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Revision I: Revisionsvortrag nicht als „Nacherzählung“, oder: ZVR, Encro, Beweisantrag, Ladung, unfähige StA

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In meinem Blogordner haben sich einige Entscheidungen zur Revision angesammelt. Die stelle ich dann mal heute vor, also „Ecken sauber machen“.

Ich beginne mit einigen Entscheidungen zur ausreichenden Begründung der Verfahrensrüge – offenbar immer wieder schwer, nicht nur für den Verteidiger, sondern auch für die Staatsanwaltschaft. Vielleicht tröstet das ja den ein oder anderen.

Hier kommen dann – aber nur mit Leitsätzen:

Wird die Nichtannahme eines Zeugnisverweigerungsrechts nach § 52 Abs. 1 Nr. 2 StPO geltend gemacht, müssen die erforderlichen Tatsachen für dessen Annahme bestimmt behauptet werden. Dazu gehört, dass um das Revisionsgericht in den Stand zu setzen, die international-privatrechtliche Anerkennung der nach religiösen Riten geschlossenen („Imam“-)Ehe zwischen dem Angeklagten und einer Zeugin zu prüfen, ist insbesondere die Angabe erforderlich , an welchem Ort und Tag die Ehe geschlossen wurde.

Soll mit der Verfahrensrüge die Verletzung des § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO beanstandet werden, muss sich dem Revisionsvortrag entnehmen lassent (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), dass ein den Voraussetzungen des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO genügender Beweisantrag gestellt worden ist. Dazu gehört ggf. die Angabe einer ladungsfähige Anschrift eines Zeugen.

Für einen ordnungsgemäßen Revisionsvortrag reicht es nicht, die für unterschiedliche Beanstandungen möglicherweise relevanten Verfahrenstatsachen vorab im Sinne einer Nacherzählung zu referieren und sodann bei den einzelnen Verfahrensrügen durch pauschale Verweise darauf Bezug zu nehmen. Denn es ist nicht die Aufgabe des Revisionsgerichts, sich aus einem umfangreichen Konvolut von Unterlagen das für die jeweilige Rüge Passende herauszusuchen und dabei den Sachzusammenhang selbst herzustellen; stattdessen wäre es erforderlich, bezogen auf die konkrete Rüge (lediglich) den insoweit relevanten Verfahrensstoff mitzuteilen.

Im Revisionsvortrag müssen die Verfahrenstatsachen in einer Weise angegeben werden, die das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung in die Lage versetzt, darüber – unter der Voraussetzung der Erweisbarkeit – endgültig zu entscheiden. Dazu muss der Revisionsvortrag aus sich heraus so verständlich sein, dass das Revisionsgericht ohne weiteres daran anknüpfen kann. Es ist nicht Sache des Revisionsgerichts, den Revisionsvortrag aus vorgelegten Unterlagen an jeweils passender Stelle zu ergänzen.

Fazit aus dem Beschluss: Die StA kann es auch nicht.

Und dann noch

Lässt der Vortrag der Revision offen, in welcher Sprache die Ladung eines fremdsprachigen Angeklagten zum Berufungstermin erfolgt ist und ob der Angeklagte diese Sprache verstand, ist die Verfahrensrüge einer mangels Übersetzung nicht ordnungsgemäßen Ladung nicht zulässig erhoben.

StPO II: Ist/War das Urteil vollständig begründet?, oder: Berufungsverwerfung trotz Vertretungsvollmacht?

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Und dann als zweite Entscheidung ein Beschluss des OLG Köln, der zu zwei Fragen Stellung nimmt. Nämlich: Wann liegt ein vollständig begründetes Urteil vor? und: Wann darf eine Berufung trotz Erscheinens eines Verteidigers mit Vertretungsvollmacht verworfen werden?

Dazu das OLG Köln im OLG Köln, Beschl. v.26.09.2024 – III-1 ORs 162/24:

„1. Das Rechtsmittel führt bereits auf die Sachrüge zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz (§§ 353, 354 Abs. 2 StPO).

Das angefochtene Urteil hält materiell-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Denn es trägt keine richterliche Unterschrift.

Damit fehlt es bereits an der notwendigen Prüfungsgrundlage.

Gegenstand der revisionsrechtlichen Überprüfung in sachlich-rechtlicher Hinsicht sind allein die schriftlichen Entscheidungsgründe, wie sie sich aus der gemäß § 275 StPO mit der Unterschrift des Richters zu den Akten gebrachten Urteilsurkunde ergeben (vgl. SenE v. 05.03.2010 – III-1 RVs 26/10; SenE v. 28.03.2024 – III-1 ORs 51/24; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 337 Rdn. 22 m.w.N.).

