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Lebensakte: Gibt es nicht, brauchst du nicht, kriegst du nicht, oder: Das „despektierliche“ OLG Frankfurt

© Alex White - Fotolia.com

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Da ich ab Samstag in Urlaub bin, will ich vorher noch die ein oder andere unerfreuliche Entscheidung abarbeiten. Damit will ich nämlich weder als letztes noch gleich nach dem Urlaub kommen. Und zu der Gruppe gehört der OLG Frankfurt, Beschl. v. 26.8.2016 – 2 Ss OWi 589/16 -, der mal wieder das leidige Thema der (Akten)Einsicht in Messunterlagen und die Lebensakte zum Gegenstand hat. Ich erspare mir Zitate aus dem Beschluss, sondern stelle nur die Leitsätze vor, die lauten:

1. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Erstellung einer Lebensakte eines Messgeräts gibt es nicht. § 31 MessEG dient nur der Marktüberwachung durch die Eichämter und nicht geeichte Geräte. Zum notwendigen Vortrag eines auf ihre Beziehung oder Akteneinsicht gerichteten Beweisantrags gehört deshalb das Wissen um die Existenz einer Lebensakte, wo sie sich befinden soll und was sich in ihr befinden soll.

2. Der Betroffene hat keinen Anspruch auf Beiziehung der „kompletten Messreihe“. Es gibt dafür derzeit weder einen rechtlichen, noch einen sachlichen Grund, dass in die Rechte unbeteiligter Dritter eingegriffen werden darf.

Wie gesagt unerfreulich, das OLG Frankfurt mauert genauso wie das OLG Bamberg und bleibt eine Antwort auf die Frage schuldig, wie denn nun eigentlich der Betroffene zur Messung konkrete Messfehler vortragen soll – was die OLG ja verlangen – wenn er die Messung nicht kennt und auch nicht überprüfen kann.

Zwei Punkte will ich aber noch kurz ansprechen:

Die Argumentation des OLG zur Lebensakte ist – wie der Kollege Deutscher im VRR ausführt – „schlankweg unzutreffend“. M.E. zu Recht, denn der am 01.01.2015 in Kraft getretene § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG normiert für den Verwender eines Messgeräts unmissverständlich die Pflicht sicherzustellen, dass Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen oder sonstige Eingriffe am Messgerät, einschließlich solcher durch elektronisch vorgenommene Maßnahmen, über einen bestimmten Zeitraum aufbewahrt werden. Und so hat es ja auch wohl bereits das OLG Jena gesehen (vgl. OLG Jena, Beschl. v. 01.03.2016 – 2 OLG 101 Ss Rs 131/15 und dazu: Akteneinsicht a la OLG Jena, oder: Burhoff und sein „Teufelskreis“)

Und der zweite Punkt: Das OLG formuliert:

„Der Hinweis auf Behauptungen sog. „Privatgutachter“ – wie vorliegend – sind unzureichend, wenn sie keine Tatsachen enthalten und sich in unspezifische Bedenken und abstrakten Mutmaßungen erschöpfen. Entgegen der auch vorliegend erhobenen Behauptungen, sind diese sog. „Privatgutachter“ keine Sachverständigen i.S. der StPO. Ihre Erklärungen sind, da sie weder Beteiligte des Prozesses sind, noch in aller Regel als Zeugen in Betracht kommen, grundsätzlich ohne Relevanz, wenn sie sich der Betroffene nicht zu eigen macht.“

Mich stört der Begriff „Privatgutachter“ und der dann auch noch in Anführungszeichen. Was soll das? Man hat den Eindruck, dass das OLG den eingeschalteten Sachverständigen „Gefälligkeitsgutachten“ unterstellen will, Es handelt sich bei den beauftragten meist auch um vereidigte Sachverständige. Diese herabsetztende Formulierung liegt m.E. völlig neben der Sache. Der Kollege Deutscher meint: „Despektierlich“

