OWi II: Kurzfristige Entbindung mit „offenem Visier“, oder: KG macht es „wohltuend richtig“.

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Der zweiten Entscheidung, dem KG, Beschl. v. 26.11.2021 – 3 Ws (B) 312/21 – 122 Ss 142/21 -, liegt dieselbe Ausgangslage zugrunde wie dem OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 11.06.2021 – 2 Ss-OWi 440/21. Es geht auch um einen am Hauptverhandlungstag gestellten Entbindungsantrag. Hier war es sogar noch knapper, denn: Hauptverhandlungstermin war auf 13.00 Uhr anberaumt, Der Verteidiger hatte mit am selben Tag zwischen 11.22 Uhr und 11.24 Uhr eingegangen Fax Antrag auf Entbindung des Betroffenen von der Präsenzpflicht gestellt. Es sind dann weder Verteidiger nocht Betroffener erschienen, das AG ist nach § 74 Abs. 2 OWiG vorgegangen.

Das KG sagt: Zu Unrecht:

„3. Die Rüge ist auch begründet, weil das Amtsgericht den Entbindungsantrag rechtsfehlerhaft übergangen hat.

a) Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG lagen hier vor.

Nach § 73 Abs. 2 OWiG hat das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, er werde sich in der Hauptverhandlung nicht weiter zur Sache äußern, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhaltes nicht erforderlich ist. Der Betroffene hat vorliegend die Fahrereigenschaft eingeräumt und erklärt, keine weiteren Angaben zur Sache zu machen. Die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung ist somit verzichtbar gewesen.

Die Entscheidung über den Entbindungsantrag steht hierbei nicht im Ermessen des Gerichtes, vielmehr ist es verpflichtet, dem Antrag nachzukommen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (std. Rechtspr. des Senats, vgl. Beschlüsse vom 1. April 2019 – 3 Ws (B) 103/19 -, vom 11. Dezember 2017 – 3 Ws (B) 310/17 -, und vom 8. Oktober 2012 – 3 Ws (B) 574/12 -, alle juris).

b) Der Entbindungsantrag beruht auch nicht auf missbräuchlichem Verhalten des Verteidigers und ist damit zulässig.

Auch dann, wenn der Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG erst am Sitzungstag und nur kurz vor dem anberaumten Termin bei Gericht eingeht, darf der Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid jedenfalls dann nicht ohne eine vorherige Entscheidung über den Antrag verworfen werden, wenn der Antrag – wie hier – mit „offenem Visier“, also nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht „versteckt“ (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 2015, 259) oder „verklausuliert“ (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. April 2017 – IV-2 RBs 49/17 -, juris [Gehörsrügefalle-Rechtsprechung]; OLG Rostock NJW 2015, 1770) eingereicht und bei einer Übermittlung per Telefax an den Faxanschluss der für die betreffende Abteilung des Amtsgerichts und in der gerichtlichen Korrespondenz angegebenen zuständigen Geschäftsstelle und nicht etwa nur an eine zentrale gerichtliche Faxeingangsstelle übersandt worden ist (vgl. Senat, Beschluss vom 27. Juli 2021 – 3 Ws (B) 194/21- -; BayObLG, Beschluss vom 15. April 2019 – 202 ObOWi 400/19 -; OLG Bamberg, Beschluss vom 23. Mai 2017 – 3 Ss OWi 654/17 -, alle juris).

Zwar ist vorliegend Entbindungsantrag erst am Sitzungstag und nur kurz vor dem anberaumten Termin bei Gericht eingegangen, nämlich am 29. September 2021 zwischen 11.22 Uhr und 11.24 Uhr nur eineinhalb Stunden vor dem für 13.00 Uhr anberaumten Hauptverhandlungstermin. Jedoch ist die Eilbedürftigkeit dadurch hervorgehoben worden (vgl. Senat, Entscheidung vom 10. November 2011 – 3 Ws (B) 529/11 -, juris), dass dem Schriftsatz durch einen zentrierten Kasten grafisch hervorgehoben vorangestellt worden ist: „EILT SEHR! Gerichtstermin am 29.09.2021, 13:00 Uhr“.

