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OWi II: OLG Celle zur Einsicht in Messunterlagen, oder: Abwarten mit neuer Verhandlung bis „nach dem BGH“

Im zweiten Posting des Tages weise ich hin auf den OLG Celle, Beschl. v. 22.02.2022 – 2 Ss (OWi) 264/21, über den ja auch der Kollege Gratz im VerkehrsrechtsBlog schon berichtet hat. Das OLG hat in der Entscheidung noch einmal umfassend zur Einsicht in Messunterlagen Stellung genommen.

In der Entscheidudng geht es (zunächst) um das Einsichtsrecht des Betroffenen in Messunterlagen, wie z.B. Lebensakte mit etwaigen Reparatur,- Störungs,- Reinigungs- und Wartungsnachweisen. Insoweit verweise ich auf den Voltext der verlinkten Entscheidung. Das OLG führt dazu umfassend aus.

Hier will ich auf einen anderen Aspekt der Entscheidung hinweisen, nämlich auf die Frage, wie das OLG mit der Einsicht in die Messreihe umgeht. Ich erinnere, dass es dazu ja eine (Divergenz)Vorlage des OLG Zweibrücken und eine des OLG Koblenz gibt, über die ich hier ja auch schon berichtet habe. Dazu „verkneift“ sich das OLG eine eigene Aussage, aber regt an, dass das AG mit der neuen Hauptverhandlung wartet, bis der BGH – wann endlich? – entschieden hat:

„3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:

a) Die Verteidigung des Betroffenen hat gegenüber der Bußgeldbehörde und nachfolgend im gerichtlichen Verfahren vor dem Amtsgericht erfolglos die Bereitstellung der sog. Rohmessdaten aus der gesamten Messreihe aus der am Vorfallstag durchgeführten Geschwindigkeitsmessung sowie der Statistikdatei verlangt. Das Amtsgericht hat in seiner Entscheidung vom 20.05.2021 (Az. 17 OWi 369/21) einen Rechtsanspruch auf die Bereitstellung dieser Daten verneint.

Die Frage, ob einem Betroffenen aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens folgend ein Anspruch auf Einsicht in nicht bei den Verfahrensakten befindliche Rohmessdaten einer gesamten Messreihe zusteht, wird in der nach der o.g. Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 161/18 –, juris) ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt.

Einige Oberlandesgerichte haben auf der Grundlage der unter dem Titel „Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung“ verfassten Stellungnahme der Physikalisch-Technische Bundesanstalt vom 30.03.2020 die vom Bundesverfassungsgericht vorausgesetzte „Relevanz“ für das Zugangsrecht des Betroffenen bzw. seiner Verteidigung zu begehrten nicht bei den Akten befindlichen Informationen hinsichtlich der Daten der gesamten Messreihe einer Geschwindigkeitsmessung abgesprochen. Hieran anknüpfend haben sie ein Einsichtsrecht der Verteidigung des Betroffenen verneint (vgl. BayObLG, Beschl. v. 04.01.2021 – 202 ObOWi 1532/20 –, juris; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 05.05.2021 – 1 OWi 2 SsBs 19/21 –, juris).

Andere Oberlandesgerichte hingegen gehen davon aus, dass die Bewertung, ob bestimmte Informationen für die Verteidigung „relevant“ sind, allein der Einschätzung der Verteidigung unterliegt und es daher genügt, wenn sie zur Begründung ihres Einsichtsbegehrens auf mögliche Auffälligkeiten, die sich aus der Betrachtung der Daten der gesamten Messreihe ergeben könnten, verweisen. Ihnen könne zudem auch unter Berücksichtigung der o.g. Stellungnahme der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt eine potentielle Beweiserheblichkeit nicht abgesprochen werden. Aufgrund dessen sei einem entsprechenden Einsichtsgesuch der Verteidigung stattzugeben (vgl. OLG Jena, Beschl. v. 17.03.2021 – 1 OLG 2 SsBs 23/20 –, juris; OLG Stuttgart, Beschl. v. 03.08.2021 – 4 Rb 12 Ss 1094/20 –, juris).