Ein vollständiges schriftliches Urteil liegt erst vor, wenn sämtliche an ihm beteiligten Berufsrichter seinen Inhalt gebilligt und dies mit ihrer Unterschrift bestätigt haben (BGH StV 2010, 618; OLG Frankfurt/Main NStZ-RR 2010, 250; SenE v. 13.09.2005 – 83 Ss 47/05; SenE v. 22.02.2011 – III-1 RVs 35/11; SenE v. 27.11.2012 – III-1 RVs 215/12; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 275 Rdn. 4).

Etwas anderes ergibt sich vorliegend auch nicht aus dem Umstand, dass die Vorsitzende der Berufungsstrafkammer im Zusammenhang mit dem Urteil eine Zustellungsverfügung unterzeichnet hat. Die Unterschrift unter den Urteilsgründen als letzter Akt der Urteilsfällung kann nicht durch eine solche auf einer von dem erkennenden Richter unterzeichneten gesonderten Verfügung ersetzt werden (vgl. BGH StV 2010, 618; SenE v. 19.11.2002 – Ss 479/02 B – m.w.N.; SenE v. 13.09.2005 – 83 Ss 47/05; SenE v. 19.07.2011 – III-1 RVs 166/11 = NStZ-RR 2011, 348; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 275 Rdn. 6).

Der vorbezeichnete Mangel führt auf die Sachrüge zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung (SenE v. 11.01.2013 – III-1 RVs 1/13; SenE v. 28.10.2014 – III- RVs 199/14; SenE v. 17.10.2017 – III-1 RVs 237/17; SenE v. 11.04.2018 – III-1 RVs 76/18; SenE v. 27.07.2021 – III-1 RBs 214/21; SenE v. 01.02.2024 – III-1 ORbs 12/24; Meyer-Goßner/Schmitt, SPO, 67. Aufl., § 338 Rdn. 52 m.w.N.), wenn – wie hier – die Unterschrift nicht mehr nachgeholt werden kann (vgl. SenE v. 20.08.2010 – III-1 RVs 166/11; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. § 275 Rdn. 6 m.w.N.).“

Insoweit waren die Gründe tragend. Nicht tragend sind die Ausführungen des OLG zur Frage der Voraussetzungen der Verwerfung, wenn ein mit Vertretungsmacht ausgestatteter Verteidiger erscheint:

„Hinsichtlich der Verfahrensrüge, die Berufung hätte wegen wirksamer Vertretung durch einen mit einer schriftlichen Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger nicht verworfen werden dürfen, merkt der Senat allerdings – ungeachtet der Frage, ob diese Rüge in zulässiger Weise erhoben wurde – Folgendes an:

Ein Verwerfungsurteil nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO setzt neben der Säumnis des Angeklagten voraus, dass kein mit einer nachgewiesenen Vertretungsvollmacht ausgestatteter Verteidiger erschienen ist.

Ein solcher Verteidiger muss bereit sein, den Angeklagten aufgrund der Vollmacht zu vertreten (vgl. KG 18.4.1985 – 1 Ss 329/84 – JR 1985, 343; OLG Oldenburg StV 2018, 148; SenE v. 27.08.1991 – Ss 399/91 = StV 1992, 567; SenE v. 31.01.1992 – Ss 22/92 – 20 = StV 1993, 292; SenE v. 09.04.2013 – III-1 RVs 62/13; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 329 Rdn. 16). Zur „Vertretung“ gehört dabei in der Regel nur, dass der bevollmächtigte Verteidiger für den Angeklagten anwesend ist. Eine weitere Mitwirkung an der Verhandlung obliegt ihm ebenso wenig wie dem Angeklagten, wenn dieser selbst anwesend wäre (vgl. SenE v. 31.01.1992 – Ss 22/92 – 20 = StV 1993, 292; OLG Oldenburg StV 2018, 148). Auch der Verteidiger muss keine Erklärungen zur Sache abgeben oder Anträge stellen.

