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Pflichti III: Aufhebung der „Pflichti-Bestellung“, oder: Wahlverteidiger dauerhaft zur Übernahme bereit?

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Und zur Abrundung des Tagesprogramms dann noch der BGH, Beschl. v. 02.08.2023 – 3 StR 499/22 – zur Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung. Der Angeklagte hatte das beantragt, der Vorsitzende des 3. Strafsenats lehnt es ab:

„Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat im erstinstanzlichen Verfahren dem Angeklagten die Rechtsanwälte H. und S. aus M. sowie Rechtsanwalt P. aus F. als Pflichtverteidiger beigeordnet. Am 15. Juli 2022 hat es den Angeklagten wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und weiterer Delikte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil haben seine Verteidiger namens und im Auftrag des Angeklagten jeweils Revision eingelegt und diese teilweise begründet. Nach Zustellung des Urteils an den Angeklagten haben sich die Rechtsanwälte V. aus Ha. und Dr. Si. aus F. als Wahlverteidiger für den Angeklagten im Revisionsverfahren gemeldet und ebenfalls die Revision begründet.

Mit Schreiben vom 15. Mai 2023 hat der Angeklagte durch den Verteidiger Dr. Si. beantragt, die Beiordnung der Rechtsanwälte H. und S. aufzuheben, da der Angeklagte mittlerweile von mindestens zwei Wahlverteidigern verteidigt werde.

II.

Der Antrag bleibt ohne Erfolg. Die weitere ordnungsgemäße Verteidigung des Angeklagten ist nur unter Beibehaltung der Beiordnung der bestellten Pflichtverteidiger gewährleistet.

Zwar ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 143a Abs. 1 Satz 1 StPO aufzuheben, wenn der Beschuldigte einen anderen Verteidiger gewählt und dieser die Wahl angenommen hat. Jedoch kommt nach § 143a Abs. 1 Satz 2 Alternative 2, § 144 StPO die Aufhebung der Bestellung nicht in Betracht, wenn ihre Aufrechterhaltung zur Sicherung des Verfahrens erforderlich ist. Die Aufhebung der Bestellung zum Pflichtverteidiger setzt deshalb unter anderem voraus, dass der Wahlverteidiger dauerhaft zur Übernahme der Verteidigung des Angeklagten bereit und in der Lage ist. Dies ist hier nicht ersichtlich. Rechtsanwalt Dr. Si. und Rechtsanwalt V. haben sich jeweils ausdrücklich nur für die Verteidigung des Angeklagten im Revisionsverfahren gemeldet. Eine gegebenenfalls erforderliche, darüber hinausgehende Sicherung des Verfahrens kann somit nicht angenommen werden.

Ein weiterer Grund für eine Entpflichtung ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.“

Pflichti I: Rechtsmittelverzicht ohne Verteidiger?, oder: Betreuung und „Schwere der Tat“

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Und dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag.

Den eröffne ich mit dem OLG Celle, Beschl. v. 04.05.2023 – 2 Ws 135/23. Ein Klassiker. Nämlich: Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts, den der Angeklagte erklärt, ohne dass der an sich erforderliche notwendige Verteidiger anwesend ist.

Das AG hat den Angeklagten am 02.11.2022 wegen vorsätzlicher Körperverletzung iund Beleidigung  verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. In der Hauptverhandlung erklärten der nicht verteidigte Angeklagte sowie die Staatsanwaltschaft im Anschluss an die Urteilsverkündung einen Rechtsmittelverzicht.

Mit Schriftsatz vom 08.11.2022 legte der Angeklagte durch seine nunmehr bevollmächtigte Verteidigerin Berufung gegen das Urteil ein und macht geltend, der erklärte Rechtsmittelverzicht sei mangels Mitwirkung eines Verteidigers an der Hauptverhandlung unwirksam. Es habe ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen, da der Angeklagte bei Begehung der abgeurteilten Taten unter Bewährung gestanden habe, eine Begutachtung des Angeklagten zu den Voraussetzungen gem. §§ 20, 21 sowie § 64 StGB angezeigt gewesen wäre und der Angeklagte gerichtlich wie außergerichtlich von einer Betreuerin vertreten werde, deren Aufgabenkreis u.a. Rechts- / Antrags- und Behördenangelegenheiten umfasse.

