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VerkehrsR I: Körperverletzung im Straßenverkehr, oder: Einsatz des Kfz als gefährliches Werkzeug

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In den neuen Monat und zugleich auch in die neue Woche geht es heute dann mit verkehrsrechtlichen Entscheidungen.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 08.05.2025 – 4 StR 52/24. Das LG hat den Angeklagten wegen drei Unfallgeschehen im Straßemverkehr verurteilt. Dagegen die Revision des Angeklagten, die nur wegen des dritten Falls hinsichtlich des Strafausspruch Erfolg hatte. Insoweit ist von folgendem Sachverhalt auszugehen:

Zu dem Unfall ist es (auch) am 10.10.2022 gekommen. Der Angeklagte hatte auf einem hierzu von ihm angefahrenen Parkplatz um die Mittagszeit des Tages eineinhalb Flaschen Whiskey gemischt mit Cola getrunken. Gegen 16:00 Uhr trat er die Heimreise an und befuhr im Bewusstsein, über keine Fahrerlaubnis zu verfügen, die B 49 im Verlauf von A. Richtung N. Seine Blutalkoholkonzentration lag während der gesamten Fahrtstrecke zwischen 1,91 ‰ und 2,64 ‰.

Gegen 16:25 Uhr befand sich der Angeklagte zwischen E. und N. Das LG hat weiter festgestellt: Zu diesem Zeitpunkt hatte der Angeklagte aufgrund seiner vorangegangenen und von ihm wahrgenommenen Fahrfehler im Begegnungsverkehr und den damit einhergehenden (Beinahe-)Kollisionen die Möglichkeit, in den Gegenverkehr zu geraten und dadurch einen Unfall zu verursachen, als nicht ganz fernliegend erkannt. Dabei nahm er auch eine körperliche Verletzung anderer Verkehrsteilnehmer mit in seine Vorstellung auf. Zwar war ihm dies unerwünscht, weil er dadurch seine Flucht wegen der vorhergehenden (Beinahe)Kollisionen möglicherweise nicht würde fortsetzen können. Er nahm das Risiko eines Unfalls einschließlich Verletzungen anderer Verkehrsteilnehmer jedoch billigend in Kauf, um sein mit der Unfallflucht bezwecktes Ziel, sich der Strafverfolgung zu entziehen, zu erreichen. Dabei vertraute er – die ihm tatsächlich verbliebenen Fähigkeiten rauschbedingt überschätzend – ernsthaft darauf, dass er trotz seiner erkannten Beeinträchtigung in der Lage sein wird, einen folgenschweren Frontalunfall im Begegnungsverkehr zu vermeiden, dies allein schon mit Bedacht darauf, das eigene Leben zu erhalten. Dieses ernsthafte Vertrauen gewann der Angeklagte aus dem Umstand, dass es trotz des Zurücklegens einer nicht unerheblichen Strecke im fahruntüchtigen Zustand nicht zuletzt aufgrund der Ausweichbewegungen der entgegenkommenden Verkehrsteilnehmer, die der Angeklagte auch im weiteren Verlauf seiner Fahrt erwartete, bislang zu keiner Frontalkollision gekommen war.

Als ihm nun der Zeuge S. in einem Mercedes Sprinter entgegenkam, nahm der Angeklagte infolge seiner Alkoholisierung die auf diesem Fahrbahnabschnitt befindlichen langgezogenen s-förmigen Fahrbahnverschwenkungen nicht wahr. Daher lenkte er nicht zur Seite, sondern führte sein Fahrzeug weiter geradeaus und geriet so im Bereich des Fahrbahnversatzes auf die Gegenfahrbahn. Der dort fahrende Zeuge S. versuchte auszuweichen und fuhr mit seinem Fahrzeug in Richtung seiner Gegenfahrbahn. Jedoch kollidierte er auf der Mittellinie längsachsenparallel mit dem nach wie vor gerade fahrenden Angeklagten, als dieser aufgrund eines neuerlichen Fahrbahnversatzes wieder in Richtung seiner eigenen Fahrbahn fuhr. Infolge des Unfalls, durch den der deutlich schwerere Sprinter den Kleinwagen des Angeklagten nach hinten weggeschoben hatte, entstand an beiden Fahrzeugen ein Totalschaden. Der Zeuge S.  wurde verletzt.“

Das LG hat auf der Grundlage dieses Sachverhalts den Angeklagten in diesem Fall u.a.  wegen gefährlicher Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 verurteilt. Das hatte beim BGH keinen Bestand:

„2. Der Strafausspruch im Fall II. 3. der Urteilsgründe und der Gesamtstrafenausspruch können nicht bestehen bleiben. Die hierzu getroffenen Feststellungen belegen (nur) die Voraussetzungen einer gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB, nicht aber diejenigen des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB.

a) Die Strafkammer ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass sich der Angeklagte im Fall II. 3. der Urteilsgründe der gefährlichen Körperverletzung in der Variante des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB schuldig gemacht hat.

aa) Eine Körperverletzungshandlung erfüllt die Voraussetzungen des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB, wenn sie unter den konkreten Umständen des Einzelfalls aufgrund der Art ihrer Einwirkung auf das Tatopfer dazu geeignet ist, dessen Leben in Gefahr zu bringen. Maßgeblich ist danach die Schädlichkeit der Einwirkung auf den Körper des Opfers im konkreten Einzelfall. Nicht erforderlich ist, dass es infolge dieser Handlung auch tatsächlich zum Eintritt einer konkreten Lebensgefahr kommt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 16. Januar 2024 – 4 StR 428/23, NStZ-RR 2024, 125, 126; Urteil vom 27. Juli 2023 – 3 StR 509/22, NStZ-RR 2023, 367, 368; Urteil vom 29. Februar 1952 – 1 StR 767/51, BGHSt 2, 160, 163; RG, Urteil vom 19. Januar 1884 – Rep. 3007/83, RGSt 10, 1, 2 f.). Für den Vorsatz im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB bedeutet dies, dass der wenigstens mit einem bedingten Körperverletzungsvorsatz handelnde Täter auch diejenigen Umstände erkennen muss (vgl. § 16 Abs. 1 StGB), aus denen sich in der konkreten Situation die allgemeine Gefährlichkeit seines Tuns für das Leben des Opfers ergibt. Nicht erforderlich ist, dass er diese von ihm erkannten Umstände auch als lebensgefährdend bewertet (vgl. BGH, Urteil vom 26. März 2015 – 4 StR 442/14, NStZ-RR 2015, 172,173; Urteil vom 4. November 1988 – 1 StR 262/88, BGHSt 36, 1, 15 mwN). Jedoch muss die Körperverletzungshandlung auch nach der Vorstellung des Täters auf mehr als eine Körperverletzung, nämlich auf Lebensgefährdung „angelegt“ gewesen sein (grundlegend BGH, Urteil vom 12. Oktober 1989 ‒ 4 StR 318/89, BGHSt 36, 262, 265 mwN, st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 23. Mai 2024 – 4 StR 234/23 Rn. 13; Beschluss vom 27. März 2024 – 2 StR 531/23, NStZ 2024, 676, 677; Urteil vom 27. Juli 2023 – 3 StR 509/22, NStZ-RR 2023, 367, 368; Beschluss vom 20. Dezember 2022 – 2 StR 267/22 Rn. 15; Beschluss vom 18. März 1992 – 2 StR 84/92, BGHR StGB § 223a Abs. 1 Lebensgefährdung 6).

bb) Die Strafkammer hat zutreffend angenommen, dass der Angeklagte durch die von ihm herbeigeführte Frontalkollision mit dem Fahrzeug des Geschädigten S. objektiv den Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB verwirklicht hat, obgleich der Geschädigte nur leicht verletzt wurde. Dabei hat das Landgericht zutreffend auf die im Kollisionszeitpunkt gefahrenen Geschwindigkeiten und die aufeinander einwirkenden Kräfte abgestellt, die zumindest die Annahme einer potentiell lebensgefährlichen Tathandlung begründen.

cc) Auch die Annahme eines entsprechenden Tatvorsatzes ist im Ergebnis rechtsfehlerfrei.

(1) Die Strafkammer hat tragfähig einen (bedingten) Körperverletzungsvorsatz des Angeklagten festgestellt. Ihrer Annahme, der Angeklagte habe aufgrund seiner vorangegangenen Fahrfehler die Möglichkeit, in den Gegenverkehr zu geraten und dadurch einen Unfall zu verursachen, als nicht ganz fernliegend erkannt und das damit verbundene Risiko eines Unfalls einschließlich der Verletzung anderer Verkehrsteilnehmer billigend in Kauf genommen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Dass der Angeklagte insoweit keine Frontalkollision, sondern „nur“ streifende Kollisionen vor Augen hatte, stellt die Zurechnung des konkret eingetretenen – relativ niederschwelligen – Taterfolges zu dem festgestellten Körperverletzungsvorsatz im Hinblick auf den Grundtatbestand nicht in Frage. Denn insoweit handelt es sich nur um eine unwesentliche Abweichung des vorgestellten vom tatsächlichen Kausalverlauf (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 23. Juni 2022 – 4 StR 41/22, NStZ 2023, 406; Urteil vom 13. Juli 1951 – 2 StR 277/51, BGHSt 1, 278, 279; weitere Nachweise bei Bülte in LK-StGB, 13. Aufl., § 16 Rn. 56 ff.).