Das Oberlandesgericht Zweibrücken hat aufgrund der divergierenden Auffassungen in der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung die Frage dem Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2 GVG zur Entscheidung vorgelegt (vgl. OLG Zweibrücken, aaO). Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist bislang noch nicht ergangen.

Der Senat hat im vorliegenden Verfahren von einer eigenen Beurteilung der Rechtsfrage abgesehen, da insoweit die Entscheidung des Bundesgerichtshofs abzuwarten ist, welche im weiteren Verfahren bindend sein wird.

Für das Amtsgericht bietet es sich daher an, entweder mit einer neuen Hauptverhandlung bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs zuzuwarten oder die Daten der gesamten Messreihe vom Tag der Geschwindigkeitsmessung des Betroffenen anzufordern und sie seiner Verteidigung zugänglich zu machen.“

Damit kann man dann vielleicht als Verteidiger in anderen Verfahren, in denen die Frage eine Rolle spielt argumentieren.

Beisitzerin scheidet auf Antrag aus der Justiz aus, oder: Was ist mit den Gebühren für die „nutzlosen“ HV-Tage?

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Wer kennt als Verteidiger nicht das Problem: Eine Hauptverhandlung muss nach einigen Hauptverhandlungstagen ausgesetzt und neu begonnen werden. Dann stellt sich, wenn der Mandant später verurteilt wird, die Frage, ob der Mandant auch für die aufgrund der Aussetzung „nutzlosen“ Hauptverhandlungstermine die Terminsgebühren zahlen muss oder ob er ggf. von der Staatskasse Erstattung verlangen kann.

Mit der Problematik hatte es das LG Hagen zu tun. Dort begann am 10.08.2020 in einer Schwurgerichtssache die Hauptverhandlung. Anschließend wurden 12 Fortsetzungstermine durchgeführt. Weitere Termine waren bis einschließlich November 2020 angesetzt worden, und zwar insgesamt 32 Verhandlungstermine. Es wurden zwar zwei Ergänzungsschöffen eingesetzt, die an der Hauptverhandlung teilgenommen haben, Ergänzungsrichter wurden aber nicht hinzugezogen.

Der letzte Hauptverhandlungstermin fand dann am 21.09.2020 statt. Dann musste die Hauptverhandlung aufgrund des Umstandes, dass eine der teilnehmenden Berufsrichterinnen kurzfristig aus dem Justizdienst ausgeschieden ist, unterbrochen werden. Diese hatte ihren Entschluss, die Justiz verlassen zu wollen, Mitte September 2020 mitgeteilt. Eine im Verfahren in Aussicht genommene Verständigung nach§ 257c StPO war nicht zustande gekommen, so dass das Verfahren nicht rechtzeitig vor dem Ausscheiden der Richterin zum Abschluss gebracht werden konnte. Die Hauptverhandlung wurde sodann unterbrochen und am 14.01.2021 mit neuer Kammerbesetzung erneut begonnen.

Die Verteidiger der Angeklagten haben beantragt, die Kosten des Verfahrens und notwendigen Auslagen insoweit nicht ihren Mandanten aufzuerlegen, als sie sich auf die 13 Hauptverhandlungstermine vom 10.08.20 bis 21.09.2020 beziehen sowie insoweit eine Kostengrundentscheidung zu treffen. Die hat das LG dann nicht im Urteil, aber mit LG Hagen, Beschl. v. 09.12.2021 – 31 Ks 2/20 –  im Kostenansatzverfahren getroffen. Es hat gem. § 21 Abs. 1 Satz 2 GKG von der Erhebung von Auslagen des Gerichts für die 13 Hauptverhandlungstermine vorn 10.08.2020 bis 21.09.2020 abgesehen. Im Übrigen hat es den Antrag, von einer Auferlegung der Kosten des Verfahrens sowie der notwendigen Auslagen der Angeklagten, soweit sie sich auf die 13 Hauptverhandlungstermine vom 10.08. bis 21.09.2020 beziehen, zurückgewiesen:

„2. Gem. § 465 Abs. 1 StPO hat der Angeklagte die Kosten des Verfahrens insoweit zu tragen, als sie durch das Verfahren wegen einer Tat entstanden sind, wegen derer er verurteilt wird. Eine diesbezügliche Kostenentscheidung hat die Kammer bereits mit dem Urteil getroffen.

