf der Steuerhinterziehung zur Frage der Fluchtgefahr und zur Sicherheitsleistung Stellung nimmt. Das LG hatte die das Vorliegen von Fluchtgefahr insbesondere darauf gestützt, dass der Angeklagte die österreichische Staatsangehörigkeit besitzt und weit überdurchschnittlich vermögend ist, unter Hinzutreten der erheblichen Straferwartung. Er verfüge zwar über tragfähige soziale Bindungen im Inland und lebe seit seiner Kindheit in H., wo er mit seiner Ehefrau und zwei Kindern im Alter von fünf Jahren seinen Lebensmittelpunkt unterhalte. Von den rund 100 Millionen Euro aus dem Verkauf seiner Firma im Jahr 2007 sei aber noch ein erheblicher Anteil vorhanden. Hinzu komme ein erhebliches Privatvermögen aus Vergütungen als Geschäftsführer und Unternehmensvorstand sowie hieraus erzielten Anlageerlösen. Der Angeklagte pflege einen aufwändigen Lebensstil und lebe in einer neu errichteten, großzügigen Villa im … von H. Er verfüge daneben über Immobilienbesitz auf S., in pp. und in S.. Er habe im Jahr 2009 Pläne verfolgt, seinen Wohnsitz nach S. zu verlegen, diese aber aufgegeben, weil ein Umzug aus steuerlichen Gründen unattraktiv gewesen sei. Gleichwohl ließen diese Erwägungen den Schluss zu, dass allein die langjährigen sozialen Bindungen im Inland den Angeklagten von einer dauerhaften Verlegung seines Aufenthalts ins Ausland, insbesondere in Länder, die wie die S., in fiskalstrafrechtlichen Angelegenheiten eine Auslieferung in der Regel ablehnten, im Zweifel nicht abhalten würden. Der Angeklagte habe sich zwar über rund elf Monate den insgesamt 32 Verhandlungstagen bis hin zur Urteilsverkündung ohne Fluchtanzeichen gestellt. Hierbei habe er aber den Eindruck vermittelt, nicht ernsthaft mit einer Verurteilung oder allenfalls mit einer solchen zu einer Bewährungsstrafe zu rechnen.

Das OLG hat das zum Teil „gehalten“, hat allerdings den Haftbefehl gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt:

„a) Soweit die Beschwerde geltend macht, es fehle an jeglichen eine Fluchtgefahr begründenden Tatsachen im Sinne des Gesetzes, trifft dies nicht zu. Die Fluchtgefahr darf zwar nur aus „bestimmten Tatsachen“ hergeleitet werden; bloße Mutmaßungen und Befürchtungen genügen nicht. Die Tatsachen brauchen aber nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts festzustehen; es genügt derselbe Wahrscheinlichkeitsgrad wie beim dringenden Tatverdacht (vgl. Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 112 Rn. 32; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 61. Aufl., § 112 Rn. 22; jew. mwN). Mit dem Begriff „bestimmte Tatsachen“ fordert das Gesetz auch nicht, nur auf äußerlich zutage liegende Tatsachen abzustellen; es kann sich vielmehr auch um Erfahrungssätze und innere Tatsachen handeln, auf die nach der Lebenserfahrung oder aufgrund äußerer Umstände geschlossen werden kann (Hilger aaO Rn. 24; Meyer-Goßner/Schmitt aaO; jew. mwN).

b) Als innere Tatsache zum Tragen kommt hier zunächst der Erfahrungssatz, dass ein Beschuldigter mit hoher Wahrscheinlichkeit umso eher versuchen wird, sich dem Strafverfahren zu entziehen, je höher die zu erwartende Strafe ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO mwN). Dementsprechend kommt bei der Beurteilung der Fluchtgefahr der Straferwartung grundsätzlich maßgebende Bedeutung zu; denn sie bestimmt das Ausmaß des Fluchtanreizes (vgl. OLG Düsseldorf StV 1991, 305; Hilger aaO Rn. 24). Zwar kann auf die Straferwartung allein im Allgemeinen die Annahme von Fluchtgefahr nicht gestützt werden; sie ist aber Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Angeklagte werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten. Je höher die konkrete Straferwartung ist, umso gewichtiger müssen die den Fluchtanreiz mindernden Gesichtspunkte sein (vgl. KG StV 2012, 350; OLG Hamm NStZ-RR 2010, 158; Meyer-Goßner/Schmitt aaO Rn. 24 m.w.N.). Maßgebend für die anzunehmende Straferwartung ist hier die verhängte Freiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten. Von dieser geht – auch nach Anrechnung der bisherigen Untersuchungshaft – ein erheblicher Fluchtanreiz aus. Zwar ist bei der Ermittlung der Dauer der zu erwartenden Strafhaft auch eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 StGB zu berücksichtigen; dies gilt jedoch nur, wenn sie im konkreten Fall zu erwarten ist (vgl. BVerfG StV 2008, 421). Diese konkrete Erwartung besteht im vorliegenden Fall zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Außerdem böte auch der Zeitraum bis zum Erreichen des Zweidritteltermins noch einen erheblichen Fluchtanreiz.