(2) Die Annahme des subjektiven Tatbestands des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB wird nicht durch die im Zusammenhang mit der Verneinung eines bedingten Tötungsvorsatzes getroffene Feststellung in Frage gestellt, der Angeklagte habe mit Rücksicht auf die damit verbundene Eigengefahr darauf vertraut, dass es – nicht zuletzt aufgrund erwarteter weiterer Ausweichbewegungen des entgegenkommenden Verkehrs – zu keinem folgenschweren und damit lebensgefährlichen Frontalunfall kommen werde. Denn für § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB kommt es nur auf die Kenntnis der Umstände an, die die Tathandlung, die zu dem für möglich gehaltenen Körperverletzungserfolg geführt hat ‒ hier das Fahren in den Gegenverkehr ‒, als potentiell lebensgefährlich qualifizieren. Diese war bei dem Angeklagten vorhanden. Dass er im Vertrauen auf hinzutretende Umstände annahm, eine möglicherweise auch tödliche Frontalkollision werde gleichwohl ausbleiben und es bei einer bloßen Eskalationsgefahr verbleiben, ändert daran nichts.

b) Hingegen belegen die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen nicht, dass der Angeklagte auch den Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB verwirklicht hat.

Eine gefährliche Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB setzt voraus, dass die körperliche Misshandlung durch ein von außen unmittelbar auf den Körper einwirkendes gefährliches Tatmittel erfolgt. Wird ein Kraftfahrzeug als Werkzeug eingesetzt, muss die Verletzung bereits durch den Anstoß selbst ausgelöst und auf einen Kontakt zwischen Fahrzeug und Körper zurückzuführen sein (vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2023 – 4 StR 514/22 Rn. 17; Beschluss vom 21. November 2017 – 4 StR 488/17; Beschluss vom 3. Februar 2016 ‒ 4 StR 594/15, NStZ 2016, 724; Beschluss vom 16. Juli 2015 ‒ 4 StR 117/15, NStZ 2016, 407, 408; Beschluss vom 12. Februar 2015 ‒ 4 StR 551/14 Rn. 3; Beschluss vom 25. April 2012 ‒ 4 StR 30/12, NStZ 2012, 697, 698). Feststellungen zu einem solchen Verletzungsmechanismus hat das Landgericht nicht getroffen. Auch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe – insbesondere den festgestellten Gesundheitsbeeinträchtigungen des Geschädigten und dem festgestellten Fahrzeugschaden – lässt sich Entsprechendes nicht entnehmen (für gesundheitliche Schäden durch eine kollisionsbedingte Verengung der Fahrgastzelle vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2023 – 4 StR 514/22 Rn. 17; Beschluss vom 21. November 2017 – 4 StR 488/17).

….“

VR I: Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, oder: Räumliche Nähe/konkrete Gefahr und Kraftfahrzeug

Und dann geht es heute weiter mit verkehrsrechtlichen Entscheidungen, und zwar zweimal BGH, einmal KG und einmal ein LG.

Den Opener mache ich mit zwei BGH-Entscheidungen, einmal zum gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b StGB) bzw. die andere zum gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b StGB) und zum Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, und zwar:

„Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr erfordert, dass die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 20. März 2019 – 4 StR 517/18, NStZ 2020, 225, 226 mwN; Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94, NJW 1995, 3131 zu § 315c StGB mwN). Für die Annahme einer konkreten Gefahr genügt es daher nicht, dass sich Menschen oder Sachen in enger räumlicher Nähe zum Täterfahrzeug befunden haben (vgl. BGH, Beschluss vom 20. März 2019 – 4 StR 517/18, NStZ 2020, 225, 226; Beschluss vom 3. November 2009 – 4 StR 373/09 Rn. 6). Umgekehrt wird die Annahme einer solchen Gefahr aber auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein Schaden ausgeblieben ist, weil sich der Gefährdete – etwa aufgrund überdurchschnittlich guter Reaktion – noch zu retten vermochte.“