Nochmals: Grausame Akteneinsicht, oder: Doppelschlag aus Bamberg

© J.J.Brown - Fotolia.com

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Ich habe ja schon mehrfach über die Probleme mit der (Akten)Einsicht in Rohmessdaten, Falldaten usw. vor allem in Bayern berichtet (vgl. u.a.den AG Nördlingen, Beschl. v. 08.09.2016 – 4 OWi 99/16AG Nördlingen: Grausame Akteneinsicht, aber: Schönen Gruß vom Marketing). Gestützt wird die allmählich teilweise unüberwindbare Mauer durch das OLG Bamberg, dass die Praxis einiger AG, möglichst überhaupt keine Unterlagen pp. herauszugeben, vom OLG Bamberg in seiner Rechtsprechung. Über die beiden dafür maßgeblichen Beschlüsse habe ich ja auch schon berichtet (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 04.04.2016 – 3 Ss OWi 1444/15 und dazu „Logik ist Ansichtssache“, oder: Zirkelschluss beim OLG Bamberg zur Einsichtnahme in die Messdatei bei ESO 3.0 und vom OLG Bamberg, Beschl. v. 05.09.2016 – 3 Ss OWi 1050/16 und dazu: Zement aus Bamberg, oder: Mia san mia).

Im Nachgang zu meinem Posting betreffend AG Nördlingen hat mich das Schreiben des Kollegen Grüne aus Würzburg erreicht, das ich hier – mit den mitübersandten Unterlagen – einstellen darf. Es zeigt m.E. sehr schön, zu welchen „Auswüchsen“ diese Rechtsprechung/Vorgehensweise führt. Der Kollege schreibt:

Sehr geehrter Herr Kollege Burhoff,

zum Thema der (Nicht-)Herausgabe der Messdaten bei PoliscanSpeed und Co. hier vielleicht noch die Auswirkungen der Beschlüsse des OLG Bamberg:

In dem Fall ging es um eine Geschwindigkeitsmessung mit PoliscanSpeed, bei der auf dem Messfoto zwei nebeneinander fahrende Fahrzeuge abgebildet sind, wobei anzumerken ist, dass sich das zweite Fahrzeug nicht im Auswerterahmen befand.

Die Messdaten wurden beim Polizeiverwaltungsamt durch einen beauftragten Sachverständigen angefordert, die Herausgabe auf bekannte Art verweigert. Als das Verfahren sodann beim Amtsgericht Würzburg anhängig war, wurde dieses Verhalten gerügt, wobei der Vorsitzende die Herausgabe anordnete. Die Wochen gingen ins Land, es passierte – nichts. Eine telefonische Nachfrage ergab, dass die Anordnung des Gerichts nie beim Polizeiverwaltungsamt angekommen sein soll. Dies wurde dann dem Vorsitzenden mitgeteilt, worauf dieser versicherte, die Verfügung diesmal zustellen zu lassen. 1-2 Tage später rief er dann nochmals in der Kanzlei an und teilte mit Bezug auf den Beschluss des OLG Bamberg mit, dass ja ohnehin keine Messdaten mehr herausgegeben werden müssen und er den festgesetzten Termin durchführen werde. Die im Termin gestellten Beweisanträge wurden allesamt abgelehnt, die Betroffene verurteilt.

Dann kommt das OLG Bamberg bzw. die Generalstaatsanwaltschaft mit beigefügter Stellungnahme und beigefügtem Beschluss ins Spiel.

Gerügt wird selbstverständlich auch die Zulässigkeit der Verfahrensrüge, da ja logischerweise keine konkreten Messfehler aufgezeigt werden konnten, also nicht dargelegt werden konnte, welche Tatsachen sich aus welchen genau bezeichneten Stellen der Messunterlagen ergeben hätten und welche Konsequenzen für die Verteidigung daraus gefolgt wären. Die Darlegung der zwei nebeneinander fahrenden Fahrzeuge und die in der Hauptverhandlung durch den Messbeamten eingeräumte Tatsache, dass nicht einmal der Seitenabstand des gemessenen Fahrzeugs aus der Messdatei ausgelesen wurde, um ggf. zwischen den Fahrzeugen unterscheiden zu können, waren offensichtlich nicht ausreichend.