c) Demgegenüber spricht das Erscheinen des Angeklagten zu allen Hauptverhandlungsterminen einschließlich der Urteilsverkündung in Kenntnis des bereits zwei Wochen vorher von der Staatsanwaltschaft gestellten Antrags auf Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten im Rahmen der Gesamtwürdigung grundsätzlich gegen eine Fluchtgefahr. Dies hat auch das Landgericht nicht verkannt. Soweit die Beschwerde rügt, es sei dabei unberücksichtigt geblieben, dass der Angeklagte aufgrund seiner Akteneinsicht Kenntnis von einer bereits am 15. Mai 2012 vom Finanzamt für Fahndung und Strafsachen formulierten Anregung auf Beantragung eines Haftbefehls hatte, zeigt mit Blick darauf, dass der Angeklagte somit auch Kenntnis davon hatte, dass die Staatsanwaltschaft der Anregung nicht gefolgt ist, keinen durchgreifenden Abwägungsmangel auf. Entscheidend ist, dass die Bedeutung der vorstehenden Umstände dadurch relativiert wird, dass der Angeklagte mit hoher Wahrscheinlichkeit trotz Aktenkenntnis und Hinweisen seiner Verteidiger bis zuletzt nicht mit einer Freiheitsstrafe in der verhängten Höhe gerechnet hat.

Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt auch unter Geltung des strengeren Maßstabs nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO entschieden, dass die Verkündung eines auf Freiheitsstrafe in nicht unerheblicher Höhe lautenden Urteils geeignet sein kann, den Vollzug der Untersuchungshaft zu rechtfertigen, wenn die vom Tatgericht verhängte Strafe von der früheren Prognose erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 15. August 2007 – 2 BvR 1485/07 -, StV 2008, 29; vom 29. November 2006 – 2 BvR 2342/06 -, StV 2007, 84; und vom 1. Februar 2006 – 2 BvR 2056/05 -, StV 2006, 139). Dementsprechend ist es im Rahmen der Gesamtwürdigung von Bedeutung, wenn der Angeklagte „nach dem persönlichen Eindruck der Kammer bis zuletzt auf eine Strafe im bewährungsfähigen Bereich gehofft hat“ (vgl. OLG Hamm PStR 2012, 269). So liegt es mit hoher Wahrscheinlichkeit hier. Der vom Landgericht gezogene Schluss auf diese innere Tatsache aus dem äußerlich wahrnehmbaren Verhalten des Angeklagten bei der Urteilsverkündung liegt nahe und ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Der Senat tritt ihm bei. Soweit die Beschwerde geltend macht, dass der Angeklagte bereits frühzeitig im Verfahren psychosomatische Beschwerden wie Panikattacken erlitten, sich auch nach dem zweiten Verlassen des Saals übergeben und es sich um eine „schockartige Reaktion“ in einer „Extremsituation“ gehandelt habe, führt dies nicht zu einer anderen Schlussfolgerung oder Beurteilung ihres Wahrscheinlichkeitsgrades. Denn zur Überzeugung des Senats handelt es sich in jedem Fall nicht um die Reaktion eines Angeklagten, der ernsthaft mit einer Strafe in annähernd dieser Höhe gerechnet hat.

d) Weitere den Fluchtanreiz mindernde Gesichtspunkte sind die familiären und sonstigen sozialen Bindungen des Angeklagten im Inland. Der Angeklagte hat eine Ehefrau und zwei Kinder im Alter von fünf Jahren, mit denen er auch zusammenlebt. Hinzu kommen zwei Schwestern, die im Umland von H. wohnen und zu denen der Angeklagte ein inniges Vertrauensverhältnis hat. Er verfügt darüber hinaus über einen ausgedehnten Freundes- und Bekanntenkreis im Inland. Er hat Grundeigentum und sonstiges Vermögen im Inland. Diesen Umständen kommt im Rahmen der Gesamtwürdigung erhebliches Gewicht zu.

Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings die Erwägung des Landgerichts, der nicht in die Tat umgesetzte Plan des Angeklagten aus dem Jahr 2009 einer Verlagerung seines Lebensmittelpunkts nach S., wo er ebenfalls Grundeigentum hat und sich regelmäßig aufhält, lasse darauf schließen, dass allein die langjährigen sozialen Bindungen im Inland den Angeklagten von einer dauerhaften Verlegung seines Aufenthalts ins Ausland im Zweifel nicht abhalten würden. Zwar weist die Beschwerde insoweit zutreffend darauf hin, dass die sozialen Bindungen des Angeklagten sich seitdem verstärkt haben, insbesondere seine beiden Kinder geboren worden sind. Allerdings würde angesichts der finanziellen Möglichkeiten des Angeklagten eine Verlegung seines Lebensmittelpunkts etwa in die S. nicht den vollständigen Abbruch seiner sozialen Beziehungen nach Deutschland bedeuten. Zudem lehrt die Lebenserfahrung, dass Familien auch aus weit weniger gewichtigen Gründen, wie etwa einem Arbeitsplatzwechsel, ihren Wohnsitz verlegen und dabei in Kauf nehmen, dass die minderjährigen Kinder aus ihrem gewohnten Lebensumfeld herausgelöst werden. Vor diesem Hintergrund kommt auch die Erwägung des Landgerichts zum Tragen, dass der Angeklagte auf Grund seines Vermögens gerade nicht an einen bestimmten Arbeitsplatz gebunden ist, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu sichern. Eine von der Beschwerde gerügte rechtsfehlerhafte Bewertung des Lebens des Angeklagten „als Privatier“ liegt darin nicht.