Eine Verwerfung trotz Erscheinens eines Verteidigers mit Vertretungsvollmacht kommt vor diesem Hintergrund nur unter besonderen Umständen in Betracht, etwa wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen, dass der Verteidiger es gar nicht zu einer Sachverhandlung kommen lassen will bzw. nicht gewillt ist, den Angeklagten in einer solchen zu vertreten (vgl. OLG Hamm StV 2018, 150 m.w.N.; OLG Oldenburg StV 2018, 148; SenE v. 27.08.1991 – Ss 399/91 = StV 1992, 567; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 329 Rdn. 4 u. 16; vgl. amtl. Begründung zum Gesetzentwurf, BT-Drs. 18/3562, S. 69).

Der Rechtsansicht des Landgerichts, auch der Verteidiger vertrete nicht, der geltend mache, nicht über ausreichende Informationen zu verfügen, vermöchte der Senat hingegen nicht zu folgen. Sie wird auf eine Kommentarstelle gestützt, die ihrerseits ausschließlich auf Rechtsprechung vor Inkrafttreten der Neufassung des § 329 StPO verweist (MüKo-StPO-Quentin, 2. Aufl. 2024, § 329 Rdn. 27 m. w. N. in Fn. 72). Indessen ist – wie dargelegt – auch der mit Vertretungsvollmacht ausgestattete Verteidiger zu Angaben nicht verpflichtet. Die Erklärung des Verteidigers, ihm fehlten Informationen, erlangt daher vor allem im Hinblick auf § 349 Abs. 4 StPO Bedeutung: Nach dieser Vorschrift hat das Gericht den Angeklagten zur Fortsetzung der Hauptverhandlung zu laden und dessen persönliches Erscheinen anzuordnen, wenn es die Anwesenheit des Angeklagten in der auf seine Berufung hin durchgeführten Hauptverhandlung trotz der Vertretung durch einen Verteidiger für erforderlich hält. Je weniger Informationen aber dem mit Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger vorliegen, desto eher wird sich für das Gericht die Frage stellen, ob nicht die Anberaumung eines Fortsetzungstermins unter Anordnung des persönlichen Erscheinens des Angeklagten erforderlich ist.

Aus dem bloßen Umstand, dass sich ein Verteidiger für eine Aussetzung der Hauptverhandlung bzw. für die Anberaumung eines Fortsetzungstermins im Sinne von § 329 Abs. 4 StPO ausspricht, kann nicht hergeleitet werden, dass dieser nicht bereit wäre, im Falle der Ablehnung seines Begehrens den Angeklagten in der Sachverhandlung zu vertreten (vgl. SenE v. 27.08.1991 – Ss 399/91 = StV 1992, 567). „

StPO III: Verfahrensrüge nach Berufungsverwerfung, oder: Corona-Selbsttest genügt ggf. nicht

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Und zum Schluss des Tages dann noch etwas aus Bayern, und zwar den BayObLG, Beschl. v. 04.06.2024 – 203 StRR 212/24.

Das LG hat die Berufung des vom AG wegen Betruges in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilten Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO nach der Einholung einer ärztlichen Stellungnahme verworfen, weil er unentschuldigt trotz ordnungsgemäßer Ladung in dem Termin zur Hauptverhandlung am 12.12.2023 ausgeblieben war. Eine vom Verteidiger am Vormittag des Terminstages vorgelegte ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 11.12.2023, die auf fernmündlichen Angaben des Angeklagten beruhe und eine Mandelentzündung bescheinige, die schriftliche Mitteilung des Angeklagten vom 11.12.2023, wonach er an „39.8 Fieber Husten Gliederschmerzen Kopfschmerzen“ leide und corona positiv im Bett läge und ein vom Angeklagten stammendes Lichtbild, das zwei Covid-19-Testbehälter sowie Teststreifen mit jeweils zwei Strichen, den handschriftlich aufgebrachten Namen des Angeklagten und das Datum „11.12.2023“ zeigen würde, könnten den Angeklagten nicht entschuldigen, nachdem ein Telefonat des Vorsitzenden mit dem ausstellenden Arzt ergeben hätte, dass sich der Angeklagte lediglich telefonisch krank gemeldet und gegenüber dem Arzt von einer Coronaerkrankung nichts erwähnt hätte. Nach der Beurteilung des Arztes wäre es dem Angeklagten ausgehend von den geschilderten Symptomen aus medizinischer Sicht möglich gewesen, zum Termin anzureisen und an der Verhandlung teilzunehmen.