Das LG hat die Berufung gem. § 322 StPO als unzulässig verworfen. Sie erachtet den erklärten Rechtsmittelverzicht für wirksam, denn der Angeklagte sei verhandlungsfähig gewesen und ein Fall der notwendigen Verteidigung habe nicht vorgelegen.

Dagegen die als „Revision“ bezeichneten Eingabe der Verteidigerin. Die hatte beim OLG Erfolg:

1. Die gem. § 300 StPO als die allein statthafte sofortige Beschwerde gem. § 322 Abs. 2 StPO auszulegende Eingabe der Verteidigerin des Angeklagten ist zulässig und in der Sache auch begründet.

Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten zu Unrecht als unzulässig verworfen, denn der von dem seinerzeit nicht anwaltlich vertretenen Angeklagten in der Hauptverhandlung vor dem Strafrichter erklärte und im Protokoll beurkundete Rechtsmittelverzicht war unwirksam. Der Rechtsmittelverzicht steht mithin der Zulässigkeit des von dem alsdann beauftragten Verteidiger fristgerecht eingelegten Rechtsmittels nicht entgegen.

Zwar ist im Hauptverhandlungsprotokoll vom 2. November 2022 vermerkt, dass die Rechtsmittelverzichtserklärung dem Angeklagten – wie in § 273 Abs. 3 S. 3 StPO vorgeschrieben – noch einmal vorgelesen wurde und die Genehmigung erfolgt ist, so dass die Sitzungsniederschrift gemäß § 274 Satz 1 StPO für den erklärten Verzicht beweiskräftig ist. Zudem kann ein erklärter Rechtsmittelverzicht als Prozesshandlung grundsätzlich nicht widerrufen, angefochten oder sonst zurückgenommen werden. In der Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass in besonderen Fällen schwerwiegende Willensmängel bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts aus Gründen der Gerechtigkeit dazu führen, dass eine Verzichtserklärung von Anfang an unwirksam ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. 1. 2008 – 2 BvR 325/06, NStZ-RR 2008, 209 m. zahlr. w. N); denn im Hinblick auf die Unwiderruflichkeit des Rechtsmittelverzichts kann es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sein, wenn der Angeklagte nur aus formellen Gründen an den äußeren Wortsinn einer Erklärung gebunden wird, der mit seinem Willen nicht im Einklang steht (BVerfG a.a.O.).

Ein solcher Ausnahmefall wird u. a. dann angenommen, wenn entgegen § 140 StPO ein Verteidiger in der Hauptverhandlung nicht mitgewirkt hat und der Angeklagte unmittelbar nach der Urteilsverkündung auf Rechtsmittel verzichtet hat (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 2. Mai 2012 – 4 Ws 41/12 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 26. März 2009 – 5 Ws 91/09 –, juris; BGH, Beschluss vom 5. 2. 2002 – 5 StR 617/01, NJW 2002, 1436, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 302, Rn. 25a). Der von einem Angeklagten in derartiger Weise abgegebene Rechtsmittelverzicht wird als unwirksam angesehen, weil sich der Angeklagte nicht mit einem Verteidiger beraten konnte, der ihn vor übereilten Erklärungen hätte abhalten können (vgl. KG Berlin a.a.O., OLG Hamm a.a.O., BGH a.a.O.)

So liegt der Fall hier, denn entgegen der Auffassung des Landgerichts Bückeburg war ersichtlich ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben.