Der Angeklagte verfügt auch über intensive Auslandskontakte und im Ausland angelegtes Vermögen. Diese Umstände begründen zwar allein keine Fluchtgefahr, sind aber bei der erforderlichen Gesamtwürdigung mit zu berücksichtigen (vgl. KG NStZ-RR 2014, 374; OLG Hamm aaO; Hilger aaO Rn. 36). Dies gilt insbesondere in Steuerstrafsachen, weil bei „einfacher“ Steuerhinterziehung durch Verschweigen von Einkünften dem Beschuldigten in einigen Staaten – wie etwa der S. – keine Auslieferung droht (Hilgers-Klautzsch in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, 62. Lieferung 11.2018, § 385 AO Rn. 501). Befände sich der Angeklagte auf freiem Fuß, so könnte er entsprechende Vorbereitungen zur Beschaffung von neuen Papieren, zur Erlangung eines Aufenthaltstitels und zur Verschiebung von Vermögen in ein geeignetes Aufnahmeland selbst oder durch Vertrauenspersonen vom Inland aus treffen, ohne zuvor zur Fahndung ausgeschrieben zu sein oder seine – nicht rechtskräftige – Verurteilung offenzulegen.

4. In Anbetracht der sich aufgrund der vorstehenden Gesamtwürdigung ergebenden Intensität der Fluchtgefahr erachtet der Senat allerdings mildere Mittel im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO als geeignet, um der Fluchtgefahr hinreichend zu begegnen, und hat daher die aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Bedingungen und Weisungen angeordnet.

Dies gilt auch für die Sicherheitsleistung in der angeordneten Höhe. Die vom Landgericht geäußerten Zweifel an der Richtigkeit der dargelegten Vermögensverhältnisse des Angeklagten stehen dem nicht entgegen. Die Sicherheit ist nach Art und Höhe so festzusetzen, dass auf den Angeklagten ein „psychischer Zwang“ ausgelöst wird, eher am Verfahren teilzunehmen und eine etwa erkannte Freiheitsstrafe anzutreten, als den Verlust der Sicherheit zu riskieren (Graf, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl., § 116a Rn. 4). Eine belastbare Grundlage für die Annahme, dass der Angeklagte mit hoher Wahrscheinlichkeit über ein deutlich höheres Vermögen als angegeben verfügt, liegt dem Senat nicht vor. Bei der Bemessung der Sicherheit ist zwar auch den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Angeklagten Rechnung zu tragen; grundlegend für Art und Höhe der Sicherheit sind aber die Intensität des Haftgrundes und die Bedeutung der Sache (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 27. September 2012 – 2 BvR 1874/12, StV 2013, 96). Dem Ausmaß der Fluchtgefahr und der Bedeutung der Sache wird durch die angeordnete Sicherheitsleistung, flankiert durch die weiteren Weisungen, angemessen Rechnung getragen.“

U-Haft III: Fluchtgefahr beim Erstverbüßer?, oder: Ausnahmefall?

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Und die dritte und letzte Haftentscheidung des heutigen Tages stammt ebenfalls vom KG. Es handelt sich um den KG, Beschl. v. 23.10.2018 – 2 Ws 205/18. Ergangen ist er in einem Verfahren wegen schweren Raubes. Der Angeklagte ist deswegen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt worden. Hiergegen hat er Revision eingelegt, über die noch nicht entschieden ist. Die Strafkammer hatte zugleich mit dem Urteil die Haftfortdauer beschlossen (§ 268b StPO). Dagegen richtet sich die Beschwerde des Angeklagten. Die hatte beim KG keinen Erfolg. Das führt zur Fluchtgefahr aus:

„2. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). In Fällen wie dem vorliegendem, in dem bereits ein auf eine unbedingte Freiheitsstrafe lautendes Urteil ergangen ist, ist zu berücksichtigen, dass die Untersuchungshaft nicht nur die Durchführung des Strafverfahrens gewährleisten, sondern auch die Vollstreckung der in dem Verfahren verhängten Freiheitsstrafe sicherstellen soll (vgl. KG, Beschlüsse vom 20. März 2014 – 3 Ws 131/14 –, vom 30. Juli 2012 – 3 Ws 422/12 –, vom 15. März 2012 – 3 Ws 155/12 – und vom 7. März 2014 – 4 Ws 21/14 –). Zwar hat der Angeklagte gegen das Urteil Revision eingelegt. Er muss aber damit rechnen, dass sein Rechtsmittel möglicherweise keinen Erfolg haben wird. Fluchtgefahr ist dann gegeben, wenn bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalles eine erhebliche Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich – zumindest für eine gewisse Zeit (vgl. Hilger in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 112 Rn. 32 mwN) – dem Strafver­fahren entziehen.

a) Bei dieser Prognoseentscheidung ist jede schematische Beurteilung anhand gene­reller Maßstäbe, insbesondere die Annahme, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets oder nie ein bedeutsamer Fluchtanreiz bestehe, unzulässig. Die zu erwartenden Rechtsfolgen allein können die Fluchtgefahr grundsätzlich nicht begründen; sie sind aber jedenfalls der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus der Straferwartung folgender Fluchtanreiz unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände zu der Annahme führt, der Angeklagte werde diesem wahrscheinlich nachgeben (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Januar 2018 – 2 Ws 51/18 –).