Dagegen die Revision des Angeklagten, die keinen Erfolg hatte. Da wir mit den Fragen immer wieder zu tun haben, stelle ich nur die Leitsätte vor; die Einzelheiten dann bitte in dem wie immer umfangreich begründeten Beschluss selbst nachlesen:

1. Will die Revision mit ihrer Rüge einer Verletzung von § 329 Abs. 1 StPO im Falle einer Erkrankung des Angeklagten eine unrichtige Beurteilung der Entschuldigung geltend machen, hat sie die Tatsachen darzulegen, aus denen sich ergeben soll, dass dem Angeklagten das Erscheinen unmöglich oder unzumutbar war und das Berufungsgericht von diesem Entschuldigungsgrund Kenntnis hatte. In der Revision genügt allein die Mitteilung einer ärztlichen Bescheinigung einer Arbeitsunfähigkeit ohne belastbare Aussagen zum Krankheitszustand diesen Anforderungen nicht.

2. Der Vortrag der Revision, es sei nicht ausgeschlossen, dass die Ergebnisse von Corona-Selbsttests vom Angeklagten herrührten, genügt nicht, um eine Verletzung von § 329 Abs. 1 StPO nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO hinreichend bestimmt zu behaupten. Die Revision muss Verfahrensverstöße als Tatsachen, nicht als bloße Möglichkeiten darstellen.

Na ja, hätte man m.E. auch anders sehen können. Mit Corona in die HV? Ich weiß nicht.

Rechtsmittel I: Ausbleiben in der Berufungs-HV, oder: Allein OP-Termin keine ausreichende Entschuldigung

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Heute gibt es dann hier drei Entscheidungen „aus der Instanz“ zu Rechtsmittelfragen.

Ich beginne mit dem KG, Beschl. v. 20.02.2024 – 2 ORs 3/24 – zur Verwerfung der Berufung des unentschuldigt ausgebliebenen Angeklagten. Das LG hat die Berufung des Angeklagten am 15.09.2023 nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verworfen. Ausweislich der Urteilsgründe hatte der Angeklagte mit Schreiben vom 31.08.2023 an die Strafkammer mitgeteilt, dass er am Hauptverhandlungstag einen Operationstermin in der Schweiz habe, und um Terminverlegung gebeten. Mit gerichtlichem Schreiben vom 11.09.2023 hatte der Vorsitzende der Berufungsstrafkammer den Angeklagten darauf hingewiesen, dass eine Verlegung nicht in Betracht komme, da nicht dargelegt sei, wann der Termin für die Operation festgelegt worden und ob diese unaufschiebbar sei.

Die Revision des Angeklagten hatte keinen Erfolg:

„b) Die Verfahrensrüge ist aber unbegründet. Der Sachverhalt berechtigte das Landgericht zu der Annahme, der Angeklagte sei unentschuldigt nicht erschienen.

(1) Das Ausbleiben eines Angeklagten in der gerichtlichen Hauptverhandlung ist dann genügend entschuldigt, wenn ihm unter Abwägung aller Umstände des Falles wegen seines Ausbleibens billigerweise kein Vorwurf zu machen ist (vgl. KG, Beschlüsse vom 17. Juni 2021 – [1] 121 Ss 29/21 [13/21] und vom 5. Oktober 2016 – [4] 121 Ss 156/16 [193/16] – mwN). Entscheidend ist dabei nicht, ob der Angeklagte sich genügend entschuldigt hat, sondern ob er genügend entschuldigt ist, wobei eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten geboten ist (vgl. KG, Beschluss vom 4. Juni 2015 – 3 Ws [B] 264/15 – mwN). Ein Krankenhausaufenthalt ist in der Regel kein Entschuldigungsgrund, wenn er aufschiebbar ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 25. Februar 2013 – III-5 Ws 74/13 –; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 329 Rn. 26 mwN). Das gleiche gilt, wenn der Angeklagte eine medizinische Behandlung vornehmen lässt, die sein Erscheinen in der Hauptverhandlung hindert, ohne dass dieser Zeitpunkt der Behandlung medizinisch indiziert gewesen wäre (vgl. KG, Beschlüsse vom 17. Juni 2021 aaO und vom 16. September 2020 – [3] 121 Ss 123/20 [56/20] –). So war es nach den Feststellungen des Landgerichts hier. Der Angeklagte hatte in Kenntnis der ihm am 3. Juli 2023 zugestellten Ladung keine Maßnahmen unternommen, eine Verschiebung seines Operationstermins zu erreichen. Erst mit Schreiben vom 31. August 2023, mithin rund zwei Monate nach Kenntniserlangung vom Termin der Berufungshauptverhandlung, wandte er sich an das Landgericht mit dem Antrag auf Verlegung des Termins.