Soweit das Landgericht ausführt, ein Fall von § 140 Abs. 2 StPO liege nicht vor, da der Angeklagte angesichts der schriftlichen Urteilsgründe des Amtsgerichts Bückeburg und der darin nicht nur formelhaft begründeten Bewährungsentscheidung nicht mit einem Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Oldenburg vom 10. September 2020 (Az.: 85 Ds 7/20) zu rechnen habe, geht der Einwand fehl.

Denn allein maßgeblich für die Frage, ob ein Fall von § 140 Abs. 2 StPO gegeben ist, ist der Zeitpunkt der Hauptverhandlung und der dort abgegebenen Rechtsmittelverzichtserklärung. Hier war dem Angeklagten schon deshalb ein Verteidiger beizuordnen, weil gravierende Zweifel daran bestehen, dass er in der Lage war, sich selbst zu verteidigen. Denn nach der Rechtsprechung ist in Fällen, bei denen dem Angeklagten – wie hier – ein Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt wurde, regelmäßig ein Fall von § 140 Abs. 2 StPO gegeben (KG, Beschluss vom 20.12.2021, Az.: (2) 161 Ss 153/21 (35/21), BeckRS 2021, 43952; OLG Hamm, Beschluss vom 14. 8. 2003 – 2 Ss 439/03, NJW 2003, 3286; LG Magdeburg, Beschluss vom 21. Juli 2022 – 25 Qs 53/22 –, juris; LG Berlin, Beschluss vom 14. Dezember 2015 – 534 Qs 142/15 –, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 140, Rn. 30). Vorliegend trat kumulativ hinzu, dass sich die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Voraussetzungen von §§ 20, 21 sowie § 64 StGB förmlich aufdrängte, denn das Amtsgericht stellt im Urteil vom 2. November 2022 selbst fest, dass der Angeklagte vor den abgeurteilten Taten 3,5 Liter Bier sowie eine halbe Flasche Wodka konsumiert hatte, hochgradig alkoholabhängig ist, zahlreiche Male strafrechtlich wegen Körperverletzungsdelikten sowie wegen Trunkenheitsfahrten verurteilt wurde und noch bis zum 1. Februar 2022 eine stationäre Alkoholtherapie absolviert hatte. Mithin drohte dem Angeklagten im Falle einer Verurteilung wegen der im hiesigen Verfahren angeklagten Taten nicht nur ein Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten 9-monatigen Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Oldenburg vom 10. September 2020, sondern auch die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB und damit ein weiterer sonstiger schwerwiegender Nachteil, der bei der Prüfung der Voraussetzungen von § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen war (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21; MüKoStGB/van Gemmeren, 3. Aufl. 2016, StGB § 64 Rn. 105; LG Kleve, Beschluss vom 14. November 2014 – 120 Qs 96/14 –, juris).

Nach alledem war der Strafrichter des Amtsgerichts Bückeburg aus Gründen der prozessualen Fürsorgepflicht gehalten, dem Angeklagten von Amts wegen einen Verteidiger beizuordnen, der ihm in der Hauptverhandlung beistehen und mit dem er sich hätte beraten können. Der unmittelbar nach Urteilsverkündung von dem Angeklagten erklärte Rechtsmittelverzicht kann bei Würdigung der Gesamtumstände in der Person des Angeklagten nicht als rechtswirksam erachtet werden. Da der im Protokoll beurkundete Rechtsmittelverzicht mithin der Zulässigkeit des fristgerecht eingelegten Rechtsmittels nicht entgegensteht, war der angefochtene Beschluss aufzuheben.“

Wenn man es liest, kann man nur den Kopf schütteln, und zwar doppelt. Nämlich einmal über die Verteidigerin, die sich – gelinde ausgedrückt – im Rechtsmittelrecht nicht so gut auszukennen scheint und ihre Eingabe als „Revision“ bezeichnet hat. Aber man muss m.E. den Kopf noch mehr über AG und LG schütteln. Da sieht man es als nicht notwendig an, einem Angeklagten, der – wenn der Vortrag der Vereteidigerin stimmt – bei Begehung der abgeurteilten Taten unter Bewährung gestanden hat, dessen Begutachtung zu den Voraussetzungen gem. §§ 20, 21 StGB sowie § 64 StGB ggf. angezeigt gewesen wäre und der  gerichtlich wie außergerichtlich von einer Betreuerin vertreten wird, deren Aufgabenkreis u.a. Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten umfasst, ohne Verteidiger? Ohne weitere Worte.