Von diesem Grundsatz ist gem. § 21 Abs. 1 S. 1 GKG dann eine Ausnahme zu machen für solche Kosten, die bei richtiger Behandlung der Sache nicht entstanden wären.

Eine unrichtige Behandlung der Sache ist vorliegend indes nicht ersichtlich. Eine Solche liegt vor, wenn ein Gericht oder ein sonstiger Bediensteter — etwa ein Gerichtswachtmeister — objektiv fehlerhaft gehandelt hat (BeckOK KostR/Dörndorfer, 35. Ed. 01.10.2021, GKG § 21 Rn. 3). Dabei ist aber nicht jeder Fehler ausreichend, sondern es muss sich um einen offensichtlichen und schweren Verfahrensfehler handeln (BGH, Beschl. v. 04.05.2005, Az.: XII ZR 217/04) oder in offensichtlich eindeutiger Weise materielles Recht verkannt werden (BFH, Beschluss vom 31.01.2014 — X E 8/13, Rn. 37).

Ein schwerwiegender Verfahrensfehler oder eine offensichtliche Verkennung materiellen Rechts ist vorliegend nicht ersichtlich. Die Unterbrechung des Verfahrens resultierte aus einer persönlichen und für die Gerichtsverwaltung nicht vorhersehbaren Entscheidung der ausgeschiedenen Richterin. Diese war gem. § 21 Abs. 2 Nr. 4 DRiG auf ihren schriftlichen Antrag hin aus dem Dienst zu entlassen, wobei der Zeitpunkt der Entlassung aus dem Dienst durch den Richter selbst bestimmt werden kann (Staats, DRiG, 1. Aufl. 2012, § 21 Rn. 8). Dabei wurde durch das Gericht sowohl versucht, die Richterin zu einer Verlängerung des Dienstverhältnisses bis zum Abschluss des hiesigen Verfahrens zu bewegen und auch einen schnelleren Abschluss des Verfahrens durch eine Verständigung herbeizuführen, was aber jeweils scheiterte.

Dass zwingend ein Ergänzungsrichter hätte eingesetzt werden müssen, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Gem. § 192 Abs. 2 GVG kann bei Verhandlungen von längerer Dauer der Vorsitzende die Zuziehung von Ergänzungsrichtern anordnen. Die Entscheidung, ob ein Ergänzungsrichter eingesetzt wird, trifft der Vorsitzende nach pflichtgemäßem Ermessen (KK-StPO/Diemer, 8. Aufl. 2019, § 192 GVG Rn. 4). Bei der Entscheidung ist die Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Ergänzungsfalls zu berücksichtigen, wozu neben verfahrens- auch personenbedingte Umstände heranzuziehen sind (KK-StPO/Diemer, 8. Aufl. 2019, GVG § 192 Rn. 4a). Zwar handelte es sich vorliegend um ein umfangreiches Verfahren, bei dem zunächst 32 Verhandlungstermine angesetzt worden waren. Diese wurden aber sämtlich in der Zeit von August bis November 2020 angesetzt, so dass es sich um einen überschaubaren Zeitraum von weniger als vier Monaten handelte. Zudem konnte auch davon ausgegangen werden, dass nicht sämtliche Termine benötigt werden würden, wie anhand der Tatsache erkennbar ist, dass der zweite Verfahrensdurchgang — wenn auch unter Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten G. — in nur 21 Verhandlungstagen beendet werden konnte. Es waren auch keinerlei Anzeichen dafür ersichtlich, dass seitens der sodann ausgeschiedenen Richterin damit zu rechnen gewesen wäre, dass diese derart plötzlich aus dem Dienst ausscheiden könnte.