Die Straferwartung beurteilt sich nach dem Erwartungshorizont des Haftrichters, in dessen Prognoseentscheidung die subjektive Erwartung des Angeklagten einzubeziehen ist (vgl. OLG Hamm StV 2001, 115). Dabei kommt es auf den tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzug an, sodass die Anrechnung der Untersuchungshaft gemäß § 51 StGB und eine voraussichtliche Aussetzung der Vollstreckung eines Strafrestes nach § 57 StGB die Straferwartung und den mit dieser verbundenen Fluchtanreiz unter Umständen verringern kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12 ­– StraFo 2013, 160; Beschluss vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08 – juris; Beschluss vom 4. April 2006 – 2 BvR 523/06 – juris; KG, Beschluss vom 3. November 2011 – 4 Ws 96/11 –, StV 2012, 350; Senat, Beschluss vom 27. April 2018 – 2 Ws 73/18 –).

Obgleich der Angeklagte Erstverbüßer ist, liegt eine vorzeitige Entlassung nach § 57 StGB nach gegenwärtigem Verfahrensstand eher fern. Zwar besteht grundsätzlich die Vermutung, dass der Strafvollzug einen Erstverbüßer im Allgemeinen beeindruckt und ihn von weiteren Straftaten abhalten kann (vgl. KG, NStZ-RR 1997, 27; Fischer, StGB 65. Aufl., § 57 Rn. 14). Diese Vermutung gilt jedoch nicht ausnahmslos und besagt insbesondere nicht, dass in den Fällen der Erstverbüßung gleichsam automatisch die für die Reststrafenaussetzung erforderliche günstige Legalprognose bejaht werden kann. In welchem Maß es wahrscheinlich sein muss, dass ein Täter nicht wieder straffällig wird, hängt wegen der vom Gesetzgeber in den Vordergrund gestellten Sicherheits­interessen der Allgemeinheit von dem Gewicht der bedrohten Rechtsgüter und den Eigenheiten der Persönlichkeit eines Verurteilten ab (vgl. Senat, Beschlüsse vom 18. Februar 2009 – 2 Ws 45/09 – und 29. Mai 2008 – 2 Ws 211-213/08 –; KG, Beschlüsse vom 24. Januar 2002 – 5 Ws 39/02 – und 11. Juli 2000 – 5 Ws 464/00 –).

So erfährt die für den Erstverbüßer sprechende Vermutung Einschränkungen bei besonders sicherheitsrelevanten Delikten, wie Straftaten im Bereich der organisierten Kriminalität (vgl. KG, Beschlüsse vom 11. Juli 2000 – 5 Ws 464/00 – juris Rn. 6; Beschlüsse vom 7. Oktober 2016 – 5 HEs 15-16/16 – und vom 31. Mai 2016 – 5 HEs 6-7/16 – juris) oder bei Betäubungsmitteldelikten – wegen der außerordentlichen Gefährdung, die derartige Taten für das Leben und die Gesundheit Dritter bedeuten (vgl. KG, Beschlüsse vom 6. Juli 2006 – 5 Ws 273/06 –, juris Rn. 4; und vom 9. März 2017 – 5 HEs 3-5/17 –). Gleichermaßen sind bei wegen Gewalttaten Verurteilten erhöhte Anforderungen an eine günstige Sozialprognose zu stellen, denn je höher die Wertigkeit des verletzten Rechtsgutes ist, desto größer muss die Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit sein (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2011 – StB 14/11 –, juris Rn. 5; KG, Beschlüsse vom 17. August 2017 – 5 Ws 167/17 –, vom 5. April 2016 – 5 Ws 38 + 39/16 –, mwN). Darüber hinaus ist ein strengerer Maßstab auch dann geboten, wenn der Verurteilte durch sein strafrechtlich relevantes Vorleben hat erkennen lassen, dass bei ihm erhebliche tatursächliche Charakterschwächen vorhanden sind und er zudem durch einen Bewährungsbruch bewiesen hat, dass der von ihm bereits einmal vermittelte günstige Eindruck falsch war (vgl. Senat, Beschlüsse vom 7. Dezember 2017 – 2 Ws 152-153/17 –, vom 20. August 2014 – 2 Ws 274/14 –; KG, Beschluss vom 29. August 2006 – 5 Ws 436/06 – mwN).

