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Verkehrsrecht I: Trunkenheitsfahrt mit dem E-Scooter, oder. Entziehung der Fahrerlaubnis

entnommen wikimedia.org – gemeinfrei

Am heutigen Dienstag stell ich hier drei verkehrsrechtliche Entscheidungen vor.

Ich starte mit dem BayObLG, Beschl. v. 24.07.2020 – 205 StRR 216/20. Es handelt sich m.E. um die erste obergerichtliche Entscheidung zur Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter.

Das AG hat den Angeklagten fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB)  zu einer Geldstrafe verurteilt, ein Fahrverbot von 3 Monaten für Kraftfahrzeuge aller Art verhängt und dem Angeklagten die Fahrerlaubnis mit einer Sperre für die Wiedererteilung vor Ablauf von 7 Monaten unter Einziehung des Führerscheins entzogen.

Grundlage waren folgende Feststellungen:

„Nach den Feststellungen des Amtsgerichts mietete der Angeklagte während der Zeit des Oktoberfestes am 3. Oktober 2019 an der S-Bahn-Haltestelle Rosenheimer Platz gegen 22.15 Uhr in München einen sog. E-Scooter mit Versicherungskennzeichen an. Er beabsichtigte, mit dem E-Scooter die Strecke bis zu seinem Hotel in etwa 300-400 m Entfernung zurückzulegen. Nachdem er eine Wegstrecke von ca. 300 m zurückgelegt hatte, wurde er auf der Hochstraße von der Polizei angehalten. Die um 22.40 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine BAK von 1,35 Promille. Das Amtsgericht sah es als erwiesen an, dass der Angeklagte seine Fahruntüchtigkeit bei kritischer Selbstprüfung habe erkennen können und müssen, und sich durch die Tat als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen habe.“

Dagegen die Sprungrevision des Angeklagten, die keinen Erfolg hatte.

Hier zunächst die Leitsätze zu der Entscheidung des BayObLG, die auf der Linie der bisher vorliegenden Rechtsprechung liegen:

  1. Gemäß der Verordnung über die Teilnahme von Elektrokleinstfahrzeugen am Straßenverkehr (eKFV) sind Elektrokleinstfahrzeuge mit elektrischem Antrieb, einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von nicht weniger als 6 km/h und nicht mehr als 20 km/h und bestimmten, in § 1 eKFV genannten zusätzlichen Merkmalen, als Kraftfahrzeuge eingestuft.

  2. Bei derartigen E-Scootern handelt es sich demnach um Kraftfahrzeuge im Sinne des § 1 Abs. 2 StVG.

  3. Für Führer derartiger E-Scooter liegt der Mindestwert für die unwiderlegliche Annahme von absoluter Fahruntüchtigkeit bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,1 ‰.

Und zur Entziehung der Fahrerlaubnis und dem verhängten Fahrverbot führt das BayObLG aus:

„Die Verhängung eines Fahrverbots von 3 Monaten als Nebenstrafe gemäß § 44 Abs. 1 StGB begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Zwar schließen sich Fahrverbot und Fahrerlaubnisentziehung regelmäßig aus, da das Fahrverbot nach § 44 StGB voraussetzt, dass sich der Täter gerade nicht als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat. Ein Fahrverbot kommt neben einer Entziehung der Fahrerlaubnis jedoch in Betracht, wenn das Gericht dem Täter das Fahren mit gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 FeV fahrerlaubnisfreien Fahrzeugen verbieten oder nach § 69a Abs. 2 StGB bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen von der Sperre ausnehmen will (BGH Beschluss vom 7. August 2018, Az: 3 StR 104/18, juris, Rn. 6). Dies war nach den Urteilsgründen ersichtlich der Fall, nachdem die Tat mit einem fahrerlaubnisfreien Fahrzeug begangen wurde. Der von der Revision für ein Absehen von der Verhängung eines Fahrverbots vorgebrachte Gesichtspunkt, dass am Wohnort des Angeklagten keine EScooter angeboten werden, vermag dagegen nicht zu überzeugen. Abgesehen davon, dass es verschiedene Arten fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge gibt, gilt das verhängte Fahrverbot auch dann, wenn sich der Angeklagte während der Laufzeit des Fahrverbots an anderen Orten aufhält.

3. Auch die Ausführungen des Amtsgerichts zur verhängten Maßregel des §§ 69, 69a StGB halten rechtlicher Überprüfung stand.

Die strafgerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis ist eine Maßregel der Besserung und Sicherung (§ 61 Nr. 5 StGB), die ihre Rechtfertigung im Sicherungsbedürfnis der Verkehrsgemeinschaft hat. Dieses ist bedingt durch die hohen Risiken, die der Straßenverkehr infolge seiner Dynamik für Leben, Gesundheit und Eigentum der Verkehrsteilnehmer mit sich bringt.

Körperlich, geistig, aber auch charakterlich ungeeignete Kraftfahrer verstärken diese Risiken. Dem soll durch den ? zumindest zeitigen ? Ausschluss des Betreffenden von der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr entgegengewirkt werden (BGH Großer Senat für Strafsachen Beschluss vom 27. April 2005 Az: GSSt 2/04, juris, Rn. 19). Gem. § 69 Abs.1 Satz1 StGB ist daher einem Täter die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn er wegen einer rechtswidrigen Tat verurteilt worden ist, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, und sich aus der Tat ergibt, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist.