3. Etwas anderes gilt aber für die Auslagen des Gerichts, die für die 13 Hauptverhandlungstermine vom 10.08.2020 bis 21.09.2020 angefallen sind.

Gem. § 21 Abs. 1 S. 2 GKG sind auch Auslagen, die durch eine von Amts wegen veranlasste Verlegung eines Termins oder Vertagung einer Verhandlung entstanden sind, nicht zu erheben. Hierbei ist beispielsweise auch der Fall erfasst, dass ein Termin aufgrund der Erkrankung eines Richters nicht stattfinden kann (BeckOK KostR/Dörndorfer, 35. Ed. 01.10.2021, GKG § 21 Rn. 3).

Zwar wurden vorliegend keine Termine von Amts wegen aufgehoben oder vertagt. Nach Auffassung der Kammer ist die vorliegende Situation des nachträglichen Ausscheidens einer zur Entscheidungsfindung berufenen Richterin aber vergleichbar mit der gesetzlich geregelten Konstellation: In beiden Fällen ist ein Termin, für den das Gericht Auslagen aufgewandt hat, ergebnislos verlaufen, ohne dass eine Verfahrensförderung erfolgen konnte, wobei dies durch Ursachen hervorgerufen wurde, die in die Sphäre des Gerichts fallen. Ob ein Termin hierbei schon im Laufe seiner Durchführung abgebrochen und vertagt werden muss oder ob dieser zunächst vollständig durchgeführt wurde und sich erst im Nachhinein herausstellt, dass das Ergebnis des Termins aufgrund einer in der Risikosphäre des Gerichts liegenden Ursache — hier das Ausscheiden der zur Entscheidung berufenen Richterin — unverwertbar ist, kann nach Auffassung der Kammer im Ergebnis nicht zu einer unterschiedlichen Behandlung hinsichtlich der Erhebung von Auslagen führen. Da § 21 Abs. 1 S. 2 GKG auch kein „Verschulden“ im Sinne- einer unrichtigen Sachbehandlung voraussetzt, sondern es allein darauf ankommt, aus wessen Sphäre der Grund für nutzlos aufgewandten Aufwendungen herrührt, war daher von einer Erhebung der gerichtlichen Auslagen abzusehen, sofern diese für die 13 Hauptverhandlungstermine vom 10.08:2020 bis 21.09.2020 angefallen sind.

4. Sofern auch beantragt wurde, den Angeklagten die eigenen notwendigen Auslagen nicht aufzuerlegen, findet sich hierfür in § 21 GKG keine Grundlage. Die Norm erfasst nämlich, wie bereits an der systematischen Stellung im Gerichtskostengesetz erkennbar — ausschließlich Gerichtskosten. Einen Anspruch gegen die Staatskasse auf Erstattung von notwendigen Auslagen ergibt sich hieraus nicht (BGH NStZ-RR 2008, 31; BeckOK KostR/Dörndorfer, 35. Ed. 01.10.2021, GKG § 21 Rn. 1). Derartige Kosten sind als Schaden ggf. im Zivilrechtswege geltend zu machen.

5. Dabei erscheint es auch nicht unbillig, die Gerichtskosten sowie die notwendigen Auslagen der Angeklagten für die Verhandlungstage vom 10.08.2020 bis 21.09.2020 den Angeklagten aufzuerlegen. Gem. § 465 StPO sollen die Kosten des Strafverfahrens grundsätzlich von demjenigen getragen werden, der durch sein strafbares Verhalten Anlass zur Durchführung des Verfahrens gegeben hat. Dabei trägt dieser — im Falle eine Verurteilung — auch die Gefahr, dass durch das Verfahren mehr Kosten entstehen, als zur Feststellung seiner Schuld erforderlich gewesen wäre. Ein Anspruch auf „kosteneffiziente Strafverfolgung“ besteht insofern. nicht. Der Verurteilte trägt daher —vorbehaltlich des Eingreifens von Spezialregelungen mit abweichender Regelung —auch das Risiko, dass sich das Verfahren in die Länge zieht oder sich im Nachhinein als überflüssig herausstellende Maßnahmen, etwa Beweiserhebungen, ergriffen werden.“

M.E. so zutreffend.