1. Ein Kraftfahrzeug kann nicht als Waffe im Sinne von § 113 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Alt. 1 StGB angesehen werden, da es weder von der Zweckbestimmung noch von einem typischen Gebrauch her zur Bekämpfung anderer oder zur Zerstörung von Sachen eingesetzt wird. Den Begriff der Waffe in § 113 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB in einem „nichttechnischen“ – gefährliche Werkzeuge und insbesondere bei entsprechender Verwendung auch Kraftfahrzeuge – umfassenden Sinne zu verstehen, lässt sich mit dem im Wortlaut der Vorschrift zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Willen ohne Verletzung des strafrechtlichen Analogieverbots (Art. 103 Abs. 2 GG) nicht in Einklang bringen.

2. Ein Kraftfahrzeug erfüllt auch nicht die Voraussetzungen eines gefährlichen Werkzeugs im Sinne von § 113 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Alt. 2 StGB. Denn trotz der von ihm ausgehenden erheblichen Bewegungsenergie ist ein Kraftfahrzeug bei objektiver Betrachtung kein Gegenstand, der dazu bestimmt ist, eine Kraft gegen ein anderes Objekt zu entfalten oder zu verstärken. 

3. Zum gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr durch Rammen eines Polizeifahrzeugs.

Verkehrsrecht II: Trunkenheitsfahrt mit E-Scooter, oder: Richtige Annahme des Grenzwertes von 1,1 ‰ ?

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Im zweiten Posting dann noch einmal etwas vom BGH zur Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter.

Das LG hatte den Angeklagten u.a. wegen Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB)  verurteilt und eine isolierte Sperre für die Fahrerlaubnis erteilt. Nach den Feststellungen führte der Angeklagte einen E-Scooter „der Marke Ancheer“ im Rahmen einer „Probefahrt“ auf einem öffentlichen Geh- und Radweg. Eine ihm 75 Minuten nach Fahrtende entnommene Blutprobe ergab eine BAK von 1,29 ‰.

Der BGH hat mit dem BGH, Beschl. v. 13.04.2023 – 4 StR 439/22 – die Revision des Angeklagten verworfen. Dieser habe ein Kraftfahrzeug geführt, für das der Grenzwert von 1,1 ‰ gelte:

„Die Verurteilung wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) im Fall II.2. der Urteilsgründe ist rechtsfehlerfrei. Nach den Feststellungen führte der Angeklagte den zuvor entwendeten „E-Scooter der Marke Ancheer“ im Rahmen einer „Probefahrt“ auf einem öffentlichen Geh- und Radweg. Eine ihm ungefähr 75 Minuten nach Fahrtende entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 1,29 ‰. Im Ergebnis zu Recht hat das Landgericht allein aus diesem Wert, der mangels eines Nachtrunks auch für den Fahrtzeitraum mindestens zugrunde gelegt werden konnte, auf die – absolute – Fahruntüchtigkeit des Angeklagten geschlossen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gilt der Grenzwert, von dem an eine absolute Fahruntüchtigkeit unwiderleglich indiziert ist, für alle Kraftfahrer (BGH, Beschluss vom 28. Juni 1990 – 4 StR 297/90, BGHSt 37, 89, 99 mwN), insbesondere auch für Fahrer von Krafträdern (BGH, Beschluss vom 14. März 1969 – 4 StR 183/68, BGHSt 22, 352, 360) einschließlich Fahrräder mit Hilfsmotor (Mofa) (BGH, Beschluss vom 29. Oktober 1981 – 4 StR 262/81, BGHSt 30, 251, 254). Ob an dieser pauschalen Betrachtung auch mit Blick auf die neu aufgekommene Fahrzeugklasse der Elektrokleinstfahrzeuge festgehalten werden kann, hat der Senat bisher offengelassen (BGH, Beschluss vom 2. März 2021 – 4 StR 366/20, NStZ 2021, 608).