StPO II: Einziehung einer Photovoltaikanlage, oder: Zubehör ist rechtlich selbständig

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Und als zweite Entscheidung dann das BGH, Urt. v. 12.07.2023 – 6 StR 417/22.

Das LG hat den Angeklagten F.   wegen Beihilfe zum bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt sowie die Einziehung eines mit einer Tennishalle bebauten Grundstücks, der auf dem Hallendach installierten Photovoltaikanlage und des Wertes von Taterträgen angeordnet. Dagegen die Revision, die hinsichtlich der Einziehung teilweise Erfolg hatte:

„1. Nach den Feststellungen betrieben die bereits verurteilten D.Y., T., O.Y. sowie weitere Personen in der leerstehenden Tennishalle des Angeklagten F. eine Marihuanaplantage. In der Zeit von September 2020 bis Mai 2021 kam es zu einer Ernte und einer weiteren Anpflanzung. Wegen der ihm versprochenen Hallenmiete billigte F. den Anbau des Marihuanas zum gewinnbringenden Weiterverkauf und die Versorgung der Plantage mit Strom aus der auf dem Dach der Halle montierten Photovoltaikanlage; ferner unterstützte er beide Anbauvorgänge durch die Bereitstellung von Wohnraum für die Plantagenarbeiter, Transporttätigkeiten und das Überlassen von Gerätschaften.

2. Die zum Schuld- und Strafausspruch erhobenen Verfahrensrügen versagen aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts. Der Erörterung bedarf nur das Folgende:

……

3. Eine weitere Verfahrensbeanstandung des Angeklagten führt zur Aufhebung der Entscheidung über die Einziehung der Photovoltaikanlage.

a) Der Angeklagte rügt zu Recht, dass er auf diese Rechtsfolge weder in der zugelassenen Anklage noch in der Hauptverhandlung hingewiesen wurde.

aa) Einem Angeklagten ist nach § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO in der Hauptverhandlung stets ein förmlicher Hinweis zu erteilen, wenn die zugelassene Anklage keinen Hinweis auf eine dort genannte Rechtsfolge enthält, wie etwa die Maßnahme der Einziehung von Tatmitteln (§ 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB). Die Hinweispflicht gilt unabhängig davon, ob sich in der Hauptverhandlung im Vergleich zum Inhalt der Anklageschrift oder des Eröffnungsbeschlusses neue Tatsachen ergeben haben (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2020 – GSSt 1/20, BGHSt 66, 20).

bb) Der danach gebotene Hinweis wurde dem Angeklagten nicht erteilt. Insbesondere musste er nicht davon ausgehen, dass die Einziehung der auf dem Dach der Tennishalle installierten Photovoltaikanlage, die später der Versorgung der Marihuanaplantage mit Strom diente, schon aus ihrer Zubehöreigenschaft (§ 97 BGB) folgt. Denn Zubehör ist grundsätzlich rechtlich selbstständig; es unterliegt insoweit den für bewegliche Sachen geltenden Vorschriften, Zubehörstücke teilen daher nicht zwingend das rechtliche Schicksal der Hauptsache (vgl. MüKo-BGB/Stresemann, 9. Aufl., § 97 Rn. 42).

b) Auf diesem Rechtsfehler, der auch die zugehörigen Feststellungen erfasst (§ 353 Abs. 2 StPO), beruht die Einziehungsentscheidung. Denn es erscheint zumindest möglich, dass sich der Angeklagte erfolgreicher hätte verteidigen können (vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2020 – 5 StR 20/19).“

StPO I: Ein wirksamer Eröffnungsbeschluss fehlt, oder: Wenn im „Umlaufverfahren“ „entschieden“ wurde

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Der BGH ist in der letzten Zeit ein wenig kurz gekommen. Daher heute ein wenig StPO vom BGH.