b) Der Beschwerdeführer ist wiederholt wegen Delikten aufgefallen, bei denen er mit Gewalt gegen andere vorgegangen ist oder die sich gegen deren körperliche Integrität richteten. Im Einzelnen: Vorliegend ist der Angeklagte wegen eines – von ihm eingeräumten – schweren Raubes verurteilt worden. Hinzu kommt, dass er nur wenige Monate vor der hiesigen Tat vom Amtsgericht Ravensburg – Jugendschöffengericht – bereits wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit versuchter Nötigung und Beleidigung und im anderen Fall in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und tatsächlicher Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen verurteilt worden war. Dass angesichts dieser Delikte ein strenger Prüfungsmaßstab anzulegen ist, zeigt sich auch darin, dass vor einer etwaigen vorzeitigen Entlassung ein Gutachten eines Sachverständigen zur Gefährlichkeit des Beschwerdeführers eingeholt werden müsste (vgl. § 454 Abs. 2 Nr. 2 StPO i.V.m. §§ 66 Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 Nr.1b, 250 StGB). Besondere Umstände, die nach alledem für eine frühzeitige Haftentlassung streiten, sind auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens derzeit nicht ersichtlich. Danach hat der Beschwerdeführer – nach Anrechnung der bisher vollzogenen Unter­suchungshaft – noch mit einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe von knapp drei Jahren zu rechnen.

c) Aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses der Strafkammer vom 18. September 2018 sowie aus dem weiteren Akteninhalt ist davon auszugehen, dass der Angeklagte sich der Vollstreckung einer möglichen Freiheitsstrafe entziehen wird. Die von der Strafkammer umfassend gewürdigten persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers lassen befürchten, dass er dem aus der hohen Straferwartung resultierenden Fluchtanreiz nachgeben wird. Der Beschwerdeführer hat im letzten Jahr wiederholt den Aufenthaltsort gewechselt und von Gelegenheitsarbeiten gelebt. Er verfügt über keine Meldeadresse; auch sind weitere stabilisierend wirkende Umstände in seinem privaten Umfeld nicht ersichtlich. Die von seiner Familie insbesondere seiner Mutter nunmehr angebotene Hilfe und Unterstützung hat der Beschwerdeführer auch in der Vergangenheit nicht angenommen.

Haft II: BVerfG u.a. zur Fluchtgefahr, oder: „Butter bei die Fische“

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Bei der zweiten Haftentscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um den BVerfG, Beschl. v. 25.06.2018 – 2 BvR 631/18. Entschieden hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde eines Beschuldigten gegen Haft(fort)dauerbeschlüsses des LG Augsburg und des OLG München. Der Beschuldigte befindet sich seit dem 18.12.2017 inHaft. Der Haftbefehl ist auf den dringenden Tatverdacht einer Geiselnahme, gefährlichen Körperverletzung und Bedrohung gemäß §§ 239b, 223, 224 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 4, 240 StGB und die Haftgründe der Flucht- und Verdunkelungsgefahr gestützt. Das BVerfG moniert – mal wieder – eine nicht ausreichende Begründung der ergangenen Haftentscheidungen, also Stichwort: Begründungstiefe:

„2. Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts Augsburg vom 13. Februar 2018 und des Oberlandesgerichts München vom 9. März 2018 nicht gerecht, weil sie die von Verfassungs wegen gebotene Begründungstiefe nicht erreichen.

a) Die Entscheidung des Landgerichts vom 13. Februar 2018 enthält über eine lediglich formelhafte Begründung hinaus keine näheren Ausführungen zur Flucht- und Verdunkelungsgefahr sowie zur Verhältnismäßigkeit der Haft; sie genügt verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen offensichtlich nicht.

b) Die Erwägungen des Oberlandesgerichts zu den Haftgründen der Flucht- und Verdunkelungsgefahr sowie zur Verhältnismäßigkeit der Haft sind abstrakt gehalten, tragen den Umständen des Einzelfalles nicht angemessen Rechnung, sind zudem lückenhaft und insgesamt nicht hinreichend nachvollziehbar.

aa) Von der dem Beschwerdeführer drohenden erheblichen Freiheitsstrafe abgesehen, benennt die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts keine konkreten Anhaltspunkte, die die Gefahr einer Flucht – insbesondere ins Ausland – zumindest nahelegen würden. Maßgebliche, gegen eine Flucht sprechende Umstände werden nicht erörtert. Es bleibt daher unklar, ob diese durch das Gericht zutreffend berücksichtigt worden sind. Der Beschwerdeführer ist nach den – insoweit nicht zu beanstandenden – Ausführungen des Oberlandesgerichts sozial und beruflich in Deutschland fest verankert. Nach seinen unwiderlegten Ausführungen mit Schriftsatz vom 9. März 2018 hat er in jüngerer Zeit erhebliche finanzielle Investitionen in seine Zahnarztpraxis getätigt. In Kenntnis der durch den Geschädigten unmittelbar nach der Tat erstatteten Anzeige hat er sich noch kurz vor seiner Festnahme mit der gesondert verfolgten P. zu zukünftigen Abrechnungsfragen in der Gemeinschaftspraxis ausgetauscht, was gegen die Annahme des Oberlandesgerichts spricht, er werde die Praxis nicht fortführen, sondern sich ins Ausland absetzen. Auch nach dem durch die Kriminalpolizei telefonisch erfolgten Hinweis auf laufende Durchsuchungsmaßnahmen ist der Beschwerdeführer nicht geflüchtet, sondern hat sich mit seinem Verteidiger unverzüglich zu seiner zu diesem Zeitpunkt noch in Durchsuchung befindlichen Wohnung begeben. Konkrete Feststellungen zu Erfahrungen oder Kontakten des Beschwerdeführers, die ein Leben im Ausland „auf der Flucht“ ermöglichen könnten, sind ebensowenig getroffen wie zu seinen nach der Auffassung des Oberlandesgerichts eine solche Flucht ermöglichenden finanziellen Ressourcen. Dass diese letztlich auf Vermutungen statt auf gesicherter Grundlage beruhen, zeigt der Umstand, dass in den polizeilich ausgewerteten Telekommunikationsvorgängen zwischen dem Beschwerdeführer und der Beschuldigten P. erhebliche Ausgleichsverpflichtungen des Beschwerdeführers an seinen Sozius erwähnt werden, die er mit dem Hinweis kommentierte, er könne diesen nicht nachkommen. Die in der angegriffenen Entscheidung aufgezeigte Möglichkeit einer zahnärztlichen Tätigkeit „im Ausland“ bleibt rein spekulativ.