a) Auch im Rahmen des § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB ist für den Begriff „Kraftfahrzeug“ die verkehrsrechtliche Legaldefinition des § 1 Abs. 2 StVG maßgeblich. Demzufolge sind Kraftfahrzeuge im Sinne von § 69 StGB alle mit Maschinenkraft angetriebenen, nicht an Bahngleise gebundenen Landfahrzeuge. Unerheblich ist, ob es für das Führen des Kraftfahrzeuges nach § 4 Abs. 1 FeV einer Fahrerlaubnis bedarf (Valerius in LK StGB 13. Aufl. § 69 Rn. 49). Eine vom Gesetzgeber bewusst vorgenommene Ausnahmeregelung besteht gemäß des im Rahmen des § 69 StGB ebenfalls zu beachtenden § 1 Abs. 3 Satz 1 StVG (vgl. Valerius a.a.O. § 69 Rn. 47) für sog. Pedelecs, die mit einem elektromotorischen Hilfsantrieb mit einer Nenndauerleistung von höchstens 0,25 kW ausgestattet sind, deren Unterstützung sich mit zunehmender Fahrzeuggeschwindigkeit progressiv verringert und unterbrochen wird, wenn das Fahrzeug eine Geschwindigkeit von 25 km/h erreicht oder wenn der Fahrer nicht mehr tritt. Diese werden gemäß § 1 Abs. 3 StVG als Fahrräder eingestuft und fallen daher auch nicht unter den Anwendungsbereich des § 69 StGB. Eine solche Regelung wurde dagegen für E-Scooter nicht getroffen, so dass diese als Kraftfahrzeuge auch im Sinne der Vorschrift des § 69 StGB gelten.

b) Ungeeignet ist der Täter nach ständiger Rechtsprechung, wenn eine Würdigung seiner körperlichen, geistigen und charakterlichen Voraussetzungen und der sie wesentlich bestimmenden objektiven und subjektiven Umstände ergibt, dass die Teilnahme des Täters am Kraftfahrzeugverkehr zu einer nicht hinnehmbaren Gefährdung der Verkehrssicherheit führen würde (BGH, Urteil vom 26. September 2003, Az:2 StR 161/03, juris Rn.10). Maßgeblich für die Feststellung der Ungeeignetheit ist der Zeitpunkt der letzten tatrichterlichen Entscheidung (Valerius a.a.O. § 69 Rn. 108). Die Feststellung der Ungeeignetheit schließt zugleich die Prognose fortbestehender Ungeeignetheit und damit zukünftiger Gefährlichkeit des Täters für den Fall ein, dass er ein Kraftfahrzeug führt (Heger in Lackner/Kühl StGB 29. Aufl. § 69 Rn. 5 m.w.N.). Ob ein Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung aller Umstände der konkreten Tat unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Täters, soweit sie in der Tat zum Ausdruck gekommen ist, zu bestimmen, sofern nicht ein Fall des § 69 Abs. 2 StGB vorliegt (BGH Urteil vom 12. März 2020, Az: 4 StR 544/19, BeckRS 2020, 6550, Rn. 18).

(1) Mit dem Zweiten Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26. November 1964 (BGBl. I 921) wurde in § 42 m Abs. 2 StGB a.F., der inhaltlich § 69 Abs.2 StGB entspricht (vgl. dazu BGH Beschluss vom 16. September 2003, Az. 4 StR 85/03, zitiert in juris, Rn. 31), ein Katalog rechtswidriger Taten aufgenommen, bei deren Vorliegen das Gesetz in typisierter Weise annimmt, der Täter sei „in der Regel“ als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen. Nach der amtlichen Begründung des Gesetzesentwurfs geht dieser von der Überlegung aus, dass die aufgeführten Zuwiderhandlungen in der Regel einen solchen Grad des Versagens oder der Verantwortungslosigkeit des Täters offenbarten, dass damit zugleich auch dessen Eignungsmangel feststehe (amtliche Begründung zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 27. September 1962 BT.-Drs. IV/651 S. 17). Die Einfügung des Regelkatalogs wurde als „bedeutsame Fortentwicklung des geltenden Rechts“ damit begründet, dass es unbestreitbare Erfahrungstatsachen gebe, „dass bestimmte gefährliche Verhaltensweisen schon für sich allein die Feststellung rechtfertigen, der Täter sei für die Teilnahme am Kraftverkehr ungeeignet“. Die abstrakte Umschreibung solchen Verhaltens gebe dem Richter einen Auslegungshinweis für den Begriff der Eignung und damit zugleich eine feste Führung durch das Gesetz (BT-Drs. IV/651 S. 17). In den aufgelisteten Fällen hat der Gesetzgeber somit die richterliche Bewertung und Prognose der Frage der Eignung vorweggenommen und die Feststellung eines Eignungsmangels dem Richter erleichtert (Kinzing in Schönke/Schröder StGB, 30. Aufl., § 69 Rn. 34). Gemäß § 69 Abs.2 Nr.2 StGB ist ein Täter dann regelmäßig als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen, wenn – wie hier – als rechtswidrige Tat ein Vergehen der Trunkenheit im Verkehr zugrunde liegt.

(2) Die Wirkung der gesetzlichen Vermutung geht dahin, dass für die Feststellung der Ungeeignetheit eine sie explizit begründende Gesamtwürdigung nur erforderlich ist, wenn ernsthafte Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein Ausnahmefall vorliegen könnte (BGH NStZ 2000, 26; Fischer a.a.O. § 69 Rn. 22). In einem solchen Fall muss das Gericht erkennen lassen, dass es ihm bewusst war, bei Ausnahmen vom Regelfall von der Entziehung der Fahrerlaubnis absehen zu dürfen (OLG Düsseldorf NZV 1988, 29; Valerius a.a.O. § 69 Rn. 194). Solche besonderen Umstände können entweder in der Tat, in der Persönlichkeit des Täters oder dem Nachtatverhalten liegen (Valerius a.a.O. § 69 Rn. 136) und sind insbesondere dann besonders sorgfältig zu prüfen, wenn Anlasstat ein Fall der Trunkenheit im Verkehr ist (Valerius a.a.O. § 69 Rn. 194).

(a) Als Fall besonderer Umstände der Tat wird nach der amtlichen Begründung in Betracht gezogen, dass der Täter in einer notstandsähnlichen Lage gehandelt hatte, die sein Verhalten zwar nicht voll entschuldigen, aber immerhin begreiflich erscheinen ließen (BT.-Drs. IV/651 S. 17; Bsp. bei Valerius a.a.O. § 69 Rn. 138). Die Indizwirkung kann der Rechtsprechung nach auch bei sog. Bagatellfahrten entfallen, worunter vor allem folgenlos gebliebene Trunkenheitsfahrten zu verstehen sind, bei denen der alkoholisierte Fahrer das Kraftfahrzeug auf der Straße oder einem öffentlichen Parkplatz lediglich um wenige Meter versetzt, um das Fahrzeug ordnungsgemäß zu parken (OLG Stuttgart NJW 1987, 142; OLG Düsseldorf NZV 1988, 29). Die fahrlässige Begehungsweise der Tat als solches steht der Indizwirkung der Tat, wie aus der unterschiedslosen Aufnahme in die Katalogtaten ersichtlich, dagegen nicht entgegen (Valerius a.a.O. § 69 Rn. 140; Athing/von Heintschel-Heinegg Münchner Kommentar zum StGB 3. Aufl. § 69 Rn. 75).