Den Opener macht der BGH, Beschl. v. 06.06.2023 – 5 StR 136/23. Das LG hatte den wegen gefährlicher Körperverletzung und wegen Diebstahls verurteilt. Die dagegen eingelegte Revision des Angeklagten führt dann zur Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses. Es fehlte an einem wirksamen Eröffnungsbeschluss:

„1. Zur Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 203 StPO genügt eine schlüssige und eindeutige Willenserklärung des Gerichts, die Anklage nach Prüfung und Bejahung der Eröffnungsvoraussetzungen zur Hauptverhandlung zuzulassen (BGH, Beschluss vom 4. August 2016 – 4 StR 230/16, NStZ 2016, 747 mwN). Der Eröffnungsbeschluss muss schriftlich abgefasst, aber nicht von allen Richtern unterschrieben werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Oktober 2013 – 3 StR 167/13, NStZ 2014, 400 f.; vom 21. Oktober 2020 – 4 StR 290/20, NStZ 2021, 179, jeweils mwN).

Die Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens und die Zulassung der Anklage vor einer Großen Strafkammer ist stets mit drei Berufsrichtern in der Besetzung außerhalb der Hauptverhandlung zu treffen (§ 199 Abs. 1 StPO iVm § 76 Abs. 1 Satz 2 GVG). Wirken an der Eröffnungsentscheidung weniger Berufsrichter mit, ist sie unwirksam (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Juli 2019 – 4 StR 310/19 mwN). Das Fehlen eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses stellt ein in diesem Verfahren nicht mehr behebbares Verfahrenshindernis dar, das die Einstellung des Verfahrens zur Folge hat (vgl. BGH, aaO).

2. Auch eingedenk der eingeholten dienstlichen Erklärungen der drei Berufsrichter der Strafkammer kann der Senat nicht hinreichend sicher (vgl. zu diesem Maßstab BGH, Beschluss vom 4. August 2016 – 4 StR 230/16, NStZ 2016, 747) feststellen, dass das Landgericht eine wirksame Eröffnungsentscheidung getroffen hat. Der schriftliche Eröffnungsbeschluss ist nur von zwei Berufsrichtern unterschrieben worden.

a) Fehlt – wie hier – eine Unterschrift auf dem Eröffnungsbeschluss, muss anderweitig nachgewiesen sein, dass der Beschluss von allen hierzu berufenen Richtern gefasst worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2011 – 3 StR 280/11, NStZ 2012, 225). Dies setzt eine mündliche Beschlussfassung oder eine dahin zu verstehende gemeinsame Besprechung oder Beratung über die Eröffnung voraus (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2014 – 2 StR 516/13).

Wird der Beschluss im Umlaufverfahren – also im Wege einer schriftlichen Beratung und Abstimmung aufgrund eines Entscheidungsvorschlags (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. September 1991 – 2 B 99/91, NJW 1992, 257) – getroffen, führt das Fehlen einer Unterschrift zu dessen Unwirksamkeit, denn es handelt sich bis zur Unterzeichnung durch alle Richter lediglich um einen Entwurf (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Oktober 2013 – 3 StR 167/13, NStZ 2014, 400 f.; vom 29. September 2011 – 3 StR 280/11, NStZ 2012, 225).

b) Zwar haben die beisitzenden Richter dienstlich erklärt, auch der Vorsitzende (dessen Unterschrift fehlt) habe an dem Beschluss mitgewirkt. Dieser hat jedoch erläutert, er habe an dem Beschluss „im Wege des Umlaufverfahrens mitgewirkt“; dass die Entscheidung auch von seinem Willen mitgetragen worden sei, ergebe sich aus einer auf dem Eröffnungsbeschluss getroffenen Verfügung und weiteren Beschlüssen vom selben Tage.