StPO III: Aussetzung der HV nach Verständigung, oder: Bindungswirkung und Belehrungspflicht?

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Und dann als dritte Entscheidung dann noch der BGH, Beschl. v. 17.02.2021 – 5 StR 484/20 -, der auch zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt ist.

Gegenstand der Entscheidung ist dann auch noch einmal die Verständigung (§ 257c StPO), und zwar wie folgt: In einem Verfahren wegen Handeltreibens mit BtM ist es in einer ersten Hauptverhandlung zu einer Verständigung nach § 257c StPO gekommen. Im Hinblick darauf hatte der Angeklagte ein den Ankla­gevorwurf vollständig einräumendes Geständnis abgegeben. Da dann ein Schöffe und der richterliche Beisitzer erkrankten, musste diese Hauptverhandlung aus­gesetzt werden. Nach dem Neubeginn der Hauptverhandlung teilte der Vorsit­zende den Inhalt der Verständigung in der HV dahin mit, „dass bei einer glaubhaften und geständigen Einlassung des Angeklagten zu den Anklagevorwürfen eine Ge­samtfreiheitsstrafe zwischen 2 Jahren und 6 Monaten und 2 Jahren und 9 Mona­ten verhängt [werde]. Nach Aussetzung der Hauptverhandlung [sei] die Bindung an diese Verständigung entfallen.“ Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung legte der Angeklagte nunmehr ein Teilgeständnis ab.

Der Angeklagte wird dann zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und 9 Monaten verurteilt : Dagegen seine, die keinen Erfolg hat.

Der BGH geht davon aus, dass die Bindungswirkung an die Absprache entfallen ist. Die Aussetzung des Verfahrens führe zum Wegfall der Bindungswirkung. Das ergebe sich zwar  nicht aus § 257c Abs. 4 StPO hervor, weil die Aussetzung hier nicht genannt werde. Der Gesetzgeber habe allerdings zum Ausdruck gebracht, dass die Bindungswirkung nach den allgemeinen Grundsätzen entfalle. Danach gelte eine Absprache nur zwischen den Beteiligten – also könnten auch nur die Richter gebunden werden, die den Deal geschlossen haben. Eine Aussetzung führe zu einem Neubeginn des Hauptverfahrens. Darüber sei der Angeklagte auch zu informieren – eine Belehrung darüber hinaus sei aber nicht erforderlich.

Auch hier im Übrigen wegen des Umfangs der Entscheidung nur die Lietsätze, die lauten:

  1. Wird das Verfahren, in dem es zu einer Verständigung ge­kommen war, ausgesetzt, entfällt die Bindung des Gerichts an die Verständigung.
  2. Das aus der Aussetzung resultierende Entfallen der Bin­dungswirkung führt grundsätzlich zur Unverwertbarkeit des im Vertrauen auf den Bestand der Verständigung abgegebe­nen Geständnisses in der neuen Hauptverhandlung.
  3. Eine Pflicht, den Angeklagten zu Beginn der neuen Hauptver­handlung über die Unverwertbarkeit seines in der ausgesetz­ten Hauptverhandlung abgegebenen Geständnisses aus­drücklich („qualifiziert“) zu belehren, besteht nicht, wenn der Angeklagte vor der Verständigung ordnungsgemäß nach § 257c Abs. 5 StPO belehrt worden war; es genügt, wenn er zu Beginn der neuen Hauptverhandlung darüber informiert wird, dass eine Bindung an die in der ausgesetzten Hauptver­handlung getroffene Verständigung entfallen ist (Abgrenzung zu BGH – 1. Senat – NStZ 2019, 483).