(b) Besondere Umstände in der Persönlichkeit des Täters sind unter Umständen anzunehmen, wenn die Tat eher persönlichkeitsfremde Züge aufweist, nicht zuletzt situationsbedingt war und demzufolge mit hinreichender Sicherheit erwartet werden darf, dass der Täter gleiche oder ähnliche Taten künftig nicht mehr begehen wird. Dies wäre beispielsweise zu prüfen, wenn der Täter sich bei Tatbegehung in einem emotionalen Ausnahmezustand befunden hätte (Valerius a.a.O. § 69 Rn. 142).

(c) Im Einzelfall kann die Frage der Eignung des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen auch durch besondere Umstände nach der Tat beeinflusst worden sein. Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs ist dabei an den Fall zu denken, dass der Führerschein des Täters vor dem Urteil in Verwahrung genommen worden ist und das Verfahren so lange gedauert hat, dass der Zweck der Maßregel bereits durch die vorläufige Maßnahme erreicht werden konnte (BT.-Drs. IV/651 S. 17).

d) Nach Maßgabe obiger Ausführungen ist es unter Zugrundelegung des revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Amtsgericht die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB mit ausführlicher Begründung als nicht widerlegt angesehen hat.

Ausgehend von der Gesetzessystematik kommt ein Abweichen von der Regelvermutung nur bei besonderen Umständen des Einzelfalles in Betracht. Die Annahme der Widerlegung der Regelvermutung muss nach dem Willen des Gesetzgebers auf seltene Ausnahmen beschränkt bleiben (BT.-Drs. IV/651, S. 17). Der tatrichterlichen Bewertung des Amtsgerichts, die hierfür im vorliegenden Fall keine ausreichende Grundlage gesehen hat, ist ? zumal unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Beurteilungsmaßstabs (vgl. dazu Valerius a.a.O. § 69 Rn. 136, 288) ? aus Rechtsgründen nicht entgegenzutreten.

Das Amtsgericht hat an tatbezogenen Umständen über den Aspekt hinaus, dass die Fahrt mit einem im Vergleich zu einem Personenkraftwagen leichteren E-Scooter stattfand, berücksichtigt, dass die vom Angeklagten bis zu seiner polizeilichen Kontrolle gefahrene Strecke von ca. 300 m nicht allzu lang war. Wenn das Amtsgericht darin keinen Fall einer Bagatellfahrt mehr gesehen hat, so liegt dies im Rahmen seines Beurteilungsspielraums.

Soweit die Revision zu den Tatumständen ergänzend anführt, dass der Bürgersteig, auf dem der Angeklagte fuhr, zum Tatzeitpunkt von Fußgängern nicht benutzt worden sei, handelt es sich um urteilsfremdes Vorbringen, das der Senat bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigen kann. Grundlage der Prüfung im Rahmen der Sachrüge ist nur die Urteilsurkunde (Meyer-Goßner/Schmitt StPO 63. Aufl. § 337 Rn. 22 m.w.N.). Der Umstand, dass Leib oder Leben anderer Menschen oder Sachen von bedeutendem Wert nicht konkret gefährdet wurden, ist zudem bereits Tatbestandsvoraussetzung des als abstraktem Gefährdungsdelikt ausgestalteten § 316 StGB (vgl. Fischer a.a.O. § 316 Rn. 2,3), im Falle einer konkreten Gefährdung läge die Strafbarkeit im Bereich des § 315 c Abs. 1 Nr. 1 a StGB, gegebenenfalls i.V.m. § 315c Abs. 3 StGB. Dafür, dass nach den Tatumständen bereits der Umfang der abstrakten Gefährdung der Verkehrssicherheit in ungewöhnlicher Weise vom Normalfall abgewichen wäre, ergeben sich aus den Urteilsfeststellungen dagegen keine Anhaltspunkte.

Auch besondere Umstände in der Persönlichkeit des Täters sind aus den Urteilsgründen nicht ersichtlich. Die Tatsache, dass der Angeklagte nicht vorbestraft ist, so dass es sich bei der Anlasstat um einen erstmaligen Verstoß des Täters gegen ein Delikt im Sinne des § 69 Abs. 2 StGB handelt, vermag für sich genommen ebenfalls die nach § 69 Abs. 2 StGB vermutete Ungeeignetheit in aller Regel nicht zu widerlegen, zumal die Vorschrift in ihrem Anwendungsbereich vom Gesetzgeber nicht auf Wiederholungsfälle beschränkt ist (vgl. OLG Hamburg Beschluss vom 8. März 2007, Az: 2 Ws 43/07, Beck-RS 2007, 11906, Ziffer II 2 c bb; Kinzing in Schönke/Schröder a.a.O. § 69 Rn. 46; Valerius a.a.O. § 69 Rn. 143). Auch aus dem Umstand, dass der Angeklagte verkehrsordnungsrechtlich nur einmal vorgeahndet ist, ergibt sich insoweit kein Anlass für eine andere Beurteilung.

Schließlich befand sich nach den Urteilsfeststellungen die Fahrerlaubnis des Angeklagten bis zum Erlass des Urteils nicht in amtlicher Verwahrung, so dass auch der Fall, der nach Vorstellung der amtlichen Begründung die gesetzliche Vermutung des § 69 Abs. 2 StGB wegen besonderer Umstände nach der Tat widerlegen könnte, nicht gegeben ist.