Aus den dienstlichen Erklärungen folgt weder eine konkrete mündliche Beschlussfassung noch eine dahin zu verstehende gemeinsame Besprechung oder Beratung, sondern vielmehr, dass der Beschluss im Umlaufverfahren gefasst werden sollte. Weil im Umlaufverfahren nur zwei von drei Richtern den Eröffnungsbeschluss unterschrieben haben, stellt er mithin keine ausreichende Grundlage für das Verfahren dar. Die auf dem Beschlussentwurf angebrachte Verfügung des Vorsitzenden ist weder unterschrieben noch datiert und belegt deshalb seine Mitwirkung an der Beschlussfassung ebenfalls nicht.

3. Das Fehlen eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses hat die Einstellung des Verfahrens nach § 206a Abs. 1 StPO zur Folge. Zur Klarstellung hat der Senat das angegriffene Urteil mit den Feststellungen aufgehoben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. September 2011 – 3 StR 280/11, NStZ 2012, 225; vom 13. März 2014 – 2 StR 516/13; vom 31. Juli 2008 – 4 StR 251/08; vgl. aber auch etwa BGH, Beschluss vom 18. Juli 2019 – 4 StR 310/19).“

AG I: Ist das AG an den Strafbefehlsantrag gebunden?, oder: Abweichende Kostenentscheidung im Strafbefehl

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Heute dann mal drei Entscheidungen „von ganz unten“, also von Amtsgerichten 🙂 . Zwei kommen aus dem OWi-Bereich, eine betrifft das Strafbefehlsverfahren.

Ich beginne mit dem AG Kehl, Beschl. v. 18.07.2023 – 2 Cs 308 Js 17340/22 – zum Strafbefehlsverfahren. Das AG nimmt zu einer interessanten Frage Stellung, nämlich dazu, ob das Gericht einen Strafbefehl mit einer vom Antrag der Staatsanwaltschaft abweichenden Kostenentscheidung erlassen kann.

Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die StA hatte den Erlass eines Strafbefehls u.a. mit dem Vorwurf des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte beantragt. Der Angeklagte habe sich tätlich der Ingewahrsamnahme durch die Polizei wegen Trunkenheit widersetzt und die Polizeibeamten dabei beleidigt. Da der Angeklagte nach den Feststellungen der Polizei am Tattag gegen 0:55 Uhr „volltrunken“ auf dem Gehweg gelegen sei und sich in „einem, die freie Willensausübung ausschließenden Zustand“ befunden habe, gab das AG die Sache wegen Bedenken hinsichtlich der Schuldfähigkeit des Angeklagten an die Staatsanwaltschaft zurück und regte an, den Vorwurf auf (fahrlässigen) Vollrausch umzustellen, was die Staatsanwaltschaft mit Verweis auf die Blutalkoholkonzentration, die für die um 3:48 Uhr entnommene Blutprobe 1,77 ‰ betrug, ablehnte.

Das daraufhin vom AG eingeholte Sachverständigengutachten kam zum Ergebnis, dass – nach Aktenlage – von einer maximalen Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit von 2,54 ‰ und einer erheblichen Minderung des Steuerungsvermögens auszugehen sei, wobei ihre vollständige Aufhebung nicht ausgeschlossen werden könne.

Der erneuten, nunmehr zusätzlich auf das Gutachten gestützten Anregung des Gerichts, den Vorwurf auf Vollrausch umzustellen, kam die Staatsanwaltschaft zwar dann mit dem Antrag vom 06.06.2023 unter Vorlage eines entsprechend neu gefassten Entwurfs des Strafbefehls nach. Der Auffassung des AG, dass es hinsichtlich der Kostenentscheidung im Strafbefehl angezeigt erscheine, die Auslagen für das Gutachten gemäß § 465 Abs. 2 StPO der Staatskasse aufzuerlegen, verschloss sie sich indes, sodass der von der ihr vorbereitete Strafbefehlsentwurf hinsichtlich der Kosten vorsah , dass der Angeklagte „die Kosten des Verfahrens und [seine] notwendigen Auslagen zu tragen“ habe; eine Kostentragungspflicht des Angeschuldigten einschließlich der Kosten für das rechtsmedizinische Gutachten sei nicht zu beanstanden, weil vorliegend keine abweichende Entscheidung aus Gründen der Billigkeit geboten sei, wie es bei einem sog. fiktiven Freispruch oder bei Reduzierung des Tatvorwurfs auf ein minder schweres Delikt der Fall sei.