Auch das weitere „um Einsicht bemühen“ wirkt als blanker Hohn, wenn die Behörde bereits im Verwaltungsverfahren die Herausgabe verweigert hat und das Gericht vor und in der Hauptverhandlung – dokumentiert durch das Urteil – eine Herausgabe ebenfalls verweigert.

Dies alles zeigt den von Ihnen bereits beschriebenen Zirkelschluss recht deutlich, auch wenn dies vom OLG Bamberg ohne nähere Begründung negiert wird. Faktisch bestehen damit keinerlei Kontrollmöglichkeiten mehr bei Geschwindigkeitsmessungen im Bayern, selbst wenn der Betroffene im Rahmen seiner Möglichkeiten Anhaltspunkte für eine Fehlmessung aufzeigen kann. Da ich wie Sie nicht davon ausgehe, dass das OLG Bamberg in näherer Zukunft das Thema dem BGH vorlegen wird bin ich nunmehr recht ratlos, was bei Geschwindigkeitsübertretungen überhaupt noch „verteidigt“ werden kann. Einzig die – vom Rechtsschutz nicht gedeckte – Verfassungsbeschwerde fällt mir noch ein, mit ungewissem Ausgang. Haben Sie evtl. noch weitere Ideen, wie man die hier in Zukunft anzunehmende Standardvorgehensweise angreifen kann?

Die Stellungnahme der GStA und der OLG Bamberg, Beschl. v. 26.09.2016 – 3 Ss OWi 1158/16 – sind dann mal beigefügt. Das Ergebnis überrascht nicht: Keine Verletzung des rechtlichen Gehörs mit der lapidaren Begründung – jetzt mit einem „Doppelschlag“:

„Es kann dahinstehen, ob die Rüge der Nichtherausgabe der Messdateien zulässig erhoben ist i.S.d. §§ 80 Abs. 3 Satz 1, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Jedenfalls wird durch die Nichtüberlassung der Rohmessdaten, die sich nicht bei den Akten befinden, der Anspruch eines Betroffenen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) von vornherein nicht berührt (OLG Bamberg Beschlüsse vom 04.04.2016 – 3 Ss OWI 1444/15 = DAR 2016, 337 und vom 05.09.2016 – 3 Ss OWi 1050/16 [zur Veröffentlichung bei juris vorgesehen]).“

Das OLG hätte auch schreiben können: „Wir wollen nicht. Da könnt ihr Verteidiger machen, was ihr wollt. Standardisiert ist standardisiert und bleibt es“.

AG Nördlingen: Grausame Akteneinsicht, aber: Schönen Gruß vom Marketing.

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Der Kollege Gratz vom VerkehrsrechtsBlog hat ja vor einigen Tagen schon über den AG Nördlingen, Beschl. v. 08.09.2016 – 4 OWi 99/16 – berichtet. Von ihm habe ich den grausamen Beschluss erhalten und stelle ihn hier heute auch vor. Als ich den Beschluss gelesen habe, habe ich nur gedacht: Das sind dann die Auswüchse vom OLG Bamberg, Beschl. v. 04.04.2016 – 3 Ss OWi 1444/15 (dazu „Logik ist Ansichtssache“, oder: Zirkelschluss beim OLG Bamberg zur Einsichtnahme in die Messdatei bei ESO 3.0) und vom OLG Bamberg, Beschl. v. 05.09.2016 – 3 Ss OWi 1050/16 (dazu: Zement aus Bamberg, oder: Mia san mia).  Man kann sagen: Die Saat ist aufgegangen, oder, wenn das die Absicht des OLG Bamberg war: Es ist vollbracht.

