Archiv der Kategorie: Untersuchungshaft

Haft II: Sechs-Monats-Haftprüfungsverfahren I, oder: Wer zu früh kommt……

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Dei zweite Entscheidung kommt aus dem Haftprüfungsverfahren beim OLG nach den §§ 121 ff. StPO.

In dem zugrunde liegenden Verfahren sind die Angeklagten jeweils am 09.08.2023 festgenommen worden und befinden sich seit diesem Tage ununterbrochen in Untersuchungshaft. Die Angeklagten befanden sich deshalb erst mit dem 10.02.2024 sechs Monate lang in Untersuchungshaft. Dennoch waren die Akten bereits im Dezember 2023 dem OLG zur Haftprüfung vorgelegt worden. Das OLG hat nicht in der Sache entschieden, sondern die Akten an die Strafkammer zurückgegeben.

Das das OLG Schleswig führt im OLG Schleswig, Beschl. v. 03.01.2024 – 1 Ws 44/23 H – aus:

„…

Die besondere Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO durch den Senat ist deshalb noch nicht zulässig.

1. Der zuständige gesetzliche Richter (Art. 101 Abs. 2 Satz 1 GG) für die weiteren gerichtlichen Entscheidungen über die Untersuchungshaft vor Erreichen der Grenze von sechs Monaten ist hier nach § 126 Abs. 2 StPO allein die Strafkammer. Der Senat könnte nur nach §§ 117 Abs. 2, 304 StPO als Beschwerdegericht tätig werden, Beschwerde ist aber nicht eingelegt.

Außer der Zuständigkeitsregelung liegt dieser Beurteilung der Befugnis des Senats zur besonderen Haftprüfung auch die Erwägung zugrunde, dass die Aufhebung der Untersuchungshaft mangels besonderer, ihre Fortdauer rechtfertigenden Umstände nach § 121 Abs. 1 StPO gegenüber den allgemeinen Haftvorschriften eine Ausnahmeregelung ist. Wenn die allgemeinen Haftvoraussetzungen vorliegen und die Untersuchungshaft weder unverhältnismäßig noch der Vollzug des Haftbefehls aussetzbar ist, darf das Gericht von der Untersuchungshaft nicht absehen. Eine Ermächtigung hierzu gewähren allein die §§ 121, 122 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage, § 121 Rz. 27). Die Untersuchungshaft muss danach mindestens sechs Monate gedauert haben (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 26. Juli 1988 – HEs 40/88 –, Rn. 1 – 2, juris m. w. N.).

Wenn sich abzeichnet, dass die Untersuchungshaft voraussichtlich über sechs Monate lang dauern wird, ehe ein Urteil ergehen kann, so sind die Akten dem Oberlandesgericht nach §§ 121 Abs. 3 Satz 1, 122 Abs. 1 StPO vor Ablauf der 6-Monats-Frist vorzulegen (vgl. Nr. 56 Abs. 1 RiStBV). Das sollte trotz des Ruhens der Frist nach Vorlage gemäß § 121 Abs. 3 Satz 1 StPO so rechtzeitig geschehen, dass das Oberlandesgericht unter Einschluss der für die Anhörung nach § 122 Abs. 2 StPO benötigten Zeit unmittelbar vor sechsmonatiger Haftdauer entscheiden kann. Wenn diese Voraussetzung vorliegt, ist das Oberlandesgericht auch dann zur Haftprüfung befugt, wenn seine Entscheidung schon einige Tage vor Ablauf der 6-Monats-Frist ergehen kann, nicht aber schon Wochen vorher (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 26. Juli 1988 – HEs 40/88 –, Rn. 5, juris, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage, § 122 Rz. 14 m. w. N.).

Hier liegt dieser Zeitpunkt noch über einen Monat im voraus. Die Sache ist deshalb der vorlegenden Strafkammer zurückzugeben.