Weitere Nachforschungen zur Behandlung des Angeklagten musste die Kammer nicht anstellen. Die Nachforschungspflicht des Berufungsgerichts ist nicht grenzenlos, sondern setzt einen schlüssigen Sachvortrag voraus, der geeignet ist, den Angeklagten zu entschuldigen (vgl. KG, Beschluss vom 3. September 2020 – [1] 161 Ss 88/20 [27/20] –). Daran fehlt es hier. Insbesondere hat der Angeklagte nicht vorgetragen, dass seine Operation unaufschiebbar gewesen wäre, so dass die Kammer den Sachverhalt diesbezüglich nicht aufklären musste. Die Unaufschiebbarkeit folgt bei einer Operation an der Hüfte auch nicht zwingend aus der Art der Operation.

(2) Mit dem erst im Rahmen der Revision geltend gemachten Vortrag, der Angeklagte habe erst am 21. September 2023 davon erfahren, dass eine Verlegung des Termins nicht erfolgt sei, sowie dass mehrere aufeinander abgestimmte Operationen – darunter eine „akut notwendige“ Operation am Zeh – angesetzt gewesen seien, so dass eine Verlegung nicht in Betracht gekommen sei, kann der Angeklagte nicht gehört werden. Ob dieser Vortrag zu der Annahme einer genügenden Entschuldigung geführt hätte, kann dahinstehen. Denn das Berufungsgericht kann naturgemäß bei seiner angefochtenen Entscheidung nur solche Tatsachen berücksichtigen, die ihm bekannt geworden sind. Das Revisionsgericht ist an die insoweit festgestellten Tatsachen gebunden und kann sie nicht ergänzen oder gar im Wege des Freibeweises korrigieren (vgl. BGHSt aaO; KG, Beschluss vom 26. Mai 2000 – [5] 1 Ss 121/00 [27/00] – mwN). Denn der Prüfung des Revisionsgerichts unterliegt nur die Frage, ob das Berufungsgericht in der Anwendung von § 329 Abs. 1 StPO fehlerhaft gehandelt hat, insbesondere ob es den Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung verkannt hat oder nicht. Entschuldigungsgründe, die das Gericht nicht gekannt hat und die es unter Ausschöpfung seiner Aufklärungspflicht auch nicht kennen musste, können im Revisionsverfahren keine Berücksichtigung finden (vgl. OLG München, Beschluss vom 10. Oktober 2006 – 4St RR 193/06 –). Ein (rechtzeitiger) schlüssiger Sachvortrag des Angeklagten, der Anlass zu weiteren Nachforschungen der Kammer hätte sein können, ist nicht ersichtlich.“

Na ja. Das kann man auch anders sehen und hätte es ggf. auch anders sehen müssen. Ich räume allerdings ein, dass der Vortrag des Angeklagten „dünn“ war. Aber: Warum schreibt der Vorsitzende erst am 11.09.2023 – also gerade mal vier Tage vor der Berufungs-HV. Und was heißt „unaufschiebbar“? Das KG hat es sich hier m.E. ein wenig leicht gemacht, wenn es sich letztlich auf den Satz zurückzieht: Ein Gerichtstermin hat Vorrang vor allem…..

Berufung I: Unpünktliches Erscheinen in Berufungs-HV, oder: Verspätungsmitteilung in der „Wartezeit“

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In die 19. KW starte ich dann heute mit zwei Entscheidungen das BayObLG aus dem Berufungsverfahren, also StPO.

Zunächst hier der BayObLG, Beschl. v. 11.01.2024 – 203 StRR 3/24 – zum Klassiker Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 StPO – hier Verwerfung trotz Mitteilung der Verspätung innerhalb der sog. Wartezeit.

Das BayObLG hat die Verwerfungsentscheidung des LG aufgehoben, der Sachverhakt ergibt sich aus dem Beschluss:

„Die Revision ist zulässig und begründet. Sie dringt mit der zulässig erhobenen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) Verfahrensrüge durch, das Landgericht Nürnberg-Fürth habe die Voraussetzungen für die Verwerfung der Berufung gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO zu Unrecht angenommen.