Bei der erwähnten Entscheidung des 1. Strafsenats handelt es sich um den BGH, Beschl. v. 24.04.2019 – 1 StR 153/19. Wenn man den so liest, hat man schon den Eindruck, dass der 5. Strafsenat ein wenig „eiert“, um nicht dem Großen Seant vorlegen zu müssen.

Corona II: Ausbleiben des Angeklagten und Aussetzung der Hauptverhandlung, oder: Was sagen Gerichte?

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Und im zweiten Posting dann zwei weitere Entscheidungen mit Corona-Bezug.

Zunächst der LG München I, Beschl. v. 04.01.2021 – 15 Qs 46/20. Der Angeklagte war zu einem Fortsetzungstermin in der auf seinen Einspruch gegen einen Strafbefehl anberaumten Hauptverhandlung nicht erschienen. Begründung: Bei ihm sei eine Testung auf Covid19 durchgeführt worden. Das AG hat das als nicht genügend angesehen und den Einspruch verworfen. Das LG München I hat Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt:

„Die Beschwerde ist auch begründet. Nach Ansicht der Kammer ist dem Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da das Nichterscheinen im Hauptverhandlungs-termin unverschuldet war. Nach § 412, § 392 Abs. 7 S. 1 i.V.m. § 44 S. 1 StPO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, den Einspruchstermin wahrzunehmen. Der Angeklagte war durch das Telefax seines Rechtsanwaltes vom 26.10.2020 mit den beigefügten Unterlagen ausreichend entschuldigt. Aufgrund der geschilderten Symptome und der Entnahme eines Abstrichs bestand bis zur Mitteilung des Testergebnisses für den Angeklagten eine Quarantänepflicht. Überdies darf das Gerichtsgebäude ohnehin nur von fieberfreien Personen ohne akute respiratorische Symptome betreten werden. Auch das Nichterscheinen des Verteidigers war ausreichend entschuldigt. Zwar war insoweit eine Isolierung bzw. Quarantäne ärztlich bzw. behördlich nicht angeordnet worden. Tatsächlich bestand aber insbesondere aufgrund der mehrstündigen gemeinsamen Autofahrt des Verteidigers mit dem Angeklagten wenige Tage vor Auftreten der Symptome beim Angeklagten ein nicht unerhebliches Risiko einer COVID-19 Infektion auch beim Verteidiger. Bis zum Vorliegen des Testergebnisses des Angeklagten war eine freiwillige Isolierung des Verteidigers sinnvoll und bei einer Risikoabwägung auch geboten.“

Die zweite Entscheidung kommt dann mit dem LG Stralsund, Beschl. v. 18.01.2021 – 23 Kls 17/20 jug. – vom anderen Ende der Republik. Der Beschluss behandelt die Aussetzung der Hauptverhandlung, wenn wegen der Corona-Pandemie eine hinreichende räumliche Distanzierung der Prozessbeteiligten bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Öffentlichkeit im Verhandlungssaal nicht zu gewährleisten ist. Und: Er setzt in einem Verfahren mit dem Vorwurf des versuchten Totschlags Haftbefehle gegen einige der Angeklagten außer Vollzug.

Die Aussetzung ist m.E. auf der Grundlage der vom LG in dem Beschluss geschilderten räumlichen Umstände auf jeden Fall gerechtfertigt. Bis zu 34 Personen auf knapp 117 m² Schwurgerichtssaal ist einfach zu viel. Was nicht geht, geht nicht. Und: Die Außervollzugsetzung der Haftbefehle ist/war dann die zwingende Folge.

