Archiv der Kategorie: Untersuchungshaft

Kleinvieh macht zwar Mist – 5 Betrugstaten mit kleineren Schäden begründen aber noch keine Wiederholungsgefahr

Der subsidiäre Haftgrund der Wiederholungsgefahr aus § 112a StPO ist für den Beschuldigten nicht ungefährlich, denn wenn keine Flucht- oder Verdunkelungsgefahr vorliegt, dann kann schnell auf diesen Haftgrund ausgewichen werden. Allerdings: Für den Haftgrund des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO ist es erforderlich, dass die fortgesetzte bzw. wiederholt begangene Anlasstat zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung geführt hat (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 01.04.2010 – III-3 Ws 161/10).

Dazu führt das OLG Hamm aus:

„Für den Haftgrund des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO ist es erforderlich, dass die fortgesetzte bzw. wiederholt begangene Anlasstat zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung geführt hat, wobei bei einer wiederholten Begehung der Anlasstat der erforderliche Schweregrad grundsätzlich bei jeder einzelnen Tat vorliegen muss (vgl. Hilger in Löwe-Rosenberg, a.a.O., § 112 a Rdnr. 32; Graf in KK, a.a.O., § 112 a Rdnr. 14). Erforderlich sind Anlasstaten, die einen überdurchschnittlichen Schweregrad und Unrechtsgehalt aufweisen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 13.11.2003 – 3 Ws 500/03 -; OLG Köln, Beschluss vom 27.10.2009 – 1 Ws 117/09 -, BeckRS 2010 00263; OLG Frankfurt am Main NStZ 2001, 75; Meyer-Goßner, a.a.O., § 112 a Rdnr. 9; Graf in KK, a.a.O., § 112 a Rdnr. 14). Es muss sich um solche Taten handeln, die mindestens in der oberen Hälfte der mittelschweren Straftaten liegen (vgl. OLG Hamm, a.a.O.; Hilger in Löwe-Rosenberg, a.a.O., § 112 Rdnr. 34). Maßgebend bei der Bewertung sind insbesondere auch Art und Umfang des jeweils angerichteten Schadens (vgl. OLG Hamm, a.a.O.; OLG Köln, a.a.O.; OLG Frankfurt, a.a.O.; OLG Jena NStZ-RR 2009, 143; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2006, 210; Meyer-Goßner, a.a.O.; Graf in KK, a.a.O.).

Unter Zugrundelegung der obigen Ausführungen ist in dem vorliegenden Verfahren der erforderliche Schweregrad bei den Anlasstaten, durch die Vermögensschäden in Höhe von 1.000,00 € bis 1.905,00 € verursacht worden sind, nach Auffassung des Senats noch nicht erreicht. Bei Schäden in der vorgenannten Größenordnung kann nämlich noch nicht von einem überdurchschnittlichen Schaden ausgegangen werden. Der Senat hat bei dieser Bewertung vergleichend darauf abgestellt, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein Vermögensverlust „großen Ausmaßes“ i. S. d. § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 Alternative 1 StGB erst bei einem Wert von 50.000,00 € erreicht ist (vgl. BGH NJW 2004, 169). Angesichts dessen können Schadenshöhen von lediglich 2 % (1.000,00 €) bis 3,81 % (1.905,00 €) dieses Betrages noch nicht als überdurchschnittliche Vermögensschäden eingestuft werden. Eine gewisse Bestätigung findet dieses Ergebnis auch in der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für die Bundesrepublik Deutschland. So ergibt sich für das Berichtsjahr 2008 (PKS 2008, S. 192, Tabelle 07) ein durchschnittlicher Schadensbetrag von ca. 7.836,00 € bei 612.602 vollendeten Betrugsfällen (ohne Leistungserschleichung und Computerbetrug) mit einem Gesamtschaden von 4.800,6 Millionen Euro, wobei nicht verkannt wird, dass der Aussagewert dieser Statistiken insofern beschränkt ist, als deliktspezifisch von einem hohen Dunkelfeld auszugehen ist und außerdem Einzelfälle mit ganz außergewöhnlicher hoher Schadenssumme (sog. Ausreißer) den Durchschnittswert verschieben können (vgl. BGH NJW 2004, 169  m. w. N.)…“

Pflichtverteidigerbestellung bei Untersuchungshaft – verfahrensbezogen Ja oder Nein?

Ein Streitpunkt (vgl. hier und hier) bei der Auslegung der neuen Vorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ist die Frage, ob der Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger auch dann zu bestellen ist, wenn die Untersuchungshaft  nicht in demjenigen Verfahren vollzogen wird, für welches sich der Verteidiger bestellt hat.

Das OLG Frankfurt sagt in seinem Beschl. v. 22.04.2010 – 3 Ws 351/10, auf den ich erst jetzt gestoßen bin: Dem Beschuldigten ist der Rechtsanwalt gleichwohl zum Pflichtverteidiger zu bestellen. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut der gesetzlichen Neuregelung. Es werde dort ausschließlich die Vollstreckung von Untersuchungshaft als Anknüpfungspunkt für die Erforderlichkeit der Pflichtverteidigung genannt. Auch historische Argumente sprechen nach Auffassung des OLG für diese Sichtweise, da bereits zur alten Rechtslage anerkannt war, dass eine Beiordnung verfahrensunabhängig zu erfolgen hatte.

M.E. nach Sinn und Zweck der Neuregelung zutreffend.