Persönliche Belastungen wie berufliche, wirtschaftliche oder finanzielle Nachteile, die der Täter infolge der Entziehung der Fahrerlaubnis in Zukunft zu erwarten hat, sind dagegen im Rahmen der Frage der Eignung bzw. der Entziehung der Fahrerlaubnis in der Regel nicht berücksichtigungsfähig (Valerius a.a.O. § 69 Rn. 111, 178 m.w.N.). Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass einem Angeklagten, dessen mangelnde Eignung feststeht, unter Hintanstellung des Schutzguts der Verkehrssicherheit nicht allein deshalb die Fahrerlaubnis belassen werden kann, weil er aus persönlichen Gründen auf sie angewiesen ist. Dieser Gedanke kommt auch in der gesetzlichen Regelung des § 69 Abs. 1 Satz 2 StGB zum Ausdruck, nach der es bei feststehender Ungeeignetheit des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen einer weiteren besonderen Prüfung der Verhältnismäßigkeit, wie sie § 62 StGB bei Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung im Allgemeinen anordnet, nicht mehr bedarf. Nur, wenn das Gewicht und der Umfang der Auswirkungen der Entziehung der Fahrerlaubnis im Einzelfall bereits im Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung sichere Rückschlüsse auf das zu erwartende Verhalten des Täters und seine künftige Eignung gezogen werden können, können derartige Folgen, insbesondere, wenn der Tat ein Regelfall im Sinne des § 69 Abs. 2 StGB zugrunde liegt, unter Umständen bereits bei der Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis Berücksichtigung finden. Dies wird jedoch nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht kommen (Valerius a.a.O. § 69, Rn. 111). Ansonsten können die Auswirkungen der Entziehung der Fahrerlaubnis mitunter im Rahmen der Ausgestaltung der Maßregel von Bedeutung sein. Die Bewertung des Amtsgerichts, welche eine Berücksichtigung der Konsequenzen einer Entziehung der Fahrerlaubnis für den Angeklagten nur im Rahmen der Gestaltung der Sperre vorgenommen hat, ist frei von Rechtsfehlern, da der vorliegende Fall auch im Hinblick auf die Folgen der Entziehung zumindest keine außergewöhnlichen Umstände ausweist.

Auch im Wege einer Gesamtbetrachtung hat das Amtsgericht die einzelnen berücksichtigungsfähigen Umstände nicht als ausreichend angesehen, um die in der Tat zum Ausdruck gekommene Unterordnung der Sicherheit des allgemeinen Straßenverkehrs unter die eigenen Zwecke und Interessen in einem Maße aufzuwiegen, dass dies ein grundsätzliches Absehen von der Verhängung der Maßregel gebieten würde (UA S. 6). Dies begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken…..“

OWi II: Protokollurteil, oder: Zulässigkeit der nachträglichen Begründung

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Die zweite Entscheidung kommt dann mit dem schon etwas älteren BayObLG, Beschl. v. 17.02.2020 –  202 ObOWi 84/20 – aus aus Bayern. Thematik der Entscheidung: Nachträgliche Begründung des sog. Protokollurteils. Dazu das BayObLG.

„Die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet und zwingt den Senat bereits auf die Sachrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, weshalb es auf die verfahrensrechtlichen Beanstandungen nicht mehr an-kommt.

1. Aufgrund der vom Amtsgericht bereits am 02.09.2019 und damit noch am Tag der Hauptverhandlung angeordneten (vgl. BI. 59 R d.A.) und am 03.09.2019 bewirkten urschriftlichen Bekanntgabe im Wege der Zustellung „gern. § 41 StPO“ eines entgegen § 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 267 StPO ohne Urteilsgründe abgefassten sog. ,Protokollurteils‘ ist dem Senat eine materiell-rechtliche Überprüfung auf etwaige Rechtsfehler von vornherein verwehrt.

2. Die nachträgliche Ergänzung des Urteils durch die erst nach Eingang der Rechtsbeschwerde des Betroffenen am 04.09.2019 (BI. 64 d.A.) mit den am19.09.2019 (vgl. BI. 69 d.A.) innerhalb der Frist der §§ 275 Abs. 1 StPO i.V.m. §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG zu den Akten gelangten schriftlichen Urteilsgründen war nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung unzulässig und damit für das vorliegende Rechtsbeschwerdeverfahren nicht mehr relevant (vgl. rechtsgrundsätzlich neben BGH, Besohl. v. 08.05.2013 — 4 StR 336/12 = BGHSt 58, 243 = DAR 2013, 477. = NJW 2013, 2837 = NZV 2013, 557 = NStZ 2013, 730 schon OLG Bamberg, Beschl. v. 16.12.2008 – 3 Ss OWi 1060/08 = BeckRS 2009, 3920 = ZfSch 2009, 175; ferner u.a. Beschl. v. 15.01.2009 – 3 Ss OWi 1610/08 = ZfSch 2009, 448; 27.12.2011 – 3 Ss OWi 1550/11; 22.02.2012 – 3 Ss OWi 200/12; 26.06.2013 – 3 Ss OWi 754/13; 02.07.2014 — 2 Ss OWi 625/14; 03.07.2015 — 3 Ss OWi 774/15; 08.01.2016 – 3 Ss OWi 1546/2015 und 06.06.2016 — 3 Ss OWi 646/16 = StraFo 2016, 385; siehe auch OLG Saarbrücken, Beschl. v. 06.09.2016 — Ss Bs 53/16 = NStZ 2017, 590; KG, Beschl. v. 22.02.2018 – 162 Ss 27/18 = NStZ-RR 2018, 292 = StraFo 2018, 384 und OLG Bamberg, Beschl. v. 23.10.2017 — 3 Ss OWi 896/17 = OLGSt StPO § 36 Nr 4 sowie 02.05.2018 — 3 Ss OWi 490/18 = OLGSt OWiG § 77b Nr 5).