Und das AG Nördlingen geht sogar noch weiter als das OLG Bamberg – ist ja auch umgefährlich, wenn man dessen Rechtsprechung sieht. Der Verteidiger hatte „Akteneinsicht in Eichschein, Lehrgangsbescheinigung, Lebensakte und Überlassung von Rohmessdaten bezüglich der erfolgten Messung“ beantragt. Das AG Nördlingen verweigert ALLES. Begründung: Haben wir nicht und brauchen wir, vor allem du nicht. Und wenn wir es nicht haben, wollen wir es auch nicht haben/beiziehen, denn wir/du brauchst es nicht. Wie der Verteidiger allerdings „Zweifel an der Ordnungsgemäßheit“ der Messung vortragen soll, das sagt ihm das AG nicht. Und wie er „konkrete Bedenken“ vortragen/geltend machen soll, wenn er die Messung, um die es geht, gar nicht kennt und auch gar nicht überprüfen kann, erfährt er auch nicht.

Der Gipfel der Entscheidung, die sich natürlich nicht mit anderer abweichender Rechtsprechung auseinander setzt – mia san eben mia -,  ist dann ihr letzter Absatz:

„Soweit ein Anspruch auf Einsicht in die Lebensakte und die Bedienungsanleitung teilweise aus den Grundsätzen des fairen Verfahrens und der effektiven Verteidigung hergeleitet wird, überzeugt dies nicht. Denn zum einen gibt es inzwischen Handbücher speziell für die Verteidigung bei Ordnungswidrigkeiten, welche auf den Bedienungsanleitungen basieren und die rechtlich und technisch relevanten Fragen darstellen. Diese bieten dem Betroffenen die Möglichkeit, sich mit Messergebnissen und Zeugenaussagen kritisch auseinanderzusetzen.“

Ah, der Verteidiger soll also „Handbücher speziell für die Verteidigung bei Ordnungswidrigkeiten“ kaufen und hat dann „die Möglichkeit, sich mit Messergebnissen und Zeugenaussagen kritisch auseinanderzusetzen.“ Wie soll das gehen, wenn ich die Messung gar nicht kenne. Soll der Verteidiger im stillen Kämmerlein sitzen, Handbücher lesen, dann Einwände (welche ?) vortragen, um sich dann von den Gerichten bescheinigen zu lassen, dass das alles ja nicht konkret sei, sondern es sich um die Behauptung von Fehlern ins Blaue hinein handele? Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man lachen.

Nun, aber: Ich will den Beschluss des AG nicht völlig verreißen. „Handbücher speziell für die Verteidigung bei Ordnungswidrigkeiten“ lese ich als Herausgeber von zwei solcher Handbücher natürlich gerne, nämlich unser „Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren“ und „Messungen im Straßenverkehr„, beide jetzt (bald) in 4. Aufl. Die sollen – bzw. werden hoffentlich – von Verteidigern nun noch besser gekauft als schon in der Vergangenheit, um sich mit Messverfahren auseinandersetzen zu können. Insofern: Lieben Dank an das AG Nördlingen und schönen Gruß von der Marketing-Abteilung des ZAP-Verlages. Wir hätten es kaum besser gekonnt. Und nur zu Klarstellung: Ich habe bei der Marketing-Abteilung nachgefragt. Dort ist niemand mit einem Richter/einer Richterin am AG Nördlingen verwandt oder verschwägert 🙂 .

