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Heute dann drei OWi-Entscheidungen. Die betreffen alle die Thematik „Entbindung vom Erscheinen in der Hauptverhandlung“ und/oder Verwerfungsurteil, also die §§ 73, 74 OWiG.
Ich beginne mit dem OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 11.06.2021 – 2 Ss-OWi 440/21. Dann ist der Aufreger des Tages schon mal weg.
Auf den Beschluss bin ich von einem Kollegen aufmerksam gemacht worden, der davon gehört hatte, dass das OLG so entschieden habe. Ich habe mir den Beschluss, den das OLG natürlich nicht veröffentlicht hat – warum auch? – besorgt, was angesichts der Verhältnisse beim OLG Frankfurt am Main nicht so ganz schnell gegangen ist, die Einzelheiten lasse ich mal dahingestellt. Jedenfalls habe ich den Beschluss und kann nun darüber berichten.
Es geht um die Rechtzeitigkeit des Entbindungsantrages nach § 73 Abs. 2 OWiG. Das OLG kündigt eine Änderung seiner Rechtsprechung an bzw. erwägt diese. Mit einer m.E. nicht nachvollziehbaren Begründung,
Das AG hatte den Einspruch des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Dagegen die Rechtsbeschwerde, mit der geltend gemacht wird, dass der Entbindungsantrag am Hauptverhandlungstag um 9.07 Uhr per Fax für die Hauptverhandlung um 13.40 Uhr gestellt worden sei.
Das OLG hat aufgehoben, meint aber Folgendes ausführen zu müssen:
„Nach § 73 Abs. 2 OWiG ist die Entscheidung über einen Antrag auf Entbindung von der Erscheinungspflicht nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt. Entspricht das Gericht dem Antrag nicht und verwirft es den Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG, verletzt es damit den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör, weil statt der erstrebten Sachentscheidung eine reine Prozessentscheidung ergeht, in der das (ggf. nur schriftliche) Vorbringen des Betroffenen gerichtlich nicht gewürdigt wird (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 22.06.2017, 2 Ss-OWi 614/17 m. w. N.; KG Berlin, Beschluss vom 04.09.2006 – 2 Ss 213/06 – 3 Ws (B) 447/06 -, juris; Göhler, OWiG, 18. Auflage, § 73, Rn. 4 ff. m. w. N.).
Etwas Anderes könnte nur dann gelten, wenn der Antrag nicht rechtzeitig gestellt wurde (OLG Rostock, Beschluss vom 15.04.2015, 21 Ss OWi 45/15 (Z), juris). Die Frage, ob ein Entbindungsantrag noch als „rechtzeitig“ gestellt anzusehen ist, ist – angelehnt an den Zugang von Willenserklärungen im Zivilrecht – nach derzeit vorherrschender Ansicht danach zu entscheiden, ob unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt das Gericht von ihm Kenntnis hätte nehmen können und ihn deshalb einer Bearbeitung hätte zuführen müssen. Die reine Zeitspanne zwischen Antragseingang bis zum Hauptverhandlungstermin ist dabei nur ein Teilaspekt, wobei in diesem Zusammenhang die gewöhnlichen Geschäftszeiten des jeweiligen Gerichts nicht außer Acht zu lassen sind (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 30.10.2007, 2 Ss OWi 1409/07, juris). Bei elektronischem Geschäftsverkehr ist zudem zu berücksichtigen, ob das Schreiben an den Anschluss der zuständigen Geschäftsstelle oder an einen allgemeinen Anschluss des Gerichts versandt wurde. Im letzteren Fall bedarf es eines Hinweises auf die Eilbedürftigkeit der Vorlage an den zuständigen Richter (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 20.10.2020, 1 Ss-OWi 1097/20; OLG Bamberg, Beschluss vom 23.05.2017, 3 Ss OWi 654/17, juris).
Ob diese Grundsätze auch in den Ordnungswidrigkeitenverfahren noch aufrechterhalten werden können, sieht der Senat kritisch. Die von den Oberlandesgerichten zu dem Begriff „rechtzeitig“ aufgestellten Grundsätze gehen von einem an der Sache orientierten, den Grundsätzen einer dem Verfahren dienenden Handlung, eines seriösen Organs der Rechtspflege aus. Dies ist bei Parteiprozessen wie im Zivilrecht in der Regel gewährleistet. In Ordnungswidrigkeitsverfahren ist zunehmend festzustellen, dass diese Grundsätze sehr häufig nicht zur Grundlage des Handelns von Verteidigern gemacht werden, sondern erkennbar ausschließlich merkantile Interessen das Agieren bestimmen. Der Senat muss seit Jahren zunehmend vermehrt zur Kenntnis nehmen, dass in Ordnungswidrigkeitsverfahren Verfahrensrechte bewusst missbraucht werden, um so viel wie möglich an Gebühren zu generieren, ohne dass sich überhaupt die Mühe gemacht wird, sachdienliche Handlungen auch nur vorzuspiegeln. Schriftsätze, die erkennbar aus computergenerierten Textfragmenten bestehen, ohne auch nur ansatzweise einen Zusammenhang mit dem Verfahren erkennen zu lassen, sind zunehmend keine Seltenheit.