2. Darüber hinaus ist vorliegend die besondere Haftprüfung nach den Umständen des Einzelfalls weder veranlasst noch möglich. Denn es fehlt insoweit an einer konkret nachvollziehbaren Beurteilungsgrundlage für die Frage, ob das hier in Rede stehende Verfahren gemäß dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen, insbesondere noch bis zum Vorlagezeitpunkt, aber auch mit Blick auf den nachfolgenden Haftprüfungstermin zum 9-Monats-Zeitpunkt (§ 122 Abs. 4 Satz 2 StPO) adäquat gefördert wird (vgl. zu den Beschleunigungsmöglichkeiten und -erfordernissen im Einzelnen KK-StPO/Gericke, 9. Aufl. 2023, StPO § 121 Rn. 20). Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Kammer hier derzeit noch den Beginn der Hauptverhandlung für den Fall der Eröffnung erst frühestens Anfang Mai 2024 erwägt. Für die Entscheidung des Oberlandesgerichts kommt es auf das Vorliegen der Verlängerungsvoraussetzungen (§ 121 Abs. 1 letzter Teilsatz StPO) zum Zeitpunkt des Fristablaufs an. Die tatsächlichen Umstände können sich bei — wie hier — sehr früher Vorlage bis dahin noch ändern (vgl. Gärtner in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 122 Besondere Haftprüfung durch das Oberlandesgericht).

Dabei merkt der Senat an, dass unter dem Beschleunigungsaspekt regelmäßig auch die Vorbereitung von Eröffnungsentscheidungen, insbesondere aber die frühzeitige Abstimmung von Hauptverhandlungsterminen für den Fall der Eröffnung sowie ggf. Vorgespräche (§ 213 Abs. 2 StPO), insgesamt aber eine tragfähige und konkrete Perspektive zur Verfahrensplanung parallel zu laufenden Hauptverhandlungen zu erwarten sein dürften.“

U-Haft III: Dauerbesuchs- und Telefonerlaubnis, oder: Verdunkelungsgefahr bei der Ehefrau?

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Und als dritte und letzte Entscheidung des Tages dann hier noch der OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 16.11.2023 – 7 Ws 207/23 – zur Versagung einer Dauerbesuchs- und Telefonerlaubnis in der Untersuchungshaft.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 05.10.2022 in Untersuchungshaft. Das AG hat  verschiedene Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO angeordnet, und zwar u.a. dass Besuche und die Telekommunikation der ausdrücklichen Erlaubnis bedürfen.

Vom AG ist der Angeklagte dann am 23.02.2023 wegen Betrugs in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Ferner wurde ein Betrag in Höhe von 229.087,41 EUR eingezogen. Der Haftbefehl wurde aufrechterhalten. Der Angeklagte hat Berufung eingelegt.

Die Staatsanwaltschaft hat nach der erstinstanzlichen Hauptverhandlung wegen des dem Urteil zugrundeliegenden Sachverhalts ein Ermittlungsverfahren gegen die Ehefrau des Angeklagten wegen Betrugs bzw. wegen Beihilfe zum Betrug eingeleitet.

Die Ehefrau des Angeklagten hat dann für Besuche und Telefonate bei bzw. mit ihrem Ehemann bei der nach der Einlegung der Berufung zuständigen Strafkammer mit Schreiben vom 08.05.2023 eine Dauerbesuchserlaubnis und eine Telefonerlaubnis beantragt. Diesen Antrag hat die Strafkammer wegen einer bestehenden Verdunkelungsgefahr abgelehnt. Zur Begründung hat die Kammer darauf abgestellt, dass eine Unterbrechung des Kontakts zwischen dem Angeklagten und seiner Ehefrau – mit Ausnahme eines überwachten postalischen Kontakts – angezeigt sei, da eine Gesprächsüberwachung bei Telefonaten und Besuchen nicht ausreichend sei.

