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Unterhaltspflichtverletzung: Was muss ins Urteil?

© Gina Sanders - Fotolia

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Nicht selten sind in der Praxis OLG-Entscheidungen, die zum erforderlichen Umfang der tatrichterlichen Feststellungen bei einer Verurteilung wegen Verletzung der Unterhaltspflicht (§ 170 StGB) Stellung nehmen (müssen). Da sind die amtsgerichtlichen Urteil häufig zu knapp, obwohl die OLG zu den Anforderungen an die Feststellungen immer wieder Stellung nehmen. Zu diesen OLG-Entscheidungen gehört der OLG Braunschweig, Beschl. v. 15.08.2013 – 1 Ss 50/13:

„Der objektive Tatbestand einer Verletzung der Unterhaltspflicht gern. § 170 Abs. 1 StGB setzt das Bestehen einer gesetzlichen Unterhaltspflicht voraus, diese regelmäßig aus dem inländischen bürgerlichen Recht resultierende Pflicht beinhaltet als Teilelemente die Bedürftigkeit des Unterhaltsberechtigten einerseits und die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners andererseits (vgl. statt vieler OLG Gelle, 2. Strafsenat, Beschluss vom 19.04.2011 — 32 Ss 37/11 Rn. 10 mit zahlreichen Rechtsprechungs- und Literaturnachweisen — bei Juris). Die von dem Tatrichter für die Beurteilung des Bedarfs des Berechtigten und der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten herangezogenen Grundlagen müssen in einer Weise festgestellt und im Urteil dargelegt werden, die dem Revisionsgericht eine Überprüfung der rechtlichen Wertung des Tatrichters ermöglicht (OLG Celle, a.a.O., Rn. 14 ebenfalls mit weiteren Nachweisen). Auch bedarf es der tatrichterlichen Feststellung zur Höhe der Unterhaltsschuld, wobei die erkennenden Gerichte berechtigt sind, sich bei der Bestimmung von Bedarf des Unterhaltsberechtigten und Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten an den in der Rechtsprechung der Familiensenate der Oberlandesgerichte entwickelten unterhaltsrechtlichen Leitlinien und Tabellen zu orientieren, müssen jedoch die von ihnen herangezogenen Leitlinien und Tabellen in dem Urteil angeben (OLG Celle, a.a.O., Rn. 13 ebenfalls mit weiteren Nachweisen).

Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Hinsichtlich der Höhe der Unterhaltsschuld wird lediglich ausgeführt, dass die am 14.07.2003 geborene Tochter bei ihrer Mutter lebt und der Angeklagte sich mit Urkunde vom 24.06.2004 gegenüber dem Jugendamt des Landkreises Göttingen zur Zahlung von Unterhalt nach der Regelbetragsordnung verpflichtet hat. Die unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung des Lebensbedarfs des unterhaltsberechtigten Kindes erforderlichen Feststellungen zur Leistungsfähigkeit der Kindesmutter (vgl. hierzu OLG München NStZ 2009, 212 f, 213) fehlen ebenfalls. Des Weiteren bedarf es der tatrichterlichen Feststellung zur Leistungsfähigkeit des Angeklagten. Insoweit muss im Urteil auch der notwendige Eigenbedarf — neben zahlenmäßigen Angaben über tatsächliche oder mögliche Einkünfte und Verpflichtungen — mitgeteilt werden (vgl. OLG München a.a.O.). Dem Urteil können insoweit lediglich die Höhe der monatlichen Nettoeinkünfte und die Tatsache, dass der Angeklagte einem weiteren Kind gegenüber unterhaltspflichtig ist, entnommen werden. Ob eine (weitere) Unterhaltspflicht gegenüber der Mutter jenes Kindes, mit. der der Angeklagte verheiratet ist, besteht oder eine solche fehlt, wird ebenso wenig wie die Höhe des notwendigen Selbstbehalts des Angeklagten dargelegt. ..“

Nun: Zeitgewinn bringts immerhin :-).

„Horrorverfahren“ mit 53.494 Geschädigten – wie geht man damit um?