Vor allem ist der Entbindungsantrag insofern „mit offenem Visier“ gestellt worden, als dass es sich bei dem dreiseitigen Fax um einen verhältnismäßig übersichtlichen zweiseitigen Schriftsatz mit angehängter Vertretungsvollmacht gehandelt hat. Nach dem Antrag, durch Beschluss zu entscheiden, befindet sich sogleich der Entbindungsantrag fett gedruckt hervorgehoben an zweiter Stelle.

Zudem ist zu bewerten, dass der Verteidiger den Schriftsatz an die auf der Ladung angegebene Faxnummer (bei der Bezugnahme auf die Ladung des „Amtsgerichts Stendal“ auf Seite 10 der Rechtsmittelbegründungsschrift vom 17. November 2021 handelt es sich offensichtlich um einen Schreibfehler), mithin an das Telefaxgerät der Geschäftsstelle gesendet hat und nicht an eine andere Nummer des Amtsgerichts, bei der gegebenenfalls nicht mit einer sofortigen Weiterleitung an die Geschäftsstelle und den Abteilungsrichter zu rechnen gewesen wäre.

Diese Umstände sprechen entscheidend dagegen, vorliegend ein rechtsmissbräuchliches Handeln im Sinne „Gehörsrügefalle“-Rechtsprechung (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. April 2017 a.a.O.; dem folgend: OLG Oldenburg NJW 2018, 641) anzunehmen (vgl. Senat, Beschluss vom 27. Juli 2021 a.a.O.).

c) Es kommt schließlich nicht darauf an, wann der vom Verteidiger des Betroffenen verfasste Entbindungsantrag dem Amtsgericht tatsächlich vorgelegen hat und ob dies gegebenenfalls erst nach Urteilserlass erfolgte, mithin der Einspruch des Betroffenen in Unkenntnis des Antrags auf Entbindung ohne Sachprüfung verworfen worden ist. Maßgeblich ist vielmehr allein, dass nach Aktenlage der Antrag das Tatgericht vor Beginn der anberaumten Hauptverhandlung tatsächlich erreicht hatte und deshalb bei gehöriger gerichtsinterner Organisation dem Bußgeldrichter rechtzeitig zugeleitet oder sonst zur Kenntnis hätte gebracht werden können (vgl. BayObLG, Beschluss vom 15. April 2019 a.a.O.). Denn vor einer Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG gebietet es die Aufklärungs- bzw. Fürsorgepflicht, dass der Richter sich vor der Urteilsverkündung bei seiner Geschäftsstelle informiert, ob dort eine Entschuldigungsnachricht des Betroffenen vorliegt, zumal entsprechende schriftliche oder auch telefonische Mitteilungen bzw. Gesuche erfahrungsgemäß nicht selten noch am Terminstag bei Gericht eingehen (vgl. Senat, Entscheidung vom 10. November 2011 a.a.O.; BayObLG, Beschluss vom 15. April 2019 a.a.O.; OLG Bamberg, Beschluss vom 23.05.2017 a.a.O.).

Hier ist schon angesichts der auf dem Telefax befindlichen handschriftlichen Verfügung („Z.T.“ mit der Datumsangabe „29/9/21″, Rechtsmittelbegründungsschrift, S. 13) fraglich, ob der Entbindungsantrag dem Bußgeldrichter nicht bereits vor dem Termin vorgelegen hat.

Jedenfalls hätte sich der Abteilungsrichter zwischen Beginn der Hauptverhandlung um 13.00 Uhr und Ende der Hauptverhandlung um 13.14 Uhr auf der Geschäftsstelle erkundigen müssen, ob Mitteilungen von Verteidiger und Betroffenem vorliegen.“

Wohltuend richtig. Offenbar kann man in Berlin mit digitalen Eingaben umgehen 🙂 .

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