Eine andere erkennbar nur der Gebührenvermehrung dienende Methode ist der „Entbindungsantrag am Hauptverhandlungstermin“, mit dem bewusst und gewollt ein angreifbares Verwerfungsurteil erzeugt werden soll, weil in Kenntnis der überlasteten Gerichte davon ausgegangen werden kann, dass diese „Entbindungsanträge“ den zuständigen Richter nicht mehr rechtzeitig erreichen werden. Die Folge ist die Zurückverweisung zur erneuten Entscheidung und damit die Erzeugung einer neuen Gebühr, ohne dass der Verteidiger überhaupt an einer Hauptverhandlung teilnimmt, weil auch das zweite Verfahren ein reiner Abwesenheitsprozess ist. Dass die Rechtsschutzversicherungen dieses auf Grundlage der bisherigen großzügigen Rechtsprechung zur „Rechtzeitigkeit“ offensichtlich missbräuchliche Agieren finanzieren, habe diese ihren Versicherungsnehmern und Aktionären gegenüber zu verantworten. Für den rechtssuchenden Bürger wird dieses Agieren aber dann zu einem Problem, wenn die Gerichte wegen derartiger Verfahren überlastet sind und ihren eigentlichen Aufgaben nicht mehr zeitnah nachkommen können, weil dringend notwendige Personal- und Raumkapazitäten für „Abwesenheitsverhandlungen“ vorgehalten werden müssen, nur weil der Verteidiger aus rein merkantilen Interessen kein Gebrauch vom Beschlussverfahren, das ebenfalls eine Sachentscheidung darstellt, machen will. Der Senat erwägt daher, zukünftig – gestützt auf die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, (Rdn. 66) – einen derartigen Entbindungsantrag nur noch als prozessual wirksam anzusehen, wenn er „frühzeitig“, das heißt mindestens 3 Werktage vor der Hauptverhandlung gestellt wird.
Vorliegend kann die abschließende Entscheidung zu dieser Problematik dahinstehen, weil dem Verteidiger in diesem Verfahren ein solcher Vorwurf gerade nicht gemacht werden kann.
Der Verteidiger hat, wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausgeführt hat, eine zulässige Verfahrensrüge erhoben. Das ist seit 10 Jahren und bei in diesem Zeitraum ca. 12.000 Zulassungsverfahren beim Senat das erste Mal, dass sich ein Verteidiger in einer solchen Konstellation dieser Mühe unterzieht. Dessen hätte es nicht bedurft, wenn es vorliegend um verfahrensfremde Kostengenerierung gegangen wäre.“
Das OLG hat dann aufgehoben und nicht etwa zuzrückverwiesen, sondern verurteilt mit der Begründung:
„Die Möglichkeit nach § 79 Abs. 6 OWiG beruht auf dem Grundgedanken, dass der Betroffene in zulässiger Weise seinen Anspruch auf ein Sachurteil geltend gemacht hat. Abweichend vom Strafprozess kann dieser Anspruch auf gerichtliche Sachentscheidung beim Ordnungswidrigkeitenverfahren unter den Bestimmungen des § 79 Abs. 6 OWiG auch durch das Rechtsmittelgericht selbst erfolgen. Dadurch soll eine Verfahrensbeschleunigung erreicht werden. Ein rechtlicher Nachteil ist damit nicht verbunden, weil der Betroffene sich hat entbinden lassen und die Entscheidung auch durch das Amtsgericht nur auf Aktenbasis erfolgt wäre.“
M.E. fragwürdig wie fast alles oder zumindest vieles beim OLG Frankfurt am Main. Wenn ich da nur an die gebührenrechtlichen Entscheidungen der letzten Zeit denke oder an Poliscan Speed als bloßes „Scheinproblem“ (zfs 2017, 714 = VRR 1/2018, 15) oder die glorreiche Entdeckung der PTB-Zulassung als „antizipiertes Sachverständigengutachten“ (DAR 2016, 152), stehen mir die Haare zu Berge .
Und bei dieser Entscheidung ist das auch der Fall, denn:
- Woher nimmt das OLG die Erkenntnis, um die Behauptung aufzustellen, dass nur aus finanziellen Gründen „Entbindungsanträge am Tage der Hauptverhandlung“ gestellt werden? Zahlen bleibt man dem interessierten Leser schuldig.
- Und warum reicht die allgemeine Missbrauchs-Rechtsprechung der OLG nicht aus, dem zu begegnen? Stichwort: Gehörsrügenfalle.
- Und was soll der Rückgriff des OLG auf die Entscheidung des BVerfG zu Einsichtsrechten des Betroffenen beim standardisierten Messverfahren. Der ist unverständlich, da die Entscheidung mit dem Verfahren nach § 74 OWiG nun rein gar nichts zu tun hat. Die Argumentation mit Rn. 66 der Entscheidung ist absurd: Dort ging es um die rechtzeitige Geltendmachung des Einsichtsrecht durch den Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG.
- Und wie kommt das OLG auf „drei Werktage“ Frist. Das ist eine rein willkürliche Frist, die sich aber, wenn ich meine Bemühungen um den Beschluss sehe, vielleicht dadurch erklärt, dass man beim OLG Frankfurt nicht mit digitalen Eingaben umgehen kann.
- Und, um dem allen die Krone aufzusetzen: Eine solche Entscheidung trifft dann der Einzelrichter. Warum nicht der Senat?
Für mich unfassbar. Ich frage mich angesichts der Diktion in dem Beschluss, welche Vorstellungen man beim OLG Frankfurt eigentlich von Verteidigern und den Rechten der Betroffenen hat. Denn eins ist klar: § 73 OWiG sieht eine Frist für den Entbindungsantrag nicht vor. Das OLG Frankfurt am Main spielt sich also (mal wieder) als Gesetzgeber auf. Dem kann man nur nachrufen: Schuster bleib bei deinen Leisten.