3. Zwar gilt § 275 Abs. 1 StPO gemäß §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG im gerichtlichen Bußgeld-verfahren entsprechend. Dies bedeutet, dass das vollständige Urteil unverzüglich, spätestens je-doch innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu den Akten gebracht werden muss, sofern es nicht bereits vollständig in das Protokoll aufgenommen wurde. Liegt jedoch ein sog. „Protokollurteil` vor, gelten die Fristen für die Urteilsabsetzung nach § 275 Abs. 1 StPO nicht (BGH, Beschl. v. 08.05.2013 — 4 StR 336/12 = BGHSt 58, 243 = DAR 2013, 477 = NJW 2013, 2837 = NZV 2013, 557 = NStZ 2013, 730).

a) Wie im Strafverfahren steht es auch im Bußgeldverfahren im nicht anfechtbaren Ermessen des Vorsitzenden zu entscheiden, ob das Urteil mit den Gründen als besondere Niederschrift zu den Akten zu bringen ist oder die Gründe vollständig in das Protokoll mit aufzunehmen sind. Hin-sichtlich Form und Inhalt unterliegt das in das Protokoll aufgenommene Urteil den gleichen Anforderungen wie die in einer getrennten Urkunde erstellten Urteile. Wenn sich die nach § 275 Abs. 3 StPO erforderlichen Angaben bereits aus dem Protokoll ergeben, ist ein besonderer Urteilskopf jedoch entbehrlich (BGH a.a.O.).

b) Im Bußgeldverfahren eröffnet § 77b Abs. 1 OWiG — über § 267 Abs. 4 und Abs. 5 Satz 2 StPO hinausgehend — aus Gründen der Verfahrensvereinfachung und zur Entlastung der Tatsachenin-stanz die Möglichkeit, von einer schriftlichen Begründung des Urteils gänzlich abzusehen. Dies ist dann der Fall, wenn alle zur Anfechtung Berechtigten auf die Einlegung der Rechtsbeschwerde verzichtet haben oder wenn innerhalb der Frist keine Rechtsbeschwerde eingelegt wird (§ 77b Abs. 1 Satz 1 OWiG) oder wenn die Verzichtserklärungen der Staatsanwaltschaft und des Betroffenen ausnahmsweise entbehrlich sind (§ 77b Abs. 1 Sätze 2 und 3 OWiG). Im Bußgeldverfahren steht somit der Umstand, dass in dem Hauptverhandlungsprotokoll keine Urteilsgründe niedergelegt sind, der Annahme eines im Sinne der §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG, § 275 Abs. 1 Satz 1 StPO vollständig in das Sitzungsprotokoll aufgenommenen Urteils nicht entgegen. Es genügt, dass das Hauptverhandlungsprotokoll wie hier (vgl. BI. 56/63 d.A.) — alle für den Urteilskopf nach § 275 Abs. 3 StPO erforderlichen Angaben sowie den vollständigen Tenor einschließlich der an-gewendeten Vorschriften enthält und von dem erkennenden Richter unterzeichnet ist (BGH a.a.O.; vgl. auch schon OLG Bamberg ZfSch 2009, 175 und StraFo 2010, 468; OLG Celle NZV 2012, 45; KG NZV 1992, 332; OLG Oldenburg NZV 2012, 352).

4. Es entspricht gefestigter Rechtsprechung, dass die nachträgliche Ergänzung eines Urteils grundsätzlich nicht zulässig ist — und zwar auch nicht innerhalb der hier vom Amtsgericht ohne weiteres gewahrten Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO —, wenn es bereits aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts herausgegeben worden ist. Für das Bußgeldverfahren folgt daraus, dass ein vollständig in das Sitzungsprotokoll aufgenommenes, nicht mit Gründen versehenes Urteil, das den inneren Dienstbereich des Gerichts bereits verlassen hat, nicht mehr verändert werden darf, es sei denn, die nachträgliche Urteilsbegründung ist gemäß § 77b Abs. 2 OWiG zulässig (BGH a.a.O. m.w.N.).

a) Die Voraussetzungen für eine nachträgliche Ergänzung der Urteilsgründe waren hier aber schon deshalb nicht gegeben, weil mit dem angefochtenen Urteil gegen den Betroffenen nicht lediglich Geldbußen von nicht mehr als 250 Euro festgesetzt worden sind (§ 77b Abs. 1 Satz 3).

b) Zwar ist Voraussetzung für die Annahme der Hinausgabe eines nicht begründeten sog. ,Protokollurteils“ der erkennbar zum Ausdruck gebrachte Wille des Gerichts, dass es von den Möglichkeiten des § 77b Abs. 1 ()VVG sowie des § 275 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG Ge-brauch macht, also von einer schriftlichen Begründung des Urteils gänzlich absieht und das Urteil allein durch Aufnahme in das Hauptverhandlungsprotokoll fertigt. Der Richter muss sich bewusst für eine derart abgekürzte Fassung des Urteils entschieden haben (OLG Bamberg ZfSch 2009, 175; KG NZV 1992, 332; BGH a.a.O., jeweils m.w.N.). Mit der gerichtlichen Anordnung (§ 36 Abs. 1 Satz 1 StPO) der Übersendung der Akten einschließlich eines ohne Gründe ins Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommenen bzw. als Anlage zum Hauptverhandlungsprotokoll genommenen Urteils an die Staatsanwaltschaft zur Zustellung hat sich der Tatrichter hier jedoch für die Hinausgabe einer nicht mit Gründen versehenen Urteilsfassung endgültig entschieden. Damit hat ein „Protokollurteil ohne Gründe“ den inneren Dienstbereich des Gerichts verlassen und ist mit der Zustellung an die Staatsanwaltschaft nach außen in Erscheinung getreten. Da die Tatrichterin hier das Urteil der Staatsanwaltschaft in Urschrift und im Wege der förmlichen Bekanntmachung einer Entscheidung zugeleitet hat, muss sie sich an dieser Erklärung festhalten lassen. Dabei wird den Anforderungen an eine Zustellung gemäß § 41 StPO bereits dadurch genügt, dass die Staatsanwaltschaft aus der Übersendungsverfügung in Verbindung mit der aus den Akten ersichtlichen Verfahrenslage erkennen kann, mit der Übersendung an sie werde die Zustellung nach § 41 StPO bezweckt, weshalb es dann keines – hier allerdings gegebenen – ausdrücklichen Hinweises auf diese Vorschrift bedarf (BGH a.a.O. m.w.N.).