Akteneinsicht a la OLG Jena, oder: Burhoff und sein „Teufelskreis“

© Avanti/Ralf Poller - Fotolia.com

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Ja, richtig gelesen: „Burhoff und „sein Teufelskreis“. Und, nein, keine Sorge, es geht nicht um einen Teufelskreis, in dem ich hier ggf. bei einem meiner vielen Projekte stecke. Sondern es geht um den OLG Jena, Beschl. v. 01.03.2016 – 2 OLG 101 Ss Rs 131/15, über den ja schon der Kollege Gratz vom Verkehrsrechts-Blog berichtet hat. Ich lege dann mal nach, schon weil das OLG eine Formulierung von mir aus einer Anmerkung zum OLG Frankfurt, Beschl. v. 12.04.2013 – 2 Ss-OWi 173/13 (vgl. dazu Akteneinsicht a la OLG Frankfurt – der Beschluss macht ärgerlich, zumindest mich) , die im StRR bzw. auch im VRR erschienen ist, aufgreift. Das freut den Autor natürlich, denn (etwas) eitel sind wir ja alle.

In der Sache geht es (mal wieder) um eine „Akteneinsichtsproblematik“ bzw. eine „Beiziehunsgproblematik“. Die Verteidigerin des Betroffen hatte Akteneinsicht beantragt „und, sofern diese Unterlagen nicht bereits Bestandteil der Akte sein sollten, folgende Unterlagen unverzüglich beizuziehen und der Verteidigerin sodann Akteneinsicht zu gewähren: Beschilderungsplan, Eichschein, Kalibrierungsfoto, Messprotokoll, Schulungsnachweis des Mess-/Auswertepersonals, Videosequenz, Originalmessfoto in Hochglanz, gesamte Bildstrecke, Dokumentation Fotolinie, Gebrauchsanleitung des Messgerätes, Lebensakte des Messgerätes, Registerauszug.“ Übersandt worden ist ihr eine Kopie der Bußgeldakte. Zu dem weitergehenden Einsichtsgesuch teilte die Verwaltungsbehörde mit: „Entsprechend Ziffer 2.3.4.2.1 o.a. VWV Va-StVOWi gehören insbesondere Bedienungsanleitungen, Bestellungsurkunden, Lebensakten, Beschilderungspläne nicht zur Verfahrensakte. Es steht ihnen frei, im gerichtlichen Verfahren im Rahmen eines Beweisantrages die Erstellung und Vorlage dieser Unterlagen zu verlangen. Es wird darum gebeten, von Gesuchen um Übersendung der genannten Unterlagen gegenüber der Zentralen Bußgeldstelle abzusehen.“ Allein damit habe ich schon meine Probleme, weil eine „VWV Va-StVOWi “ nicht bestimmen kann, was zur Akteneinsicht gehört.

Das AG hat dann einen von der Verteidigerin in der Hauptverhandlung gestellten Beweisantrag abgelehnt. Das OLG sieht darin eine Verletzung der Aufklärungspflicht und meint: Bei der Ablehnung eines solchen Beweisantrages hat das AG einen weiten Ermessensspielraum, dessen Grenzen durch die richterliche Aufklärungspflicht bestimmt werden. Nachgegangen werden muss ihm nur, wenn konkrete Anhaltspunkte aus der Akte ersichtlich sind oder vom Betroffenen vorgetragen werden, die Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Messung begründen. Die gab es nicht. Aber:

„Der vorliegende Fall weist jedoch Besonderheiten auf, die eine Ausnahme von dem oben beschriebenen Grundsatz der Erforderlichkeit konkreter Anhaltspunkte für die gerichtliche Pflicht zur weiteren Aufklärung rechtfertigen.

Die Verteidigerin des Betroffenen hatte sich bereits vorgerichtlich zweimal mittels entsprechend begründeter Anträge bei der Verwaltungsbehörde um Einsicht u.a. in die Lebensakte des Messgerätes bemüht. Diese Bemühungen blieben erfolglos. Die Verwaltungsbehörde ließ keinen Zweifel daran, dass sie weder jetzt noch später bereit sei bzw. bereit sein werde, Einblick in die das Messgerät betreffenden Unterlagen zu gewähren. Damit aber war dem Betroffenen von vornherein die Möglichkeit genommen, die an sich erforderlichen konkreten Anhaltspunkte für eine der Gültigkeit der Eichung des Messgerätes entgegenstehenden Reparatur oder einen sonstigen Eingriffs in das Messgerät aufzufinden (vgl. Burhoff, Anm. zu OLG Frankfurt, Beschluss vom 12.4.2013 – 2 Ss-OWi 137/13, StRR 6/2013, 231 mit der treffenden Bezeichnung „Teufelskreis“).

