Heute dann ein OWi-Tag.
Und ich beginne mal wieder mit einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung. Nein, (noch) nicht dem nun schon lange überfälligen Beschluss des BVerfG in 2 BvR 1167/20, sondern mit einem Urteil des VerfGH Baden-Württemberg, und zwar mit dem VerfGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.01.2023 – 1 VB 38/18. Es geht mal wieder um die Frage des Zugangs zu Wartungs- und Reparaturunterlagen eines Messgeräts.
Dem Betroffenen ist eine Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften um 44 km/h vorgeworfen worden. Während des Bußgeldverfahrens begehrte der Betroffene die Übermittlung der Ermittlungsakte, der Rohmessdaten sowie der Lebensakte und der Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts. Die Bußgeldbehörde stellte dem ihm die Ermittlungsakte sowie einige der gewünschten Rohmessdaten zur Verfügung. Eine Einsicht in die Lebensakte und in die Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts erhielt er nicht.
Das AG Mannheim lehnte dann einen Einsichtsantrag (bzgl. Lebensakte und in die Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts) sowie den Antrag auf Übermittlung der 126 Einzelmessdaten mit der Begründung ab, dass die Beweiserhebung als zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich anzusehen sei. Das OLG Karlsruhe hat das „gehalten“. Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde, die nun Erfolg hatte.
Der VerfGH bezieht sich auf die Entscheidung des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 – und führt auf deren Grundlage dann u.a. aus:
„Sowohl das Amtsgericht als auch das Oberlandesgericht haben vorliegend verkannt, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Beschwerdeführer grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen, vorliegend namentlich der Wartungs- und Reparaturunterlagen des verwendeten Messgeräts, folgt. Dieser Anspruch verpflichtet nicht etwa das Gericht, die geforderten Unterlagen aufgrund seiner Aufklärungspflicht beizuziehen und zu prüfen, sondern entspringt allein dem Recht des Betroffenen, die Grundlagen des gegen ihn erhobenen Vorwurfs einzusehen und selbst zu prüfen.
a) Das Amtsgericht Mannheim lehnte die beantragte Zurverfügungstellung der Lebensakte bzw. der Wartungsprotokolle und Eichnachweise des Messgeräts in seinem Beschluss vom 10. August 2017 mit der Begründung ab, dass die beantragten „Beweiserhebungen […] als zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich anzusehen“ seien und „keine Beiziehungspflicht für die Lebensakte eines Messgeräts“ oder ein „Anspruch auf Bildung eines größeren Aktenbestandes“ bestünde. Im Übrigen seien Reparatur- und Wartungsbescheinigungen „auch keine geeigneten Beweismittel, um tatsachenbegründete Zweifel an der Messrichtigkeit und Messbeständigkeit eines geeichten Messgeräts wecken zu können“. Auch den in der Hauptverhandlung vom 22. August 2017 gestellten Einsichts- und Aussetzungsantrag wies das Amtsgericht damit zurück, dass „die beantragte Beweiserhebung […] als zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich anzusehen“ sei. Diese Behandlung ging aber am eigentlichen Begehren des Beschwerdeführers, nämlich die geforderten Unterlagen nach Erhalt eigenständig von einem Sachverständigen überprüfen zu lassen (so ausdrücklich auch der Antrag des Beschwerdeführers vom 22. August 2017), vorbei. Hierdurch verkennt das Amtsgericht zum einen den vom Bundesverfassungsgericht aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens hergeleiteten Anspruch auf Zugang zu den im Zusammenhang mit dem festgestellten Geschwindigkeitsverstoß bestehenden Informationen, auch wenn sich diese außerhalb der Verfahrensakten befinden. Zum anderen nimmt es in verfassungswidriger Weise einen Gleichlauf zwischen der gerichtlichen Aufklärungspflicht und dem Einsichtsrecht des Betroffenen an den im Zusammenhang mit der Messung stehenden Informationen an.
b) Auch das Oberlandesgericht Karlsruhe ging in seinem Beschluss vom 17. April 2018 hinsichtlich des Informationsbegehrens verfassungswidrig von einem „Gleichlauf von Aufklärungspflicht und fairtrial-Grundsatz“ aus und lehnte den beantragten Zugang zu Unterlagen über Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe bereits deshalb ab, weil der Messbeamte keine eichrelevanten Störungen oder Defekte am Messgerät bekundet habe. Das Amtsgericht sei deshalb nicht verpflichtet gewesen, beim Verwender des Messgeräts Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen oder sonstige Eingriffe anzufordern. Dem Beschwerdeführer kam es jedoch gerade darauf an, durch die eigenständige Überprüfung der begehrten Informationen etwaige Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses erst zu ermitteln, um diese dann – gegebenenfalls – vor Gericht darlegen und dessen Amtsaufklärungspflicht auslösen zu können. Die fehlende Differenzierung des Oberlandesgerichts zwischen Beweis(ermittlungs)antrag und dem Begehren auf Informationszugang lässt unberücksichtigt, dass die Verteidigungsinteressen des Betroffenen nicht identisch mit der Aufklärungspflicht des Gerichtes in der Hauptverhandlung sind und deutlich weitergehen können (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 –, Juris Rn. 67).
Zwar wurde nach den gerichtlichen Feststellungen eine Lebensakte für das betroffene Messgerät nicht geführt, so dass ein insoweit versagter Informationszugang nicht zu einem Verfassungsverstoß führen kann. Dies gilt jedoch nicht für die Wartungs- und Reparaturdokumentationen, die von dem Einsichtsrecht des Beschwerdeführers umfasst (vgl. VerfGH RP, Beschluss vom 13.12.2022 – VGH B 46/21 –, Juris Rn. 54 ff.) und ersichtlich auch vorhanden sind. Der gerichtlich bestellte Sachverständige sowie der Messbeamte hatten in der mündlichen Verhandlung beim Amtsgericht von einem reparierten Defekt am Objektiv sowie einem reparierten Problem an einem LAN-Kabel berichtet, wenngleich sie diese jeweils als nicht eichrelevant einstuften. Zumindest die insoweit existierenden Unterlagen hätten dem Beschwerdeführer – neben etwaigen weiteren vorhandenen Reparatur- und Wartungsdokumentationen – zur Verfügung gestellt werden müssen, damit dieser sie einer eigenständigen Prüfung hätte unterziehen können.
Unerheblich ist hierbei, dass zwischen der letzten Eichung des Geräts am 25. August 2016 und dem Tattag am 3. September 2016 gerade einmal neun Tage lagen. Denn das Einsichtsrecht umfasst den Zeitraum, der mit der letzten Eichung vor dem Tattag beginnt und am Tage des Ablaufs der Eichfrist endet, sodass vom Einsichtsrecht auch Unterlagen solcher Wartungen erfasst sind, die nach der verfahrensgegenständlichen Messung, aber vor dem Ende der Eichfrist vorgenommen worden sind (VerfGH RP, Beschluss vom 27.10.2022 – VGH B 57/21 –, Juris Rn. 41). Bei erfolgten Wartungen und Reparaturen des Messgeräts in diesem Zeitraum kann eine – wenn auch bloß theoretische – Aufklärungschance zur eventuellen Aufdeckung von Funktionsbeeinträchtigungen des Messgeräts nicht schlechthin ausgeschlossen werden (VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, Juris Rn. 55f.). „
Und wir warten weiter auf die nächte BVerfG-Entscheidung.