Die dagegen gerichtete Beschwerde hatte keinen Erfolg:

„Die mit dem angegriffenen Beschluss erfolgte Versagung der Dauerbesuchs- und Telefonerlaubnis für die Ehefrau des Angeklagten ist nach Ausübung des dem Senat gemäß § 309 Abs. 2 StPO zukommenden eigenen Ermessens zur Abwehr der Verdunkelungsgefahr im Sinne von § 119 Abs. 1 S. 1 StPO erforderlich (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juli 1964 – AnwSt (B) 4/64 = NJW 1964, 2119; KK-Zabeck StPO, 9. Auflage 2023, § 309 Rn 6; MüKo-Neuheuser StPO, 2016, § 309 Rn 26 ff.).

Gemäß § 119 Abs. 1 S. 1 StPO können einem inhaftierten Beschuldigten Beschränkungen auferlegt werden, wenn dies zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr erforderlich ist. Die Beschränkungen zu Lasten eines Untersuchungsgefangenen können dabei nicht nur auf die im Haftbefehl ausdrücklich genannten Haftgründe gestützt werden, sondern sie kommen auch zur Abwehr aller übrigen in § 119 Abs. 1 S. 1 StPO aufgeführten Gefahren in Betracht. Das heißt, es kann – so wie hier geschehen – auch auf im Haftbefehl nicht genannte weitere Haftgründe zur Begründung einer Beschränkungsanordnung zurückgegriffen werden (OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 3. November 2022 – 3 Ws 391/22, vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23 sowie vom 11. Februar 2016 – 3 Ws 57/16 = BeckRS 2016, 11581 Rn 2; Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 66. Auflage § 119 Rn 5). Für die Annahme einer solchen Gefahr genügt nicht die bloße Möglichkeit der Gefährdung eines Haftzwecks; hierfür sind konkrete Anhaltspunkte erforderlich (allg. Meinung, vgl. z. B. BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 2014 – 2 BvR 1513/14 = NStZ-RR 2015, 79).

Das Vorliegen konkreter Anhaltspunkte im vorgenannten Sinne erfordert allerdings keine konkreten Vertuschungs- oder Verdunkelungshandlungen (BeckOK-Krauß StPO, Stand: 1. Oktober 2023, § 119 Rn 12). Vielmehr ist angesichts der geringeren Eingriffsintensität solcher Beschränkungen gegenüber der Haft nicht dieselbe tatsächliche Verdichtung im Sinne eines dringenden Tatverdachts nötig (OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 3. November 2022 – 3 Ws 391/22 und vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23). Zur Beurteilung der einem Haftzweck zuwiderlaufenden Gefahr kann daher auch auf allgemeine kriminalistische Erfahrungen abgestellt werden (KG, Beschluss vom 7. August 2014 – 1 Ws 52/14 = NStZ-RR 2014, 377 m.w.N.). Insbesondere gilt der Erfahrungssatz, dass Absprachen unter Tatbeteiligten jedenfalls dann naheliegen, wenn diese nicht geständig sind (KG, Beschluss vom 20. Oktober 2022 – 5 Ws 41/22121 AR 50/22 = BeckRS 2022, 38740; OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 3. November 2022 – 3 Ws 391/22 und vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23). Dies gilt umso mehr, wenn Angehörige und Freunde involviert sind, da hier nicht nur ein gesteigertes Vertrauensverhältnis besteht, sondern diese sich zudem regelmäßig dem Angeklagten besonders emotional verpflichtet fühlen (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23). Schließlich kann eine entsprechende Gefahr auch konkret-typisierend durch die Art der zu Last gelegten Taten und deren Begehung begründet sein (OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 3. November 2022 – 3 Ws 391/22 und vom 16. Februar 2023 – 3 Ws 25/23; BeckOK-Krauß StPO, a.a.O., § 119 Rn 12).