OWi II: (Akten)Einsichtsantrag und Aussetzungsantrag, oder: Unzulässige Beschränkung der Verteidigung

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Die zweite OWi-Entscheidung kommt aus Dresden. Sorry, ich hatte die bisher leider in meinem Ordner übersehen. Der OLG Dresden, Beschl. v. 11.12.2019 – 23 SsBs 709/19. geht an die Frage der Aussetzung der Hauptverhandlung nämlich etwas etwas anders heran als z.B. das BayObLG:

„Die zulässige Rechtsbeschwerde führt auf die formgerecht erhobene Verfahrensrüge des Verstoßes gegen ein faires Verfahren und die unzulässige Einschränkung der Verteidigung durch Ablehnung des Antrages auf Aussetzung der Hauptverhandlung zur Einsicht in nicht bei den Akten befindliche amtliche Messunterlagen zu einem – vorläufigen – Erfolg und zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

1. Die Rüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung ist zulässig erhoben. Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft Dresden bedarf es vorliegend nicht des Zwischenrechtsbehelfs des § 238 Abs. 2 StPO, da das Amtsgericht den gestellten Aussetzungsantrag gemäß § 228 Abs. 1 Satz 1 StPO durch Beschluss zurückgewiesen hat. Der Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO ist nur dann zwingend zur Erhaltung der Verfahrensrüge erforderlich, wenn der Antrag auf Aussetzung durch den Amtsrichter lediglich verhandlungsleitend abgelehnt wird (vgl. hierzu OLG Karlsruhe, NStZ 2019, 620). Der Betroffene hat durch seinen Verteidiger nach Ablehnung der Überlassung der geforderten Messdatei der gesamten Messung durch die Verwaltungsbehörde auch einen Antrag gemäß § 62 OWiG gestellt (vgl. OLG Karlsruhe, a.a.O.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 19. September 2019, 1 RB 28 Ss 300/19 – juris). Der Umstand, dass die Verwaltungsbehörde die Akten dem Amtsgericht zur Entscheidung nach § 62 OWiG nicht vorgelegt und das Amtsgericht insoweit nicht entschieden hat, ist vom Betroffenen nicht zu verantworten und kann daher die Zulässigkeit seiner Verfahrensrüge nicht beeinflussen.

2. Die damit zulässig erhobene Rüge ist auch begründet. Vorliegend wurde die Verteidigung durch den Beschluss, mit dem der Aussetzungsantrag zurückgewiesen wurde, rechtsfehlerhaft beschränkt, da der Betroffene ein Recht auf Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen amtlichen Messunterlagen hat, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt.

Aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) i.V.m. dem allgemeinen Freiheitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie aus dem Gebot des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) kann sich nach allgemeiner Auffassung außerhalb und im Vorfeld der Hauptverhandlung ein über das Recht auf Akteneinsicht gemäß § 147 StPO hinausgehender Anspruch des Betroffenen auf Einsicht in die bei der Bußgeldbehörde vorhandenen, sich nicht bei den (Gerichts-)Akten befindlichen Messunterlagen und Messdaten ergeben, und zwar unabhängig davon, ob konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder vom Betroffenen vorgetragen worden sind (vgl. OLG Düsseldorf, 2016, 140; OLG Karlsruhe, a.a.O.; Saarländisches OLG, Beschluss vom 24.02.2016, SsBs 7/2016 – juris). Auf die Versagung der Einsicht in die Messunterlagen durch die Bußgeldbehörde kann die Rechtsbeschwerde jedoch für sich allein nicht gestützt werden, da es sich hierbei um ein der Hauptverhandlung vorgelagertes Geschehen handelt. Nur wenn – wie vorliegend – deswegen in der Hauptverhandlung ein Antrag auf Unterbrechung oder Aussetzung gestellt und durch Gerichtsbeschluss abgelehnt worden ist, kann der Rechtsbeschwerdegrund der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung, der auch in Betracht kommt, wenn das Gericht gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstößt, geltend gemacht werden.