Ein „Horrorverfahren“ war beim LG Stuttgart anhängig. Es ging um Betrügereien in Zusammenhaag mit Kreditvermittlungen in einer Vielzahl von Fällen, und zwar insgesamt 53.494. Im Verfahren hat das LG sich dann auf die Feststellungen und Beweisaufnahme zu 15 Fällen beschränkt und die Angeklagten wegen eines Betruges in jeweils tateinheitlich begangenen fünfzehn vollendeten und im Übrigen in 53.479 versuchten Fällen verurteilt. In der auf die Einvernahme von fünfzehn Kunden beschränkten Beweisaufnahme hat das LG eine Irrtumserregung  festgestellt. In den übrigen 53.479 Fällen über Rechnungsbeträge von insgesamt mehr als 2,8 Mio. Euro ist das LG mangels festgestellter Irrtumserregung lediglich von versuchter Täuschung der Kunden ausgegangen; es hat eine erstrebte Bereicherung von etwa 2,5 Mio. Euro angenommen.

Der Hintergrund dieser Vorgehensweise liegt auf der Hand: Das LG wollte nicht, was nachvollziebar ist, möglicherweise weitere 53.479 Zeugen vernehmen müssen.Der BGH hat das im BGH, Beschl. v. 06.02.2013 – 1 StR 263/12 – ergänzt durch einen Leitsatz hier – beanstandet, aber gleich auch „Handlungsanweisungen“ gegeben:

„Näherer Erörterung bedarf lediglich die Vorgehensweise des Landgerichts, nur fünfzehn Geschädigte zu vernehmen und im Übrigen hinsichtlich der weit überwiegenden Zahl der tateinheitlich begangenen Taten „aus verfahrensökonomischen Gründen“ lediglich Tatversuch anzunehmen (UA S. 914, 917). Das Landgericht sah sich ersichtlich nur auf diesem Wege in der Lage, die Hauptverhandlung, die bereits nahezu fünf Monate gedauert hatte, in angemessener Zeit zu beenden.

a) Die vom Landgericht mit dem Begriff der „Prozessökonomie“ be-schriebene Notwendigkeit, die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege zu erhalten (vgl. dazu auch Landau, Die Pflicht des Staates zum Erhalt einer funkti-onstüchtigen Strafrechtspflege, NStZ 2007, 121), besteht. Jedoch muss ein Tatgericht im Rahmen der Beweisaufnahme die in der Strafprozessordnung dafür bereit gehaltenen Wege beschreiten. Ein solcher Weg ist etwa die Beschränkung des Verfahrensstoffes gemäß den §§ 154, 154a StPO, die allerdings die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft voraussetzen. Eine einseitige Beschränkung der Strafverfolgung auf bloßen Tatversuch ohne Zustimmung der Staatsanwaltschaft, wie sie das Landgericht hier – freilich im Rahmen gleichartiger Tateinheit mit vollendeten Delikten – vorgenommen hat, sieht die Strafprozessordnung jedoch nicht vor.

b) Es trifft allerdings zu, dass in Fällen eines hohen Gesamtschadens, der sich aus einer sehr großen Anzahl von Kleinschäden zusammensetzt, die Möglichkeiten einer sinnvollen Verfahrensbeschränkung eingeschränkt sind. Denn dann sind keine Taten mit höheren Einzelschäden vorhanden, auf die das Verfahren sinnvoll beschränkt werden könnte.

Dies bedeutet aber nicht, dass es einem Gericht deshalb – um überhaupt in angemessener Zeit zu einem Verfahrensabschluss gelangen zu können – ohne weiteres erlaubt wäre, die Beweiserhebung über den Taterfolg zu unter-lassen und lediglich wegen Versuches zu verurteilen. Vielmehr hat das Tatgericht die von der Anklage umfasste prozessuale Tat (§ 264 StPO) im Rahmen seiner gerichtlichen Kognitionspflicht nach den für die Beweisaufnahme gelten-den Regeln der Strafprozessordnung (vgl. § 244 StPO) aufzuklären. Die richter-liche Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) gebietet dabei, zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind...“

Um aus dem Dilemma herauszukommen, bieten sich nach Auffassung des BGH an:

  • Grds. kann in Fällen eines normativ geprägten Vorstellungsbildes es insgesamt ausreichen, nur einige Zeugen/Geschädigte zu vernehmen, wenn sich dabei das Ergebnis hinsichtlich Irrtumserregung und Vermeidung einer Schädigung des eigenen Vermögens bestätigt findet.
  • Ist die Beweisaufnahme auf eine Vielzahl Geschädigter zu erstrecken, besteht zudem die Möglichkeit, bereits im Ermittlungsverfahren durch Fragebögen zu ermitteln, aus welchen Gründen die Leistenden die ihr Vermögen schädigende Verfügung vorgenommen haben. Das Ergebnis dieser Erhebung kann dann – etwa nach Maßgabe des § 251 StPO – in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Hierauf kann dann auch die Überzeugung des Gerichts gestützt werden, ob und ggf.in welchen Fällen die Leistenden eine Vermögensverfügung irrtumsbedingt vorgenommen haben.
  • Ob es in derartigen Fällen dann noch einer persönlichen Vernehmung von Geschädigten bedarf, entscheidet sich nach den Erfordernissen des Amtsaufklärungsgrundsatzes (§ 244 Abs. 2 StPO) und des Beweisantragsrechts (insb. § 244 Abs. 3 StPO). In Fällen eines normativ geprägten Vorstellungsbildes kommt dabei die Ablehnung des Antrags auf die Vernehmung einer größe-ren Zahl von Geschädigten als Zeugen in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 17. Juli 2009 – 5 StR 394/08, wistra 2009, 433, 434).

Der Angeklagte schweigt – und nun?

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Im Strafprozess eine nicht seltene Situation: Der Angeklagte schweigt. Für das Gericht stellt sich dann die Frage, ob und wie man die für eine Verurteilung erforderlichen Feststellungen treffen kann und ob die ggf. getroffenen Feststellungen ausreichend sind. Das gilt insbesondere auch, wenn es um die Feststellung der persönlichen Verhältnisse des Angeklagten geht, da diese Grundlage der Strafzumessung sein sollen/werden/müssen. An der Stelle muss das Gericht im Hinblick auf § 244 Abs. 2 StPO alle im zur Verfügung stehenden Beweismittel ausschöpfen. Das hatte eine Strafkammer beim LG Hagen nicht getan und den Angeklagten in einem Missbrauchsverfahren auf einer zu dünnen Tatsachengrundlage verurteilt. Das hat der Angeklagte mit der Revision und der BGH mit dem BGH, Beschl. v. 09.10.2013 – 4 StR 102/13 – gerügt:

Der Strafausspruch kann indes nicht bestehen bleiben, weil das Landgericht keine hinreichenden Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten, insbesondere zu seinem Werdegang und seinen Lebensverhältnissen, getroffen hat.

1. Für die Strafzumessung und deren rechtliche Überprüfung ist grundsätzlich die Kenntnis vom Werdegang und den Lebensverhältnissen des Angeklagten wesentlich. Nur so kann das Revisionsgericht überprüfen, ob die Zumessung der verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren auf der gebotenen wertenden Gesamtschau des Tatgeschehens sowie des Täters und der für seine Persönlichkeit, sein Vorleben und sein Nachtatverhalten aussagekräftigen Umstände beruht (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 30. Juli 1992 – 4 StR 270/92; BGH, Beschluss vom 10. März 1992 – 1 StR 111/92; Beschluss vom 22. März 1995 – 2 StR 51/95, jeweils mwN).

2. Das Landgericht teilt im angefochtenen Urteil lediglich die den drei Vorstrafen des Angeklagten zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen zum Tatgeschehen mit und verweist im Übrigen darauf, dass Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen und zum Werdegang des Angeklagten nicht getroffen werden konnten, da dieser „hierzu in der Hauptverhandlung keine Angaben machte“. Damit durfte sich die Strafkammer hier jedoch nicht begnügen. Sie war vielmehr gehalten, auf andere Weise Näheres über seine Person in Erfahrung zu bringen, etwa durch Verlesung der Feststellungen zur Person in den Vorverurteilungen. Im Hinblick auf das Urteil des Amtsgerichts Iserlohn vom 25. Februar 2011 zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, wäre ferner die Vernehmung des damaligen Bewährungshelfers in Betracht gekommen.“

Vorsatz bei der Geschwindigkeitsüberschreitung – Feststellungen nicht zu knapp?