Daran gemessen liegen konkrete Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsgefahr für den Fall eines persönlichen oder telefonischen Austauschs zwischen den Eheleuten W vor. Bereits die dem Angeklagten vorgeworfenen Straftaten des Betrugs durch das Einmieten in Hotels – im X gar über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren – sprechen für ein manipulatives Geschick des Angeklagten und damit für dessen grundsätzliche Bereitschaft zu aktiven Vertuschungshandlung. Entgegen der Auffassung des (vormaligen) Verteidigers in der Beschwerdeschrift spricht die Tatsache, dass der Angeklagte erstinstanzlich aufgrund von Zeugenaussagen und Urkunden verurteilt wurde, nicht gegen, sondern gerade für das Vorliegen der Verdunkelungsgefahr. Es ist davon auszugehen, dass die Motivation zu Verdunkelungshandlungen des in erster Instanz die Taten auf subjektiver Ebene in Abrede stellenden Angeklagten mit der erstinstanzlichen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten zugenommen hat, muss er doch bei unveränderter Beweislage mit der Verwerfung seiner Berufung rechnen. Dabei spricht auch die Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen die Ehefrau für ein gesteigertes Interesse sowohl des Angeklagten als auch seiner Ehefrau, einen Freispruch des Angeklagten im vorliegenden Verfahren zu erreichen, da beide anderenfalls nun mit einer Verurteilung auch von ihr wegen Betrugs bzw. Beihilfe zum Betrug rechnen müssen. Es kommt – abermals entgegen der Beschwerdeschrift – nicht darauf an, ob die Ehefrau des Angeklagten auf die bereits in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen einwirkt. Zu befürchten ist vielmehr eine Absprache zwischen den Eheleuten im Hinblick auf die ursprüngliche Zahlungsbereitschaft und die Zahlungsfähigkeit und nachfolgend eine entsprechend abgestimmte Aussage der – erstinstanzlich nicht vernommenen – Ehefrau als Zeugin in der noch bevorstehenden Berufungshauptverhandlung.

Die Versagung der Dauerbesuchs- und Telefonerlaubnis ist auch nicht unverhältnismäßig. Der Senat verkennt nicht, dass mit Blick auf den verfassungsrechtlich gewährten Schutz der Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) Besuchsanträge und Telefonerlaubnisse von Familienangehörigen nur aus schwerwiegenden Gründen abgelehnt werden dürfen und vorrangig mildere Maßnahmen der Überwachung, namentlich eine akustische Überwachung der Gespräche, zu prüfen sind (vgl. KK-Gericke StPO, 9. Auflage 2023, § 119 Rn 17). Bestehen allerdings – wie hier – konkrete Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsgefahr, genügt eine akustische Überwachung in der Regel nicht, besteht bei einem unlauteren Informationsaustausch doch allenfalls die Möglichkeit, das Gespräch abzubrechen, während die einmal gesprochene und wahrgenommene Mitteilung nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 24. November 2009 – 2 Ws 246/09 = NStZ-RR 2010, 159, 160; KK-Gericke, a.a.O., § 119 Rn 17). Außerdem ist zu bedenken, dass es aufgrund der langjährigen Ehe der Eheleute naheliegend ist, dass bloße Andeutungen oder vermeintlich unverbindliche Gesprächsinhalte genügen, um tatsächlich wichtige Informationen auszutauschen (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 24. November 2009 – 2 Ws 246/09, a.a.O.; KK-Gericke, a.a.O., § 119 Rn 17), zumal für den im Raum stehenden Betrugsvorwurf sowie die Einziehungsentscheidung der weite Bereich der Lebensverhältnisse der Eheleute in der Vergangenheit, welche Aufschluss über die wirtschaftliche Situation geben könnten, betroffen ist. Schließlich wird – anders als dies im Rahmen der Beschwerdeschrift vorgetragen wurde – dem Angeklagten nicht der einzige soziale Kontakt in die Freiheit genommen. Die Eheleute haben weiterhin die Möglichkeit des schriftlichen Austauschs, wobei hier die Briefkontrolle durch den mit dem Verfahren vertrauten Vorsitzenden gewährleistet ist.“

U-Haft II: Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls, oder: Anforderungen an die Begründung

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Die zweite Entscheidung kommt vom VerfGH Berlin. Der hat im VerfGH Berlin, Beschl. v. 18.10.2023 – 77/23 – über eine Verfassungsbeschwerde gegen einen Beschluss des KG entschieden, mit dem ein Haftbefehl wieder in Vollzug gesettzt worden ist.