Das AG hat den Strafbefehl erlassen, aber eine vom Entscheidungsentwurf der StA abweichende Kostenentscheidung getroffen:

„Zwar bestimmt § 408 Abs. 3 Satz 2 StPO, dass der Richter nicht eigenmächtig einen Strafbefehl mit einem vom Antrag abweichenden Inhalt erlassen darf, sondern Hauptverhandlung anberaumt, wenn er eine andere als die beantragte Rechtsfolge festsetzen will und die Staatsanwaltschaft bei ihrem Antrag beharrt. Die Kostenentscheidung ist aber nicht Rechtsfolge in diesem Sinne, selbst wenn sie – wie hier – bereits in dem von der Staatsanwaltschaft vorbereiteten Entscheidungsentwurf enthalten ist. Vielmehr umfasst der eigentliche Strafbefehlsantrag neben der zu ahndenden Tat und ihrer rechtlichen Bewertung nur die Rechtsfolgen der Tat im Sinne des Dritten Abschnitts des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs.

Ursprünglich bestimmte § 408 StPO in der § 448 der Strafprozessordnung vom 01.07.1877 (RGBl. S. 253) entsprechenden Fassung (RGBl. I 1924 S. 322), dass der Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine bestimmte Strafe zu richten (Abs. 1 Satz 1) und die Sache zur Hauptverhandlung zu bringen ist, wenn der Amtsrichter eine andere als die beantragte Strafe festsetzen will und die Staatsanwaltschaft bei ihrem Antrage beharrt (Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Satz 1); zugleich bestimmte § 464 Abs. 1 Satz 1 StPO, wie immer noch, dass jeder Strafbefehl darüber Bestimmung treffen muss, von wem die Kosten des Verfahrens tragen sind. An dieser inhaltlichen Trennung zwischen Strafbefehlsantrag und – im Übrigen auch ohne Antrag der Staatsanwaltschaft von Amts wegen zu treffenden (vgl. KK-StPO/Gieg, 9. Aufl. 2023, StPO § 464 Rn. 1) – Kostenentscheidung hat sich seitdem nichts geändert. Lediglich der Anwendungsbereich des Strafbefehlsverfahrens wurde durch das Zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26.11.1964 (BGBl. I S. 921) um die Festsetzung bestimmter Nebenfolgen sowie Maßregeln der Sicherung und Besserung neben der Strafe erweitert, wobei diese Aufzählung später zur sprachlichen Anpassung unter Übernahme des Begriffes aus dem Strafgesetzbuch (BTDrs. 7/550, S. 300, 306) mit dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 02.03.1974 (BGBl. I S. 469) durch „Rechtsfolge“ ersetzt wurde.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 465 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und 2 StPO. Wegen seiner Verurteilung hat der Angeklagte grundsätzlich die Kosten des Verfahrens sowie seine notwendigen Auslagen zu tragen. Ihn mit den Auslagen für das Gutachten zu belasten wäre jedoch – jedenfalls im jetzigen Verfahrensstand – unbillig, weil diese Auslagen nur entstanden sind, um die Staatsanwaltschaft, die trotz gewichtiger Anhaltspunkte für die rauschbedingte Schuldunfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit zunächst bei ihrem Strafbefehlsantrag beharrte, davon zu überzeugen, dass lediglich hinreichender Tatverdacht wegen Vollrauschs besteht.“