Nach Auffassung des Senats ist es dem Betroffenen nicht zum Vorwurf zu machen, dass er bzw. seine Verteidigerin gegen die ablehnenden Entscheidungen der Verwaltungsbehörde nicht Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem. § 62 OWiG durch das gem. § 68 Abs. 1 OWiG zuständige Amtsgericht gestellt hat. Auch wenn man davon ausgeht, dass es sich bei der Verweigerung der Einsichtnahme in die Lebensakte des Messgerätes um eine Verfügung i.S.d. § 62 Abs. 1 Satz 2 OWiG handelt (so etwa AG Bamberg, Beschluss vom 23.8.2013 – 2 OWi 2311 Js 9875/13, juris Rn. 4), war die Erfolgsaussicht eines solchen Antrags auf gerichtliche Entscheidung gleichwohl so ungewiss, dass es sich verbietet, dem Betroffenen allein unter Hinweis auf das Nichtgebrauchmachen von der Möglichkeit eines solchen – zudem mit einem Kostenrisiko verbunden – Antrags Nachteil im vorliegenden Bußgeldverfahren zuzufügen. Über Anträge nach § 62 OWiG entscheiden die Amtsgerichte erst- und letztinstanzlich. Aus Thüringen ist dem Senat bisher lediglich eine einzige Entscheidung eines Amtsgerichts bekannt, mit der einem Antrag eines Betroffenen auf Verpflichtung der Verwaltungsbehörde zur Einsichtgewährung in die Lebensakte des Messgerätes nach § 62 OWiG stattgegeben wurde (AG Erfurt, Beschluss vom 25.3.2010 – 64 OWi 624/10). Ob diese Entscheidung bei anderen Amtsgerichten Gefolgschaft findet, ist fraglich, weil es den Anspruch auf Einsicht in die Lebensakte ausschließlich auf § 147 StPO stützt.“

Und damit ist m.E. eine neue Runde eingeläutet. So einfach wird man Beweisanträge, wenn vor der Hauptverhandlung Akteneinsichts- bzw. Beiziehungsanträge gestellt worden sind, nicht mehr „abbügeln“ können.

Sachkundig bist du, aber nicht in allen Fällen. ADHS sollte dich zum SV-Gutachten veranlassen

Wie weit geht die Sachkunde des Gerichts? Immer wieder eine Frage, die die Praxis beschäftigt. Interessant in dem Zusammenhang die Entscheidung des OLG Koblenz v. 10.06.2010 – 2 Ss 48/10. Im Verfahren ging es um die Beurteilung des Reifegrades eines Heranwachsenden. Das LG hatte insoweit eigene Sachkunde in Anspruch genommen und die Frage selbst beurteilt.

Das OLG sagt:

  1. Ob ein Heranwachsender zum Zeitpunkt der Tatbegehung noch einem Jugendlichen gleichstand, ist im Wesentlichen Tatfrage, wobei dem Tatgericht bei der Beurteilung der Reife des Heranwachsenden grundsätzlich ein Ermessensspielraum eingeräumt wird.
  2. Der Anhörung eines Sachverständigen bedarf es jedoch dann, wenn Anlass zu Zweifeln über eine normale Reifeentwicklung des betroffenen Heranwachsenden bestehen, insbesondere Auffälligkeiten in einer sittlichen und geistigen Entwicklung.“

Auffälligkeiten hat das OLG dann bejaht. Der Angeklagte hatte in früher Jugend eine ADHS-Erkrankung, die mit Ritalin behandelt worden war.