Im Hinblick auf eine angenommene Verdunkelungsgefahr genügt die angegriffene Entscheidung verfassungsrechtlich gebotenen Begründungsanforderungen ebenfalls nicht. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer beabsichtigt hat, die Aufklärung der Tat unlauter zu verhindern oder zu erschweren, hat das Oberlandesgericht in seiner angegriffenen Entscheidung nicht benannt. Darüber hinaus ist nicht dargetan, dass etwaige Verdunkelungshandlungen angesichts des in dem hier maßgeblichen Zeitraum der Untersuchungshaft bereits fortgeschrittenen Ermittlungsstadiums überhaupt noch erfolgversprechend hätten sein können. Soweit das Gericht bei Herleitung der Verdunkelungsgefahr auf das vorangegangene Verhalten des Beschwerdeführers abstellt, hat es dieses lediglich punktuell gewürdigt. Im Hinblick auf mögliche Verdunkelungshandlungen des Beschwerdeführers durch eine Beeinflussung des Geschädigten fehlt eine erkennbare Befassung mit dem Umstand, dass der Geschädigte sich nach der Tat weiterhin (auch) in München aufgehalten hat, ohne dass der Beschwerdeführer bis zu seiner Festnahme versucht hätte, auf ihn einzuwirken. Durch das Oberlandesgericht unerwähnt bleibt ferner, dass der Geschädigte seinerseits den unmittelbaren Kontakt zu dem Beschwerdeführer gesucht und ihn in dessen Zahnarztpraxis aufgesucht hatte. Kurz nach der Tat hatte der Geschädigte den Beschwerdeführer zudem in einer elektronischen Nachricht von seiner Strafanzeige berichtet, ihm seine Adresse in Frankreich mitgeteilt und – nach Aktenlage – versucht, den Beschwerdeführer dazu zu provozieren, ihn – den Geschädigten – aufzusuchen („P., this is my address … Come and kill me“). Ferner setzt sich der Beschluss des Oberlandesgerichts nicht damit auseinander, dass der Beschwerdeführer anlässlich der Durchsuchungsmaßnahme freiwillig den Tresor öffnete, in dem sich eine Schreckschusspistole mit DNA-Anhaftungen des Geschädigten befand, und insoweit Kooperationsbereitschaft mit den Ermittlungsbehörden zeigte.

bb) Schließlich ist die Verhältnismäßigkeit der Haft nicht hinreichend begründet. Der Hinweis auf die bis dahin lediglich kurze Dauer der Haft genügt schon deshalb nicht, weil der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 9. März 2018 detailliert dargelegt hatte, auch eine bereits kurze Haft könne sich für seine Praxis und ihn irreparabel existenzvernichtend auswirken. Ob dieser Umstand in die Abwägung eingeflossen ist, lässt sich dem Beschluss des Oberlandesgerichts nicht entnehmen.2

Also: „Butter bei die Fische“ ist die Devise bei Haftentscheidungen. Ich frage mich, warum das BVerfG das immer wieder betonen muss…..

Haft I: Fortdauer der U-Haft, oder: Das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit

entnommen wikimedia.org
Author Denis Barthel

In die 30. KW. starte ich mit zwei Haftentscheidungen. Zunächst weise ich hin auf den BGH, Beschl. v. 30.05.2018 – StB 12/18, mit dem der BGH eine Haftbeschwerde gegen einen Haftfortdauerbeschluss des OLG Stuttgart verworfen hat. Das hat den Angeklagten mt Urteil vom 20.09.2017 u.a. wegen Beihilfe zu einem Kriegsverbrechen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil hat der GBARevision mit dem Ziel der Änderung des Schuldspruchs und der dadurch bedingten Aufhebung des Strafausspruchs eingelegt. Die hatte keinen Erfolg. M.E. ganz interessant, was der BGH zur Fluchgefahr und zur Verhältnismäßigkeit ausführt:

2. Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) besteht fort. Das Verfahren ist nicht rechtskräftig abgeschlossen. Ob die vom Oberlandesgericht verhängte Freiheitsstrafe Bestand hat, bleibt der Revisionsentscheidung sowie einem sich daran gegebenenfalls anschließenden neuen Erkenntnisverfahren vorbehalten. Damit kann hier bei der Beurteilung des Fluchtanreizes nicht allein auf die sogenannte Nettostraferwartung (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB) und zwar bemessen an der verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten abgestellt werden (dazu nur BGH, Beschluss vom 2. November 2016 – StB 35/16, juris Rn. 9). Schon der aufgrund des Strafausspruchs des Oberlandesgerichts noch verbleibende Strafrest von etwa einem Jahr und zehn Monaten in Verbindung mit dem Fortgang des Strafverfahrens begründet für den Angeklagten angesichts des Umstands, dass er in Deutschland über keine ausreichenden sozialen Bindungen verfügt, einen erheblichen Fluchtanreiz.