c) Etwas anderes könnte ausnahmsweise nur dann anzunehmen sein, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände der eindeutige Wille der Tatrichterin, dass die an die von ihr verfügte förmliche Zustellung geknüpften Rechtsfolgen ausgelöst werden sollten, ersichtlich nicht hinreichend zum Ausdruck gekommen wäre (vgl. hierzu KG, Beschl. v. 22.02.2018 – 162 Ss 27/18 -= NStZ-RR 2018, 292 = StraFo 2018, 384). Hiervon kann vorliegend freilich mangels hinreichend eindeutigen Niederschlags in den Akten nicht ausgegangenen werden. Insbesondere reicht insoweit der zeitgleich mit der Verfügung vom 02.09.2019 an die verfügte Wiedervorlagefrist von 1 Woche angefügte und mit einem Fragezeichen versehene schlichte Klammerzusatz „RM?“ auch in Verbindung mit der ersichtlich für die Staatsanwaltschaft bestimmten Mitteilung, ob von dortiger Seite „auf Rechtsmittel verzichtet“ verzichtet werde, nicht aus, mag insoweit von der Tatrichterin auch tatsächlich gemeint gewesen sein, dass im Falle der Rechtsmitteleinlegung noch schriftliche Urteilsgründe zu den Akten zu bringen sein werden.“

Nichts Neues, aber man wird mal wieder daran erinnert….

OWi I: Augenscheinseinnahme des Messgeräts auf dem Parkplatz, oder: Aushang an die Saaltür

entnommen wikimedia.org
Urhber: Hichhich – Eigenes Werk

Heute dann mal wieder ein Tag mit drei OWi-Entscheidungen.

Und ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 06.07.2020 – 202 ObOWi 682/20, einem kleinen Schmankerl. Nämlich: Absoluter Rechtsbeschwerdegrund des § 338 Nr. 3 StPO. Hat man im OWi-Verfahren ja nicht so häufig. Das BayObLG hat aufgehoben, und zwar:

„Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde zwingt den Senat auf-grund der zulässig ausgeführten Verfahrensrüge der Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG i.V.m. §§ 338 Nr. 6 StPO, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mitsamt seinen Feststellungen; auf die daneben (unausgeführt) erhobene Sachrüge kommt es deshalb nicht mehr unmittelbar an.

1. Die Rüge ist zulässig. Der Rügevortrag der Rechtsbeschwerde entspricht im Ergebnis, wie auch die Generalstaatsanwaltschaft München in ihrer vorgenannten Antragsschrift zutreffend feststellt, noch den gesetzlichen Begründungsanforderungen der §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 StPO. Insbesondere ergibt sich aus der Rechtfertigungsschrift vom 10.02.2020 neben der gerichtlich zu vertretenden faktischen Nichtwahrung der Öffentlichkeit noch hinreichend, dass es sich bei der Inaugenscheinnahme des in einem Dienstfahrzeug verbauten Geschwindigkeitsmessgeräts auf einem Parkplatz vor dem Gerichtsgebäude nicht nur um eine kommissarische Augenscheinseinnahme i.S.d. §§ 225,,224 StPO, sondern um die Durchführung eines Augenscheins innerhalb und damit als Bestandteil der Hauptverhandlung anlässlich des (Fortsetzungs-) Termins vom 10.12.2019 handelte. Jedenfalls aufgrund der ebenfalls erhobenen Sachrüge und dem hierdurch dem Senat zur Beurteilung der Rüge zusätzlich eröffneten Inhalt der Urteilsgründe ist auch der Gegenstand der gerichtlich angeordneten Inaugenscheinnahme, nämlich gerichtliche Feststellungen zu Art, Aussehen, Zustand und Anzahl der auf dem Messgerät angebrachten Eichmarken zu treffen (vgl. Urteilsausfertigung S. 3 unten), hinreichend konkret bezeichnet. Weiterer Darlegungen etwa des Inhalts, dass sich potentiell interessierte Besucher wegen des Fehlens eines entsprechenden Aushangs oder Hinweises vor dem Sitzungssaal tat-sächlich in Anbetracht der örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten von einer Teilnahme an dem nur wenige Minuten dauernden Augenschein außerhalb der Gerichtsgebäudes hätten abhalten lassen (vgl. hierzu auch die in der Akte niedergelegte dienstliche Stellungnahme des Vorsitzenden vom 15.03.2020, BI. 99 d.A.), bedarf es für die Zulässigkeit der Rüge nicht.

2. Die Rüge ist auch begründet. Der (absolute) Rechtsbeschwerdegrund des § 338 Nr. 6 StPO zwingt den Senat ohne weiteres zur Aufhebung des Urteils einschließlich sämtlicher Feststellungen, wobei jedenfalls bei der hier zu beurteilenden Verfahrenskonstellation nichts anderes allein daraus folgt, dass der gerügte Verfahrensfehler nicht in einem Straf- sondern „lediglich“ in einem (verkehrs-) gerichtlichen Bußgeldverfahren unterlaufen ist. Denn der Grundsatz der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung gilt gemäß den §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG im gerichtlichen Bußgeldverfahren ‚ebenso wie andere Maximen des Strafverfahrens grundsätzlich ungeschmälert, zumal eine Abstufung etwa nach dem Maßstab eines „geschützten berechtigten Interesses der Bevölkerung an Informationen über den Gang des Verfahrens“ zu unbestimmt, jedenfalls im Einzelfall nicht praktikabel erscheint (OLG Celle, Beschl. v. 25.04.2005 — 222 Ss 69/05 [OW1] = NdsRpfl 2005, 255 = NZV 2006, 443 und 01.06.2012 — 322 SsBs 131/12 = StraFo 2012, 270 = NZV 2012, 449; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 25.05.2007 — Ss [B] 22/07 = VRS 113 [2007], 109 = NStZ-RR 2008, 50; OLG Hamm, Beschl. v. 07.07.2009 — 2 Ss OWi 828/08 = VerkMitt 2010, Nr 17 und schon 10.07.2000 — 2 Ss OWi 216/00 = VRS 99 [2000], 282 = StraFo 2000, 385 = StV 2000, 659 = DAR 2000, 581 = NZV 2001, 390, jeweils m.w.N.; a.A. für eine vergleichbare Sachverhalts-konstellation im Ergebnis noch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.02.1982 — 5 Ss OWi 534/81 = VRS 63 [1982], 454 = NJW 1983, 2514).“

Und wegen der Feststellungen im Urteil gibt das BayObLG dem AG auch noch etwas mit auf den Weg.“

 

Berufung II: Berufungsverwerfung wegen Ausbleibens des Angeklagten, oder: Ärztliches Attest

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Und als zweites Posting dann zwei Entscheidungen zu § 329 Abs. 1 StPO, also Verwerfung der Berufung wegen unentschuldigen Ausbleibens des Angeklagten. In dem Zusammenhang spielt ja die Frage der ausreichenden Entschuldigung eines große Rolle, vor allem wenn es um das Ausbleiben infolge einer (plötzlichen) Erkrankung und deren Nachweis geht. Stichwort: Ärztliches Attest. Von beiden Entscheidungen gibt es aber nur die Leitsätze.