Vorgeworfen wird dem Angeklagten unerlaubter Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, davon in sieben Fällen als Mitglied einer Bande. Die Anklage stützt sich im Wesentlichen auf Erkenntnisse, die aus sog. EncroChat-Daten gewonnen wurden.

Das LG Berlin hat die Anklage am 29.06.2023 unter Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zugelassen. Zugleich beschloss es, das Verfahren analog § 262 Abs. 2 StPO auszusetzen, da die Entscheidung des Rechtsstreits von europarechtlichen Fragen zur Verwertbarkeit von EncroChat-Daten als Beweismittel abhänge; diese wolle das Gericht zunächst – wie bereits in dem Parallelverfahren C-670/22 – dem Europäischen Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV zur Entscheidung vorlegen. Des Weiteren hob das LG einen zuvor bereits mehrfach vom LG außer und vom KG wieder in Vollzug gesetzten Haftbefehl d auf. Die erneute Aufhebung begründete es damit, dass die von § 112 Abs. 1 StPO vorausgesetzte hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit angesichts der in dem Parallelverfahren noch ausstehenden Antwort des EuGH nicht gegeben sei; überdies sei die Anordnung einer Untersuchungshaft unverhältnismäßig, da eine Hauptverhandlung in der Sache – schon vor dem Hintergrund, dass derzeit noch offen sei, wann der EuGH entscheiden werde – voraussichtlich nicht vor 2024 durchgeführt werden könne. Auf eine hiergegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft setzte das KG den Haftbefehl des wieder in Vollzug. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass auch unter Berücksichtigung des kooperativen Verhaltens des Angeklagten weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr bestehe, der nach wie vor nicht durch mildere Maßnahmen als den Vollzug der Untersuchungshaft ausgeräumt werden könne.

Dagegen die Verfassungsbeschwerde,die keinen Erfolg hatte:

„Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer weder in seinem Freiheitsgrundrecht nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB (1.) noch in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 15 Abs. 5 VvB (2.).

1. Der Beschluss des Kammergerichts vom 24. Juli 2023 verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinem Freiheitsgrundrecht nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB. Anders als er meint, leidet die von ihm angegriffene fachgerichtliche Entscheidung an keinem verfassungsrechtlich zu beanstandenden Begründungs- oder Abwägungsdefizit.

Zwar ist dem Beschwerdeführer darin Recht zu geben, dass das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde auf Grund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB) so ausgestaltet sein muss, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht. Dem ist durch eine verfahrensrechtliche Kompensation des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs, namentlich durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen Rechnung zu tragen. Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen. Folglich sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten. In diesem Zusammenhang hat sich das die Haftfortdauer anordnende Gericht auch zur voraussichtlichen Gesamtdauer des Verfahrens, zu der für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehenden Straferwartung und – unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrestes gemäß § 57 StGB – zum hypothetischen Ende einer möglicherweise zu verhängenden Freiheitsstrafe zu verhalten. Diese Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (Beschlüsse vom 26. Juli 2017 – VerfGH 90 A/17 -, juris, Rn. 23 und vom 22. November 2005 – VerfGH 146/05 -, juris, Rn. 31 ff.; wie alle hier zitierten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes abrufbar unter gesetze.berlin.de; vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Beschlüsse vom 4. April 2006 – 2 BvR 523/06 -, juris Rn. 18, vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08 -, juris Rn. 33 und vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 42 ff.).