1. Ist bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins weder der Angeklagte noch ein Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt, so hat das Gericht nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen. Die Möglichkeit der Verwerfung der Berufung ohne Verhandlung zur Sache beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Beschwerdeführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Berufung dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Es ist allerdings nicht der Sinn der Vorschrift, bloße Nachlässigkeit zu bestrafen, die einem zur Mitwirkung am Verfahren bereiten Angeklagten bei der Erfüllung seiner Pflicht zum pünktlichen Erscheinen unterlaufen ist (st. Rspr., vgl. bereits BayObLG, Beschluss vom 15. Juli 1988 – RReg 1 St 90/88 –, juris Rn. 5 und 8).

2. Daraus folgt, dass das Berufungsgericht nicht schon dann, wenn der Angeklagte ohne ausreichende Entschuldigung nicht pünktlich erscheint, die Berufung ohne weiteres sofort verwerfen darf. Vielmehr ist der Tatrichter nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens und der hieraus abzuleitenden Fürsorgepflicht gehalten, regelmäßig mindestens 15 Minuten zuzuwarten, bevor er die Berufung wegen Ausbleibens des Angeklagten verwirft (st. Rspr., vgl. MüKoStPO/Quentin, 2. Aufl. 2024, StPO § 329 Rn. 22; Paul in KK-StPO, 9. Aufl., § 329 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 329 Rn. 2, 13; OLG Nürnberg, Beschluss vom 20. Oktober 2009 – 1 St OLG Ss 160/09, BeckRS 2010,2715; BayObLG a.a.O.). Unter besonderen Umständen hat er jedoch auch über 15 Minuten hinaus zu warten (MüKoStPO/Quentin a.a.O. Rn. 22; Paul a.a.O. Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. Rn. 13; BeckOK StPO/Eschelbach, 49. Ed. 1.10.2023, StPO § 329 Rn. 17; BayObLG a.a.O.). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn dem Gericht innerhalb der regelmäßigen Wartezeit mitgeteilt wird, dass sich der Angeklagte verspäten, aber noch innerhalb angemessener Zeit erscheinen werde (st. Rspr., vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 15. November 2021 – 1 Ws 425/21 –, juris; OLG Zweibrücken Beschluss vom 24. Oktober 2016 – 1 Ss 74/16, BeckRS 2016, 21235; KG Berlin, Beschluss vom 30. April 2013 – (4) 161 Ss 89/13 (86/13) –, juris Rn. 4; OLG Jena Beschluss vom 18. September 2012 – 1 Ss 71/12, BeckRS 2013, 14470; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 7. März 2011 – (1) 53 Ss 19/11 (5/11) –, juris; OLG München, Beschluss vom 5. Juli 2007 – 4St RR 122/07 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 16. Mai 1997 – 2 Ws 165/97 –, juris; BayObLG a.a.O.). Wie lange die Fürsorgepflicht ein Zuwarten gebietet, lässt sich nicht abstrakt, sondern nur im Einzelfall unter Berücksichtigung der dem Tatrichter zugänglichen Informationen bestimmen.

3. Im vorliegenden Fall hat die Verteidigerin laut der Niederschrift der auf 10.30 Uhr anberaumten Hauptverhandlung gegen 10.40 Uhr, also noch innerhalb der regelmäßigen Wartepflicht, nach telefonischer Rücksprache mit dem Angeklagten mitgeteilt, dass sich der Angeklagte in spätestens 10 Minuten bei Gericht einfinden würde. Gegen 10.52 Uhr hat die Verteidigerin nach erneuter telefonischer Kontaktaufnahme mit dem Angeklagten mitgeteilt, dass sich dieser jetzt an der Maximilianstraße – und damit in unmittelbarer Gerichtsnähe – befände. Gleichwohl hat die Strafkammer um 11.00 Uhr festgestellt, dass der Angeklagte unentschuldigt nicht erschienen sei und sodann das Verwerfungsurteil verkündet. Der Angeklagte ist nach dem Protokoll um 11.01 Uhr erschienen. Nach dem Vortrag der Revision war die Verkündung des Urteils zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen.

4. Angesichts dessen hat die Strafkammer ungeachtet eines den Angeklagten an der Verspätung treffenden Verschuldens die Grundsätze des fairen Verfahrens und insbesondere die richterliche Fürsorgepflicht verletzt. Nach den Auskünften der Verteidigerin war hinreichend verlässlich zu erwarten, dass der Angeklagte innerhalb kurzer Zeit im Verhandlungssaal erscheinen werde. Besondere Gründe, die ein weiteres Zuwarten hier nicht mehr gerechtfertigt hätten, hat die Strafkammer im Urteil nicht festgestellt….“