Zunächst der BayObLG, Beschl. v. 31.03.2020 – 202 StRR 29/20. Der hat folgende (amtliche Leitsätze):

1. Ärztliche Bescheinigungen und Atteste haben so lange als genügende Entschuldigung zu gelten, als nicht deren Unglaubwürdigkeit oder Unbrauchbarkeit feststeht; dies gilt auch dann, wenn sie dem Gericht lediglich als Kopie oder in digitaler Form per E-Mail übermittelt werden (Anschluss u.a. von BayObLG, Beschl. v. 12.02.2001 – 2 StRR 17/01 = BayObLGSt 2001, 14/16; Beschl. v. 11.05.1998 – 1 ObOWi 169/98 = BayObLGSt 1998, 79/82 = StraFo 1999, 26 = NJW 1999, 879).

2. Etwas anderes kann nur gelten, wenn feststeht, dass die ärztliche Bescheinigung als unglaubwürdig oder unbrauchbar anzusehen oder das Entschuldigungsvorbringen aus der Luft gegriffen oder sonst ganz offensichtlich als ungeeignet anzusehen ist, das Ausbleiben zu entschuldigen. Hierfür ist nicht ausreichend, dass dem Angeklagten aufgrund von unbestätigten Feststellungen einer Anklage in einem anderen Verfahren in anderem Zusammenhang und zu anderen Zeiträumen u.a. Verfälschungen ärztlicher Bescheinigungen zur Last liegen (u.a. Anschluss an und Fortführung von BayObLG, Beschl. v. 12.02.2001 – 2 StRR 17/01 = BayObLGSt 2001, 14/16).

Und dann der KG, Beschl. v. 18.11.2019 – 3 Ws 352/19  – 161 AR 250/19, ergangen in einem Wiedereinsetzungsverfahren (§ 329 Abs. 7 StPO):

1. Ein ärztliches Attest, das Art und Schwere der Erkrankung mitteilt, rechtfertigt in der Regel den Schluss, dass dem Angeklagten die Teilnahme in der Hauptverhandlung nicht zumutbar war.

2. Etwas anderes kann jedoch bei Erkrankungen gelten, deren Symptome typischerweise zeitlich eng begrenzt, häufig auch akut „von der einen auf die andere Minute“ auftreten. In so gelagerten Fällen bedarf es in der Regel des zusätzlichen Vortrags, zu welcher Uhrzeit der Angeklagte den behandelnden Arzt aufgesucht hat.

OWi I: Beschilderte Infrastruktureinrichtung/Beschränkung des Durchgangsverkehrs, oder: Abgrenzung mit Folgen

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In die 26. KW./2020 starte ich mit zwei OWi-Entscheidungen. Beide stammen vom bayObLG, beide behandeln – seit längerem mal wieder – Fragen des Fahrverbotes nach § 25 StVG.

Ich beginne mir dem BayObLG, Beschl. v. 22.01.2020 – 201 ObOWi 2752/19 – zur Abgrenzung von Verstößen gegen beschilderte Infrastruktureinrichtungen zu Verstößen gegen Beschränkungen des Durchgangsverkehrs. Liest sich sperrig und ist auch sperrig.

Es geht um folgenden Sachverhalt. Das AG hat gegen den Betroffenen wegen „vorsätzlicher Zuwiderhandlung gegen §§ 41 Abs. 1 i.V.m. Anlage 2, 43 Abs. 3, 49 StVO (Missachtung des durch Zeichen 265 angeordneten Verkehrsverbotes, obwohl die Straßenfläche zusätzlich durch Verkehrseinrichtungen gekennzeichnet war)“ u.a. eine Geldbuße von 500 EUR ein Fahrverbot von zwei Monaten verhängt.

Grundlage waren folgende Feststellungen:

„Nach den Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts befuhr der Betroffene am 17.04.2019 mit einem LKW mit Containeranhänger den G-Weg in O. vom Hafen kommend in Richtung F. Gegen 16:34 Uhr befand er sich nach der Abzweigung zur M-Straße in Richtung G. auf dem im Urteil näher bezeichneten Teilstück. Dort befinden sich drei Brücken, die in Richtung G. durchfahren werden müssen. Die zulässige Höhe ist für Fahrzeuge durch das mehrfach angebrachte Zeichen 265 auf 3,9 Meter beschränkt. Die Container auf dem Anhänger des vom Betroffenen geführten LKW-Gespannes wiesen bei der Durchfahrt unter der gegenständlichen Brücke eine Höhe von 3,98 Meter am hinteren Container und von 3,95 Meter am vorderen Container auf, was der Betroffene zumindest billigend in Kauf nahm. An der zweiten und dritten Brücke dieses Teilstückes ist jeweils erneut das Zeichen 265 mit der Beschränkung auf 3,9 Meter befestigt sowie links und rechts von diesem Zeichen zusätzlich „über beide nach G. führenden Spuren reichend die Verkehrseinrichtung Zeichen 600 im Sinne von Anlage 4 Nr. 1 zu § 43 Abs. 3 StVO angebracht“. Hinsichtlich der Beschaffenheit der Beschilderung und der Markierung hat das Amtsgericht insoweit ausdrücklich die Bilder Nrn. 13, 15 – 16 sowie 17 – 18 auf Blatt 42 bis 45 der Akten benannt und am Ende der Aufzählung wegen der weiteren Einzelheiten auf diese Lichtbilder verwiesen.“