Der Fluchtanreiz wird insbesondere dadurch verstärkt, dass die Mutter des Angeklagten und eine seiner Schwestern in der Türkei, zwei Schwestern in Saudi-Arabien und eine Schwester in Syrien leben. Diese Familienangehörigen könnten ihm Aufenthalt gewähren. Zudem gelang dem Angeklagten über „Schlepper“ seine Einreise nach Deutschland. Auch solche Kontakte könnte der Angeklagte zu seiner Flucht nutzen. Schließlich kommt dem Umstand Bedeutung zu, dass der Angeklagte unter Vorspiegeln der Identität eines “ A. “ seine Anerkennung als Flüchtling und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erreichte. Auch dies begründet die Gefahr des „Untertauchens“.

Die von der Verteidigung erwogenen Auflagen (§ 116 Abs. 1 StPO) erscheinen nicht geeignet, der Fluchtgefahr hinreichend zu begegnen. Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls scheidet daher aus.

3. Die Fortdauer der nun bereits mehr als zwei Jahre und vier Monate andauernden Untersuchungshaft ist mit Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers und dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung bei Berücksichtigung und Abwägung der Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens zum jetzigen Zeitpunkt noch verhältnismäßig (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO):

a) Die Beteiligung an einem Kriegsverbrechen (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VStGB) und an einem erpresserischen Menschenraub (§ 239a Abs. 1 StGB) wiegt schwer. Das Verfahren ist ohne Verzögerung betrieben worden. Der – allein von der Beschwerde geltend gemachte – Gesichtspunkt, ob die Vollstreckung des Strafrests nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe zur Bewährung „hypothetisch“ ausgesetzt werden kann (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB), ist bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zwar zu berücksichtigen (siehe nur BVerfG, Beschlüsse vom 29. Dezember 2005 -2 BvR 2057/05, BVerfGK 7, 140, 161 f.; vom 4. Juni 2012 – 2 BvR 644/12, BVerfGK 19, 428, 435; vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08, StV 2008, 421, 422; BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2012 – StB 12/12, NJW 2013, 247, 249). Indes handelt es sich dabei nicht um eine starre Grenze, bei deren Erreichen der weitere Vollzug der Untersuchungshaft stets unverhältnismäßig wäre (KK-Schultheis, StPO, 7. Aufl., § 120 Rn. 7). Die verhängte Strafe bleibt daneben ein beachtliches Abwägungskriterium. Innerhalb der Gesamtabwägung tritt zu dem durchaus gewichtigen Maß der verhängten Freiheitsstrafe, die freilich deutlich unterhalb der von dem Generalbundesanwalt beantragten liegt, und des noch offenen Strafrestes sowie zur Schwere das Tatvorwurfs die derzeit wegen der zu Lasten des Angeklagten geführten Revision des Generalbundesanwalts nicht auszuschließende Möglichkeit einer Strafmaßverböserung hinzu. Jedenfalls nach gegenwärtigem Stand ist für den Senat nicht erkennbar, dass das Rechtsmittel des Generalbundesanwalts offensichtlich unbegründet wäre (vgl. dazu KK-Schultheis aaO; zu einer solchen Prognose der Erfolgsaussichten einer Revision innerhalb der Prüfung des dringenden Tatverdachts BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2005 – StB 15/05, NStZ 2006, 297).

b) Zudem bestehen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung zu erwarten ist (zu diesem Beurteilungsmaßstab siehe BVerfG aaO; MüKoStPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 53 mwN). Allein der Umstand, dass der Angeklagte bislang nicht vorbestraft und erstmalig von einer freiheitsentziehenden Maßnahme betroffen ist, begründet hier keine ausreichende diesbezügliche Wahrscheinlichkeit. Denn auch das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit ist bei dieser schwerwiegenden Tat mit jihadistischem Bezug innerhalb der Aussetzungsentscheidung ein bedeutender Umstand (dazu nur BGH, Beschluss vom 2. November 2016 – StB 35/16, juris Rn. 11). Das Oberlandesgericht, das allein einen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten in der Hauptverhandlung gewonnen hat, hat dem Senat als Beschwerdegericht keine weiteren zu seinen Gunsten sprechenden Gesichtspunkte vermittelt. Im Gegenteil steht nach Aktenlage die Prüfung aus, ob und in welchem Umfang der Angeklagte durch den Besitz und das Benutzen zumindest eines Mobiltelefons gegen die Hausordnung der Justizvollzugsanstalt verstieß.“

Na ja, den Hinweis auf das Benutzen des Mobiltelefons in der JVA hätte ich mir in dem Zusammenhnag wahrscheinlich verkniffen.