Die Frage, die das Landgericht im Anschluss an die soweit ersichtlich einhellige obergerichtliche Rechtsprechung (KG Berlin, Beschluss vom 31. Mai 2022 – (3) 121 Ss 40/22 (13/22); KG Berlin, Urteil vom 10. Mai 2022 – (3) 121 Ss 67/21 (27/21), juris Rn. 16 ff.; OLG Hamburg, Urteil vom 16. März 2022 – 9 Rev 2/22, BeckRS 2022, 10351 Rn. 19; BayObLG, Beschluss vom 24. Juli 2020 ? 205 StRR 216/20) bejaht hat, bedarf auch hier keiner Entscheidung. Denn nach den Feststellungen handelte es sich bei dem vom Angeklagten geführten „E-Scooter“ nicht um ein Elektrokleinstfahrzeug. Dies ergibt sich, ohne dass es weiterer Feststellungen zu der technischen Beschaffenheit des Fahrzeugs bedurft hätte, bereits daraus, dass dieses eine Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h erreichen konnte, wohingegen Elektrokleinstfahrzeuge gemäß § 1 Abs. 1 eKFV nur solche Kraftfahrzeuge mit elektrischem Antrieb sind, deren bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit nicht weniger als 6 km/h und nicht mehr als 20 km/h beträgt. Da das Fahrzeug ausweislich der im Urteil in Bezug genommenen Lichtbilder keine Pedale aufwies, scheidet auch seine Klassifizierung als sog. „Pedelec“ und damit als Fahrrad des Straßenverkehrszulassungsrechts (§ 63a Abs. 2 StVZO) aus.

Im Ergebnis ist daher zweifelsfrei belegt, dass der Angeklagte ein Kraftfahrzeug führte, für das der Grenzwert von 1,1 ‰ Geltung beansprucht, und angesichts seiner festgestellten Blutalkoholkonzentration daher fahruntüchtig war.“

Dazu gibt es übrigens demnächst eine interessante Anmerkung des Kollegen Prof. RiLG. Dr. H. Neuhaus im VRR bzw. StRR. Lesenswert. Der Kollege wendet sich gegen die „automatische“ Erstreckung des Gutachtens des Bundesgesundheitsamts von 1966 auf den E-Scooter. Entscheidend für die Geltung der unwiderlegbaren Vermutung der Fahrunsicherheit ab 1,1 ‰ sei nicht, ob der Gesetz- oder Verordnungsgeber ein Fahrzeug als „Kraftfahrzeug“ einordne, sondern ob naturwissenschaftlich-medizinisches Erfahrungswissen darüber vorhanden sei, dass Führer solcher „neuen“ Fahrzeuge ab dieser Grenze absolut fahruntüchtig sind – gemessen an den Anforderungen, die an das sichere Führen solcher Fahrzeuge nach den für sie geltenden Regeln im Straßenverkehr zu stellen sind. Die Praxis prüfe das aber nicht…..

Verkehrsrecht II: Angetrunken auf dem E-Scooter, oder: Trunkenheitsfahrt?

entnommen wikimedia.org – gemeinfrei

Bei der zweiten Entscheidung des Tages handelt es sich um das KG, Urt. v. 10.05.2022 – (3) 121 Ss 67/21 (27/21). Auch hier stelle ich nur den Leitsatz vor, da es sich um eine bekannte Problematik handelt, zu der das KG Stellung nimmt.

Gegenstand des Verfahrens ist nämlich eine Trunkenheitsfahrt mit einem sog. E-Scooter. Das KG sagt – in Übereinstimmung mit der wohl überwiegenden Meinung der Obergerichte – § 316 StGB ist anwendbar. Hier die Leitsätze der Entscheidung:

    1. Auch bei einem Fahrzeugführer eines Elektrokleinstfahrzeugs (hier sog. Elektroscooters) ist davon auszugehen, dass er ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,10 ‰ (absolut) fahruntauglich im Sinne von §§ 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a), 316 Abs. 1 StGB ist.
    2. Bei der Bemessung der Tagessatzhöhe ist dem Tatgericht ein weites Ermessen eingeräumt. Aufwendungen für die Berufsausbildung können, müssen aber nicht zwingend berücksichtigt werden.

