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Unter dem Betreff „Untersuchungshaft bei Unterfinanzierung“ hat mir der Kollege Garcia vom Blog De Legisbus den BVerfG, Beschl. v. 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 – übersandt und gemeint, dass der doch vielleicht ein Posting wert wäre. In der Tat, das ist er; er hat es dann ja heute auch bis in die Tagespresse geschafft. Dort allerdings u.a. unter dem „Eyechatcher“ „Mutmaßlicher Vergewaltiger kommt frei – weil die deutsche Justiz zu lahm war„. Vergewaltigung und U-Haft-Aufhebung ist immer ein Thema, aber: Jedes Ding hat zwei Seiten und man muss – auch bei schweren Vorwürfen – die anstehenden U-Haft-Fragen eben aus Sicht des angeblichen Täters sehen, da es um dessen persönliche Freiheit geht. Und dazu findet das BVerfG (mal wieder) klare und deutliche Worte – so wie ich sie länger nicht mehr gelesen habe. Sie zementieren, was schon seit längerem ständige Rechtsprechung des BVerfG ist: Den „Haft(fortdauer)grund fehlendes Personal“ gibt es nicht.
Kurz zum Sachverhalt der Entscheidung des BVerfG:
- 18-jähriger, nicht vorbestrafter Angeklagter
- In Haft seit dem 14.08. 2013
- Tatverdacht der Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung
- geständig, keine Beweisanträge
- Haftgründe Flucht- und Wiederholungsgefahr
- Am 29.01.2014 Anklageerhebung
- 25.02.2014 Sechs-Monats-Haftprüfung
- 02.04.2014 Eröffnung des Hauptverfahrens; Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung 14., 15., 20., 22. und 24.10.2014.
- 29.04.2014 Haftfortdauerbeschluss des LG mit Hinweis auf Überlastung der Kammer
- 04.06.2014 Aufhebung der Oktoberhauptverhandlungstermine und neue Hauptverhandlungstermine für den 9., 10., 19. und 22.09.2014.
- 10.06. 2014 zweiten (Neun-Monats-)Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO
- 27.06.2014 Verfassungsbeschwerde
Die von der Kammer und dem OLG angeführten Gründe für die zögerliche Behandlung haben das BVerfG nicht überzeugt. Es stellt noch einmal seine ständige Rechtsprechung in diesen Fragen vor und führt dann zur Sache aus:
„II.
Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht. Sie enthalten keine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung für die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft.
1. Bereits die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts verkennt Inhalt und Tragweite der verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Rechtfertigung einer Fortdauer von Untersuchungshaft, indem sie ausschließlich auf die Auslastung der Kammer abstellt. Die Begründung einer Haftfortdauerentscheidung allein durch die Dokumentation des Geschäftsanfalls der großen Strafkammern bei dem Landgericht München I seit dem Jahr 2006 ist in jeder Hinsicht sachfremd. Die geschilderte Personalsituation am Landgericht München I steht in keinem Zusammenhang zu den Erwägungen, die für eine zu treffende Haftfortdauerentscheidung maßgeblich sein dürfen. Die als unzureichend empfundene personelle Ausstattung eines Gerichts vermag eine längere als die verfahrensangemessene Untersuchungshaft eines Beschuldigten in keinem Fall zu rechtfertigen. Kann dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht Rechnung getragen werden, weil der Staat seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte nicht nachkommt, haben die mit der Haftprüfung betrauten Fachgerichte die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zu ziehen, indem sie die Haftentscheidung aufheben; ansonsten verfehlen sie die ihnen obliegende Aufgabe, den Grundrechtsschutz der Betroffenen zu verwirklichen (vgl. BVerfGK 6, 384 <397>).
2. Auch der im Rahmen der zweiten Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO ergangene Beschluss des Oberlandesgerichts führt keine verfassungsrechtlich trag- fähigen Gründe für die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft an. Das Verfahren ist, unabhängig davon, ob wegen bereits davor eingetretener Eröffnungsreife sogar auf einen früheren Zeitpunkt als auf den 2. April 2014 – dem Datum des Eröffnungsbeschlusses – abzustellen wäre, nicht in der durch das Gewicht des Freiheitseingriffs gebotenen Zügigkeit mit einem Beginn der Hauptverhandlung binnen drei Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens gefördert worden. Darüber hinaus wird sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des geplanten Beginns der Hauptverhandlung im September 2014 schon deutlich länger als ein Jahr in Untersuchungshaft befunden haben. Vor diesem Hintergrund ist eine Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nur ausnahmsweise möglich; ihre Fortdauer hätte daher besonders sorgfältig begründet werden müssen.