Das BayObLG verurteilt den Betroffenen nur noch zu einer Geldbuße von 40 EUR und lässt das Fahrverbot entfallen:

„a) Der Betroffene hat demnach keine Zuwiderhandlung gegen § 49 Abs. 3 Nr. 6 i.V.m. § 43 Abs. 3 Satz 2 StVO begangen. Nach den Urteilsfeststellungen i.V.m. den Lichtbildern, auf die wegen der Einzelheiten gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG in wirksamer Weise Bezug genommen worden ist, ergibt sich, dass der Betroffene hier nicht, wie es Nummer 250a BKat verlangt, eine durch Verkehrseinrichtungen nach Anlage 4 laufender Nummer 1 – 4 zu § 43 Abs. 3 StVO gekennzeichnete Straßenfläche befahren hat. § 43 Abs. 3 Satz 2 StVO untersagt es, die durch Verkehrseinrichtungen nach Anlage 4 Nrn. 1 bis 7 gekennzeichneten Straßenflächen zu befahren. Die Rechtsauffassung des Amtsgerichts, wonach das an der Unterseite des quer zur Fahrbahn des Betroffenen verlaufenden Brücke angebrachte Warnzeichen eine Absperrschranke (Zeichen 600) nach Anlage 4 zur StVO darstellt, vermag der Senat nicht zu teilen. Dies legt bereits der Wortlaut der Straßenverkehrsordnung nahe. Das Zeichen 600 ist mit dem Begriff „Absperrschranke“ Der Begriff Absperrschranke setzt voraus, dass das Verkehrszeichen die Funktion hat, einen Straßenbereich – wie durch eine Schranke – abzusperren. Diese Auslegung wird insbesondere auch gestützt durch die Ausführungen, die das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit am 12.07.2017 über das Bundeskanzleramt dem Bundesrat mit der Bitte um Zustimmung übersandt haben. Zur Begründung führt der Verordnungsgeber an, dass derzeit eine Vielzahl von Brücken auf ihre Standfestigkeit hin überprüft werde und deshalb vermehrt Geschwindigkeits- und Gewichtsbeschränkungen, teilweise auch in Verbindung mit Höhenbeschränkungen, angeordnet seien, um große und schwere LKW von den Brücken fernzuhalten (BR-Drs. 556/17, Seite 3). Der Verordnungsgeber wollte deshalb mit der Neuschaffung von Nummer 250a BKat durch eine erhebliche Anhebung der Geldbuße und die Möglichkeit der Verhängung eines Fahrverbotes sicherstellen, dass derartige Verbote beachtet werden. In diesem Zusammenhang verweist der Verordnungsgeber darauf, dass Orientierungspunkt bei der Höhe der Bebußung die Missachtung einer geschlossenen Schranke bei Bahnübergängen sei (BR-Drs. 556/17, Seite 37). Hinweise auf derartige Verbote zum Schutz von Infrastruktureinrichtungen würden mehrfach angekündigt und gleichwohl zur Vermeidung von Umwegen bewusst missachtet. Soweit die entsprechenden Beschränkungen mit weiteren Verkehrseinrichtungen begleitet werden, die zu einer Verengung der Fahrstreifen oder einer Höhenbeschränkung führen, um auch rein tatsächlich durch Schaffung derartiger körperlicher Hindernisse ein Befahren von großen und damit auch meist schweren LKW zu verhindern, komme dies einer baulichen Hürde wie einer Schranke gleich, die mechanisch bereits das Befahren der Straße kaum möglich mache (BR-Drs. 556/17 Seite 37/38). Der Verordnungsgeber wollte demnach die Nichtbeachtung oder das Überfahren von körperlichen Hindernissen durch eine deutliche Erhöhung der Geldbuße verhindern. Dies bedeutet, dass – wie vorliegend – unmittelbar an der Infrastruktureinrichtung durch Schilder angebrachte rot-weiße Markierungen keine über die durch eine niedrige Brücke ohnedies gegebene Beschränkung des Durchfahrtverkehrs darstellen. Diese Markierungen stellen damit keine Absperrschranke im Sinne von Zeichen 600 der StVO dar. Vielmehr handelt es sich bei einer solchen Markierung lediglich um ein sogenanntes Leitmal (Zeichen 627) und damit um eine Einrichtung zur Kennzeichnung von dauerhaften Hindernissen oder sonst gefährlichen Stellen. Nach den Erläuterungen zu Anlage 4 laufende Nummer 10 zur StVO kennzeichnen Leitmale in der Regel den Verkehr einschränkende Gegenstände. Ihre Ausführung richtet sich nach der senkrechten (VzKat Nr. 627-10 und Nr. 627-20), waagrechten (VzKat Nr. 627-30) oder gewölbten bzw. gebogenen Anbringung (VzKat Nr. 627-50) beispielsweise an Bauwerken, Bauteilen und Gerüsten. Auch wenn das unter Anlage 4 laufende Nummer 10 zur StVO abgebildete Leitmal gebogen ist, steht aufgrund der hierzu angegebenen Erläuterung eindeutig fest, dass ein Leitmal – wie hier – auch dann gegeben ist, wenn es waagrecht an einer quer zur Fahrbahn verlaufenden Brücke angebracht ist. Demgegenüber liegt dem Tatbestand von lfd. Nr. 250a BKat zugrunde, dass die Straßenfläche zusätzlich durch Verkehrseinrichtungen gekennzeichnet ist, wobei Verkehrseinrichtungen in diesem Sinne Schranken, Leitbaken, Leitschwellen und Leitborde sind (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 01.02.2019 – 1 RBs 28/19 bei juris). Derartige Absperreinrichtungen sind hier aber nicht vorhanden.

b) Der Betroffene hat damit vorsätzlich gegen § 41 Abs. 1 i.V.m. Anlage 2 lfd. Nr. 39 (Zeichen 265) verstoßen und damit eine Zuwiderhandlung nach § 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO begangen. Der Schuldspruch des Urteils des Amtsgerichts war daher dahingehend abzuändern. § 265 Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG steht dem nicht entgegen, da Gegenstand der dem Betroffenen zur Last liegenden Ordnungswidrigkeit bereits die Missachtung der Höhenbeschränkung (Zeichen Nr. 265) war.“