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Eine Vorsatzverurteilung ist im Hinblick auf das Absehen vom Fahrverbot mehr als misslich, weil dann nämlich nach der Rechtsprechung der OLG im Zweifel das Absehen vom Fahrverbot „erst recht“ nicht in Betracht kommt, da die BKatV eben von fahrlässigen Verstößen ausgeht. Deshalb muss man als Verteidiger bei einer Vorsatzverurteilung immer auch im Auge behalten, ob die insoweit getroffenen Feststellungen ausreichend sind. Das war im OLG Hamm, Beschl. v. 18.12.2012 – III – 1 RBs 166/12 – nicht der Fall. Da hatte das AG den Vorsatz bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung wohl allein mit dem Ausmaß der festgestellten Überschreitung begründet. Das hat dem OLG nicht gereicht:

Auch die Ausführungen, mit denen der Tatrichter die Annahme unterlegt, der Betroffene habe den Tatbestand vorsätzlich verwirklicht, sind nicht geeignet, den Schuldspruch in subjektiver Hinsicht zu tragen. Allein aus dem Ausmaß der Geschwindigkeitsüberschreitung kann nicht auf vorsätzliches Verhalten geschlossen werden. Zwar kann das Ausmaß der Geschwindigkeitsüberschreitung ein Indiz für vorsätzliches Verhalten sein (zu vgl. Krumm, NZV 2007, 502 f.), jedoch ist hierbei auch die konkrete Verkehrssituation zu berücksichtigen. Feststellungen insbesondere zum Verkehrsaufkommen, zur Anzahl der Spuren, zum Straßenverlauf, zum Ausbau der Straße, zur Randbebauung sowie zur Erkennbarkeit der Beschilderung enthält das angefochtene Urteil nicht.

Anfängerfehler: Bezugnahme/Bindung nach Aufhebung?

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Hier ist mal wieder ein – in meinen Augen – Anfängerfehler, aber nicht eines Anfängers, sondern einer ausgewachsenen Strafkammer, bei der man nicht davon ausgehen kann, dass sie (nur) mit Anfängern besetzt ist. Was ist passiert?

Das LG Bonn hat den Angeklagten mit Urteil vom 28. 07. 2011 wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Der 2. Strafsenat des BGH hat mit Beschluss vom 14. 12. 2011 dieses Urteil im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Die neu entscheidende Strafkammer hat den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen hat der Angeklagte wiederum Revision eingelegt, die Erfolg hat. Der BGH hebt im BGH, Beschl. v. 12. 12. 2012 – 2 StR 481/12 – erneut auf, denn:

1. Die Strafkammer hat zum Werdegang und zur Person des Angeklagten auf das aufgehobene Urteil Bezug genommen und dessen Feststellungen wörtlich übernommen sowie optisch eingerückt. Diese Vorgehensweise lässtbesorgen, dass das Landgericht vom Revisionsgericht nach § 353 StPO aufgehobene Feststellungen unzulässiger Weise dem neuen Urteil zugrunde gelegt hat. Die Feststellungen zur Person des Angeklagten, namentlich zu seinem Lebenslauf, gehören nicht zur Schuld-, sondern zur Straffrage, über die nach der Aufhebung des Urteils durch den Senat im Strafausspruch mit den Feststellungen umfassend neu zu befinden war (BGH, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – 5 StR 540/10; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 353 Rn. 20 mwN). Die Strafkammer hat zwar zum Lebenslauf des Angeklagten hinsichtlich einer Marginalie eine abweichende Feststellung getroffen; daraus kann hier jedoch nicht geschlossen werden, dass sie insoweit im Übrigen eigenständig zu inhaltsgleichen Feststellungen gelangt ist wie das Ersturteil.
2. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass es an die Feststellungen des aufgehobenen Urteils zu den Voraussetzungen des § 21 StGB gebun-den ist (UA 16). Dies ist rechtsfehlerhaft. Die Frage einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit gehört nicht zum Schuldspruch, sondern allein zum Strafausspruch (BGH, Beschluss vom 15. April 1997 – 5 StR 24/97, NStZ-RR 1997, 237; Meyer-Goßner aaO). Die Feststellungen hierzu waren durch die Entscheidung des Senats vom 14. Dezember 2011 aufgehoben, so dass die Strafkammer auch insoweit eigene neue Feststellungen hätte treffen müssen.“

Wie gesagt: M.E. Anfängerfehler.