Indes zeigt der Beschluss keine besonderen – objektiven – Umstände auf, welche die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft ausnahmsweise verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen könnten. Er wird damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung von Haftfortdauerentscheidungen nicht gerecht.
(a) Die Ausführungen des Oberlandesgerichts, die auf Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes abstellen, die zudem bereits im Jahre 2012 in Kraft getreten sind, lassen von vornherein keinen spezifischen Zusammenhang zu der zu treffenden Haftfortdauerentscheidung erkennen. Eine Änderung der allgemeinen Vorschriften über die Besetzung der großen Strafkammern in § 76 GVG stellt keine Besonderheit eines konkreten Strafverfahrens dar, erst recht keine, die dem Beschwerdeführer zuzurechnen wäre.
(b) Soweit das Oberlandesgericht ausführt, die Fortdauer der Untersuchungshaft sei trotz ihrer langen Dauer deswegen nicht zu beanstanden, weil das Präsidium des Landgerichts München I im Rahmen seiner Möglichkeiten auf die sich zuspitzende Belastungssituation der Jugendkammer reagiert habe, stellt dies ebenfalls keinen verfassungsrechtlich tragfähigen Grund für die Haftfortdauer dar. Allenfalls kurzfristige, unvermeidbare und unvorhersehbare Belastungssituationen eines Gerichts wären im Einzelfall geeignet, eine Verzögerung in der Verfahrensförderung zu rechtfertigen. Diese Voraussetzungen lassen sich dem Beschluss des Oberlandesgerichts jedoch nicht entnehmen. Seine Ausführungen sprechen vielmehr dafür, dass sich die Überlastungssituation schon über längere Zeit aufgebaut hat. Eine solche Überlastung des Gerichts fällt in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft; sie ist dem Beschwerdeführer in keinem Fall zuzurechnen.
(c) Auch auf die Schwere der Tat kann hier für die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht abgestellt werden. Es hätte einer eingehenden Begründung bedurft, inwieweit allein die Schwere des Tatvorwurfes im vorliegenden Fall eine deutlich längere Verfahrens- und damit auch Untersuchungshaftdauer erfordert, die das Oberlandesgericht indes vermissen lässt. Dies gilt umso mehr, als es sich ersichtlich um einen insgesamt einfach gelagerten Fall handelt. Infolge des weitgehenden Geständnisses des Beschwerdeführers ist der Sachverhalt, abgesehen von Randfragen und der Feststellung seiner Schuldfähigkeit durch ein in der Hauptverhandlung zu erstattendes Sachverständigengutachten, im Wesentlichen bereits geklärt. Es ist nicht erkennbar, dass umfangreiche Beweiserhebungen zu erwarten sind; entsprechende Anträge hat der Beschwerdeführer jedenfalls bislang nicht gestellt.“
Das nennt man dann in Bayern wohl eine „Watschn“, natürlich auch gegen die Kammer und gegen das OLG. Dass man etwas „sachfremd“ begründet habe, liest man als Richter nicht gern, und schon gar nicht in einer Entscheidung des BVerfG. Eine viel größere „Watschn“ ist der Beschluss aber mal wieder für die Politik, die der Justiz einfach nicht die zur Bewältigung ihrer Aufgaben erforderlichen Sachmittel zur Verfügung stellt. Wenn die Sache dann aber beim BVerfG angekommen ist, kneift man! Denn der Beschluss führt aus:
„Das Bayerische Staatsministerium für Justiz hat von einer Stellungnahme abgesehen.“
Peinlich und feige, LG und OLG dann alleine zu lassen. Da lobe ich mir doch den GBA. Der hatte die Zeichen der Zeit erkannt. Denn:
„Der Generalbundesanwalt vertritt in seiner Stellungnahme die Auffassung, der Verfassungsbeschwerde könne der Erfolg nicht versagt werden. Es fehle an einer tragfähigen Begründung für die Fortdauer der Untersuchungshaft.“
Das OLG dann allerdings auch. Denn nach den Berichten in der Tagespresse ist der Angeklagte frei gelassen worden. Das wollte man sich dann doch nicht antun. Das nämlich ggf. das BVerfG selbst den Angeklagten hätte frei lassen müssen. Denn das wäre gewesen: Schlimmer geht nimmer.