Die erforderliche Auswechselung des „quasi aufgezwungenen“ Pflichtverteidigers

Kurz und trocken hat das LG Bochum in einem Beschl. v. 01.12.2010 – II 21 KLs 36 Js 370/10 – 25/10 – den Pflichtverteidiger ausgewechselt, nachdem dem Beschuldigten im Verfahren nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO keine Gelegenheit gegeben worden war zur Pflichtverteidigerbestellung Stellung zu nehmen. Und zwar Auswechselung ohne Wenn und Aber, sprich: Ohne Sperenzchen bei der Frage der Kosten/gesetzlichen Gebühren.

Beschleunigung, Beschleunigung, je oller das Verfahren, je doller…

Die Entscheidung des OLG Nürnberg v. 21.10.2010 – 1 Ws 579/10 setzt sich mit der Frage auseinander, ob das OLG – wenn nach einer Haftprüfung gem. §§ 121, 122 StPO die in Strafsachen gebotene Beschleunigung des Verfahrens missachtet wird – den Haftbefehl wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot ggf. auch schon vor Ablauf der weiteren Prüfungsfrist des § 121, 122 StPO aufheben darf. Das OLG bejaht das wie folgt:

„1. Der Senat ist bereits vor Ablauf der mit Beschluss vom 29.7.2010 gesetzten weiteren Prüfungsfrist von 3 Monaten gem. § 121 Abs. 1 StPO befugt, den Haftbefehl wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot aufzuheben. Es kann offenbleiben, ob und innerhalb welchen Zeitfensters das OLG eine haftaufhebende Entscheidung vor Ablauf der 6-Monatsfrist treffen darf (vgl. für den uneinheitlichen Meinungsstand LR-Hilger § 122 Rdn. 29, 30). Jedenfalls für die Zeit erneuter Prüfungen hat das Oberlandesgericht mit Vorlage der Akten unverzüglich den Haftbefehl aufzuheben, wenn die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO nicht mehr gegeben sind. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 122 Abs. 4 S. 1 StPO, der bestimmt, dass allein dem Oberlandesgericht auch nach Rückübertragung gem. § 122 Abs. 3 S. 3 StPO die Haftverlängerungskompetenz vorbehalten ist. Ergänzend legt § 122 Abs. 4 S. 2 StPO für diese Prüfung eine Höchstfrist fest, denn die Prüfung nach § 121 Abs. 1 StPO muss „spätestens“ nach drei Monaten wiederholt werden. Die Festlegung des Höchstprüfungszeitraums im Haftfortdauerbeschluss des Oberlandesgerichts hat das Ziel, eine kontinuierliche, aber auch schematisierte Haftkontrolle zu gewährleisten. Es soll sichergestellt werden, dass die Akten bis zum festgelegten Termin zur Prüfung vorgelegt werden. Eine zeitliche Einschränkung der Haftkontrolle mit der Folge unzulässiger vorfristiger Entscheidung kann aus der Vorschrift nicht entnommen werden (vgl. auch OLG Düsseldorf StV 1991, 222; SK-StPO/Paeffgen § 122 Rn. 13 a.E). Andernfalls würde das Oberlandesgericht durch eine Rückübertragung nach § 122 Abs. 3 S. 3 StPO sich selbst seiner Entscheidungskompetenz gem. § 121 Abs. 1 begeben, die das Haftgericht wegen § 121 Abs. 4 S. 1 StPO nicht hat. Dies hätte die gesetzwidrige Folge, dass überhaupt kein Gericht mehr für die Haftkontrolle zuständig wäre, weil das eine Gericht noch nicht und das andere nicht bzw. nicht mehr zuständig wäre.“

In der Sache kommt das OLG dann auch zur Aufhebung, weil das LG acht Monate nach Eingang der Anklage und mehr als ein Jahr nach Beginn der U-Haft immer noch keinen Termin anberaumt hatte. Die Frist von drei Monaten, die i.d.R. höchstens zwischen der Eröffnung des Hauptverfahrens und der Hauptverhandlung liegen soll/darf, scheint sich im Übrigen allmählich zu verfestigen (vgl. dazu auch BVerfG StV 2007, 366  m.w.N., OLG Nürnberg StraFo 2008, 469). Hier ist – so das OLG – primär zwar auf den förmlichen Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses abzustellen, darüber hinaus ist aber auch zusätzlich zu prüfen, ob bereits zu einem früheren Zeitpunkt die Eröffnungsreife gegeben war.

Bist du frei, muss ich die Rechtmäßigkeit der Haft nicht mehr prüfen

In „Haftsachen“ stellt sich nicht selten die Frage nach dem sog. Fortsetzungsfeststellungsinteresse. So auch in dem der Entscheidung des OLG Jena v. 25.08.2010 – 1 Ws 345/10 zugrunde liegenden Verfahren. Gegen den in der Hauptverhandlung ausgebliebenen Angeklagten war Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO ergangen. Der Verteidiger legte Beschwerde ein, die das LG verworfen hat. Dagegen weitere Beschwerde. Bevor das OLG darüber entschieden hat, ist der Angeklagte dann in der neu anberaumten Hauptverhandlung frei gelassen worden.

Das OLG Jena sagt: In diesem Fall gebietet es der Anspruch des Angeklagten auf effektiven Grundrechtsschutz nicht, ihm die Möglichkeit zu geben, die Rechtmäßigkeit des erledigten Haftbefehls durch die (weitere) Beschwerde überprüfen zu lassen. Das kann  man auch anders sehen, so z.B. das OLG Düsseldorf und das OLG Celle, wie das OLG Jena das OLG Frankfurt (vgl. dazu meine Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 5. Aufl., Rn. 1439).