Das KG äußert sich übrigens auch zum BGH, Beschl. v. 02.03.2021 – 4 StR 366/20:

„Dem steht die Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 2. März 2021 (- 4 StR 366/20 -, juris), von dessen Existenz das Amtsgericht keine Kenntnis haben konnte, nicht entgegen. Denn abweichend von den vorliegenden Feststellungen enthielten die dem Bundesgerichtshof zur Überprüfung gestellten Urteilsgründe nicht die erforderlichen Feststellungen zur fahrzeugtechnischen Einordnung des bei den Fahrten verwendeten Elektrorollers. Soweit für den vorliegenden Fall von Belang, wird lediglich dargelegt, dass der Angeklagte u.a. mehrere Fahrten alkoholisiert – in zwei Fällen lag die BAK höher als 1,1, ‰ – mit einem Elektroroller „Sunny E-Bike“ unternommen habe. Dieser Roller habe über ein Versicherungskennzeichen verfügt und ohne Muskelkraft eine Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h erreichen können. Allein daraus lassen sich nach Auffassung des Bundesgerichtshofes noch keine hinreichend präzisen Schlüsse auf die rechtliche Einordnung des geführten Fahrzeugs ziehen. Zudem geht aus den der dortigen Entscheidung zugrunde liegenden Feststellungen – anders als im vorliegenden Fall – noch nicht einmal hervor, ob es sich um ein Elektrokleinstfahrzeug nach der eKFV oder um ein E-Bike und damit um ein Leichtmofa im Sinne der Leichtmofaausnahmeverordnung (vgl. Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht 46. Aufl., § 2 FZV Rdn. 14)  gehandelt hat.“

Und so dann auch der KG, Beschl. v. 31.05.2022 – 3 Ss 13/22 – mit den Leitsätzen:

1. Der für Führer von Kraftfahrzeugen anerkannte so genannte Beweisgrenzwert, ab dem die alkoholbedingte Fahrunsicherheit unwiderleglich („absolut“) besteht, gilt auch für Fahrer von Elektrokleinstfahrzeugen, namentlich für Nutzer von E-Scootern.
2. Bei einem Regelfall kann die sonst erforderliche Gesamtabwägung der für oder gegen die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sprechenden Umstände unterbleiben, und die tatrichterliche Prüfung kann sich darauf beschränken, ob ausnahmsweise besondere Umstände vorliegen, die der Katalogtat die Indizwirkung nehmen könnten.
3. Auch gegen einen alkoholbedingt fahrunsicheren Fahrer eines E-Scooters können die Maßregeln nach §§ 69, 69a StGB angeordnet werden.

 

Niqab am Steuer II, oder: Ist die Vollverschleierung am Steuer erlaubt?

entnommen wikimedia.org
Author Manuelfb55

Ich hatte am 23.01.2021 über den VG Düsseldorf, Beschl. v. 26.11.2020 – 6 L 2150/20 – berichtet (vgl. hier: Niqab am Steuer, oder: Ist die Vollverschleierung am Steuer erlaubt?). Zu der Entscheidung liegt jetzt der Rechtsmittelbeschluss des OVG Münster vor, und zwar der OVG Münster, Beschl. v. 20.05.2021 – 8 B 1967/20.

Ich erinnere an den Sachverhalt: Gestritten wird um die Genehmigung, beim Führen eines Kraftfahrzeuges das Tragen des “Niqab” (Nikab) zu erlauben. Das hatte das VG abgelehnt, das OLG hat die Entscheidung – im Eilverfahren – bestätigt.

Hier die Leitsätze der Entscheidung:

  1. Das in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO angeordnete Gesichtsverhüllungs- und -verdeckungsverbot soll die Erkennbarkeit und damit die Feststellbarkeit der Identität von Kraftfahrzeugführern bei automatisierten Verkehrskontrollen zu sichern, um diese bei Verkehrsverstößen heranziehen zu können. Der Vorschrift kommt (auch) eine präventive Funktion zu. Mit dieser Zielrichtung dient die Vorschrift der allgemeinen Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz hochrangiger Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer Verkehrsteilnehmer.
  2. Durch die den Straßenverkehrsbehörden in § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO eingeräumte Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung soll besonderen Ausnahmesituationen Rechnung getragen werden, die bei strikter Anwendung der Bestimmungen nicht hinreichend berücksichtigt werden könnten und eine unbillige Härte für den Betroffenen zur Folge hätten.
  3. Das Ermessen der Straßenverkehrsbehörden bei der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO von dem in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO geregelten Verbot ist nicht bereits deshalb auf Null reduziert, weil ein religiös begründetes Bedürfnis nach einer Verhüllung des Gesichts besteht (hier: Gesichtsschleier in Form eines Niqabs).
  4. Ein in der Hauptsache möglicherweise bestehender Neubescheidungsanspruch, der im weitergehenden Verpflichtungsantrag enthalten ist, kann grundsätzlich auch im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nach § 123 Abs. 1 VwGO durch Verpflichtung des Antragsgegners zur Neubescheidung gesichert werden.