22 Monaten Strafe reichen nicht, oder: Die Straferwartung und die Fluchtgefahr

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Und zum Abschluss dann noch eine Haftentscheidung. Die kommt vom OLG Dresden. Das hat im OLG Dresden, Beschl. v. 11.12.2017 – 1 Ws 326/17 – die Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) verneint. Begründung: Auch die drohende Vollstreckung einer (weiteren) Freiheitsstrafe von 14 Monaten reicht bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von rund acht Monaten nicht für die Annahme von Fluchgefahr. Aus der interessanten Begründung:

„2. Allerdings liegt der Haftgrund der Fluchtgefahr nicht vor.

Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht dann, wenn bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, die sich aus bestimmten Tatsachen ergeben müssen, eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Angeklagte werde sich dem Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde sich ihm zur Verfügung halten (OLG Hamm StV 2003, 170; OLG Köln StV 1996, 390). Die Frage, ob Fluchtgefahr vorliegt oder nicht, erfordert die sorgfältige Berücksichtigung und Abwägung aller Umstände des Falls (OLG Hamm, a.a.O.) Gemessen an diesen Umständen ist der Haftgrund der Fluchtgefahr beim Angeklagten nicht zu bejahen.

a) Die Verurteilung des Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten und einer Woche ist nicht geeignet, einen erheblichen Fluchtanreiz darzustellen, zumal derzeit durch die anzurechnende Untersuchungshaft bereits mehr als zwei Drittel der Strafe vollstreckt sind. Damit ist die Strafe, die wegen der dem Haftbefehl zugrundeliegenden Taten gegen den Angeklagten verhängt worden ist, aber nicht geeignet, die Fluchtgefahr zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Staatsanwaltschaft gegen das amtsgerichtliche Urteil zu Lasten des Angeklagten Berufung, die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt ist, eingelegt hat. Die Staatsanwaltschaft hat erstinstanzlich eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten und einer Woche beantragt, sodass nicht davon ausgegangen werden kann, dass in der Berufungsinstanz eine darüber hinausgehende Strafe verhängt wird. Selbst für den Fall, dass das Berufungsgericht die von der Staatsanwaltschaft beantragte höhere Gesamtfreiheitsstrafe verhängen würde, lässt sich hieraus unter Berücksichtigung der bereits verbüßten Untersuchungshaft ein die Fluchtgefahr begründender Strafrest nicht. Im übrigen ist nicht zu besorgen, dass der Angeklagte, der vor seiner Inhaftierung im Übergangswohnheim des Vereins für soziale Rechtspflege e.V. aufhältig gewesen ist, dort zukünftig nicht erreichbar wäre. Angesichts dessen kommt dem Umstand, dass der Angeklagte nach seinen Angaben gelegentlich Marihuana konsumiert, für die Beurteilung des Vorliegens von Fluchtgefahr nur untergeordnete Bedeutung zu.

b) Etwas anderes gilt auch nicht unter Berücksichtigung der Vorstrafen des Angeklagten und des Umstandes, dass dieser wegen mehrerer Verurteilungen unter Bewährung steht. Zwar hat der Angeklagte die dem Haftbefehl zugrundeliegenden Taten nur kurze Zeit nach der letzten Haftentlassung und während laufender Bewährungszeiten begangen, so dass er mit dem Widerruf der Bewährungen und einer zusätzlichen Straferwartung von ca. einem Jahr und zwei Monaten zu rechnen hat. Diese Straferwartung stellt aber – für sich genommen – noch keinen Umstand dar, der vorliegend den Haftgrund der Fluchtgefahr begründen könnte. Zwar kann die aufgrund eines möglichen Bewährungswiderrufs zu erwartende Strafe im Rahmen der Prüfung, ob Fluchtgefahr beim Angeklagten vorliegt, grundsätzlich berücksichtigt werden. Dieser Umstand ist jedoch immer nur ergänzend heranzuziehen und setzt voraus, dass – was hier nicht der Fall ist- die wegen der haftbefehlsgegenständlichen Taten zu erwartende Strafe zumindest einen gewissen Fluchtanreiz und damit einen Fluchtgefahr begründenden Umstand darstellt. Ansonsten, wenn der Haftgrund ausschließlich auf – wegen möglicher Bewährungswiderrufe im Raum stehende – Freiheitsstrafen gestützt wird, würde dies eine Umgehung der Vorschrift des S 453c Abs. 1 StPO bedeuten. Die Vollstreckung der Untersuchungshaft würde dann nicht mehr der Sicherung des vorliegenden Strafverfahrens und der Vollstreckung der daraus resultierenden Strafe dienen.

Im übrigen weist der Senat daraufhin, dass der Angeklagte die ihm im Haftbefehl zur Last gelegten Taten vor dem Amtsgericht geständig eingeräumt und seine Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat, so dass es – auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 MRK; vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl., § 56f Rdnrn. 4ff. m.w.N.) – spätestens ab diesem Zeitpunkt möglich gewesen wäre, eine Entscheidung über den Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Strafreste oder zumindest den Erlass eines Sicherungshaftbefehls herbeizuführen.“

Das ist auch mal wieder so ein Beschluss, bei dem ich mich frage. Warum braucht man dafür ein OLG?