Vorliegend hat der Betroffene mehrfach gegenüber der Verwaltungsbehörde gefordert, ihm Einblick in die Messdaten der gesamten Messserie sowie in die Statistikdatei zu gewähren. Dies wurde von der Verwaltungsbehörde abgelehnt. Ein Antrag nach § 62 OWiG wurde – wie bereits ausgeführt – vom Betroffenen letztlich erfolglos gestellt.

In einem Fall wie dem vorliegenden sieht der Senat die Verteidigung jedenfalls dann unzulässig beschränkt, wenn der Betroffene bereits bei der Verwaltungsbehörde – letztlich erfolglos Antrag auf Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen weiteren amtlichen Messunterlagen gestellt hat, sein Antrag nach § 62 OWiG abschlägig (oder nicht) beschieden worden ist und sein erneuter, in der Hauptverhandlung gestellter und darauf gerichteter Einsichts- und Aussetzungsantrag durch Beschluss zurückgewiesen wurde. Der Betroffene wird ohne Kenntnis aller Informationen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, nicht beurteilen können, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen. Das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers kann daher deutlich weitergehen als die Amtsaufklärung des Gerichts. Solche weiterreichende Befugnisse stehen dem Betroffenen bzw. dessen Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung auch bei standardisierten Messverfahren zu. Es gibt insoweit keinen Erfahrungssatz, dass ein standardisiertes Messverfahren unter allen Umständen immer zuverlässige Ergebnisse liefert (BGHSt 39, 291). Der Betroffene kann daher – gegenüber der Verwaltungsbehörde – einen Anspruch auf Herausgabe der nicht bei den Akten befindlichen, jedoch bei der Verwaltungsbehörde existierenden amtlichen Messunterlagen zur umfassenden Überprüfung der Messung geltend machen (vgl. OLG Karlsruhe, ZfS 2018, 471 ; OLG Karlsruhe, DAR 2019, 582).

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf dem aufgezeigten Rechtsfehler beruht, war es mit den Feststellungen aufzuheben.

Auf die weiter erhobenen Rügen kommt es somit nicht an, diese geben dem Senat jedoch Veranlassung zu folgenden Anmerkungen:

Soweit in der Gegenerklärung des Verteidigers des Betroffenen vom 04. November 2019 die Rüge eines Beweisverwertungsverbotes wegen Nichtspeicherung von Rohmessdaten angedeutet wird, ist eine solche den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 79 Abs. 3 OWiG entsprechende Verfahrensrüge der Rechtsbeschwerdebegründung vom 18. Juni 2019 nicht zu entnehmen (zu den Voraussetzungen vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Oktober 2019, 2 RBs 141/19 – juris).

Unabhängig davon begründet allein die Nichtspeicherung von Rohmessdaten kein aus einem Verstoß gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens folgendes Beweisverwertungsverbot (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 19. September 2019, 1 RB 28 Ss 300/19 – juris; KG, Beschluss vom 02. Oktober 2019, 3 WsB 296/19 – 162 Ss 122/19; OLG Köln, Beschluss vom 27. September 2019, 111-1 RBs 339/19 und 111-1 RBs 362/19; OLG Oldenburg, Beschluss vom 09. September 2019, 2 Ss OWi 233/19).

Bei dem Messgerät TraffiStar S350 handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren (vgl. zuletzt OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Oktober 2019, 2 RBs 141/19 – juris). Das Messgerät TraffiStar S350 hat bereits vor dem 01. Januar 2015 (Inkrafttreten des BMesEG) eine innerstaatliche Bauartzulassung durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) erhalten (Zulassungszeichen: 18.11-13.01). Unter der Zertifikatsnummer DE-15-WPTB-0030 ist unter dem 24. Juli 2015 weiter eine Baumusterprüfung durch die PTB erfolgt. Da somit auch die Baumusterprüfung durch die PTB erfolgt ist und Art und Umfang der technischen Prüfungen unverändert geblieben sind, ist weiterhin von einem standardisierten Messverfahren auszugehen.“