Diesen Anforderungen wird der Beschluss des Kammergerichts zur (erneuten) Invollzugsetzung des Haftbefehls vom 11. August 2022 wegen Vorliegens von Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 der StPO jedoch gerecht.

So stellt das Kammergericht zur Begründung seiner Entscheidung unter Bezugnahme auf seine vorangegangenen Beschlüsse vom 28. April und 16. Juni 2023 eine ausführliche Gesamtabwägung an. Dabei berücksichtigt es u. a. auch das kooperative Verhalten des Beschwerdeführers, etwa dass dieser sich nach der Entlassung aus der Haft in Neuruppin am 20. Januar 2023 weder ins Ausland abgesetzt hat noch im Inland untergetaucht ist, sich am 4. Mai 2023 freiwillig dem Ermittlungsrichter gestellt hat und den neuerlichen Haftverschonungsauflagen bislang nachgekommen ist. Zugleich hält es in nachvollziehbarer Weise an seinen bereits in den vorangegangenen Entscheidungen vom 28. April und 16. Juni 2023 angestellten und aus Sicht des Kammergerichts auch weiterhin zutreffenden Erwägungen fest.

Soweit der Beschwerdeführer meint, das Ergebnis der Abwägungen des Kammergerichts hätte anders ausfallen müssen, führt dies noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung. Vielmehr sind die Ausführungen des Kammergerichts hinreichend ausführlich, in sich schlüssig und vertretbar und daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

2. Die Entscheidung des 1. Strafsenats des Kammergerichts verletzt den Beschwerdeführer auch nicht in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 15 Abs. 5 S. 2 VvB). Die Besetzung des tätig gewordenen Spruchkörpers ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Zwar kann das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt sein, wenn die Wiederbesetzung einer freigewordenen Vorsitzendenstelle nicht in angemessener Zeit vorgenommen wird (vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Dreierausschussbeschluss vom 3. März 1983 – 2 BvR 265/83 -, juris). Der 1. Strafsenat des Kammergerichts wird auch bereits seit dem 1. Januar 2023, zum Entscheidungszeitpunkt mithin schon seit knapp sieben Monaten, kommissarisch geführt. Bei der Beurteilung der Angemessenheit des Zeitraums ist jedoch zu berücksichtigen, ob die Wiederbesetzung ungerechtfertigt verzögert wird oder ob die Umstände des Einzelfalls – wie z. B. vorliegend eine Konkurrentenklage – der zügigen Auswahl und Ernennung eines geeigneten Nachfolgers entgegenstehen. Letzteres ist hier der Fall.“

U-Haft I: Was ist eine kleine Verfahrensverzögerung?, oder: Dauerhafte Überlastung des Gerichts

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Ich mache heute dann einen „Hafttag“, und zwar mit zwei verfassungsgerichtlichen Entscheidungen und einem OLG-Beschluss zur Telefonerlaubnis.

Ich beginne mit dem BVerfG, Beschl. v. 17.01.2024 – 2 BvR 1756/23. Ergangen ist der Beschluss in einem in Schleswig-Holstein anhängigen Verfahren.In dem wird dem Angeklagten, der sich seit dem 04.05.2023 aufgrund eine auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls ununterbrochen in Untersuchungshaft befindet, in 14 tatmehrheitlichen Fällen, davon in vier Fällen gemeinschaftlich handelnd, jeweils unerlaubt mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben und davon in drei Fällen Betäubungsmittel in nicht geringer Menge eingeführt zu haben.

Die StA hat am 31.05.2023 Anklage zum LG Itzehoe erhoben. Mit Verfügung vom 26.10.2023 legte der Vorsitzende der zuständigen großen Strafkammer die Akten dem OLG zur Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft nach § 121, § 122 Abs. 1 StPO vor. Zur Begründung führte der Vorsitzende aus, die Kammer sei aufgrund einer vorübergehenden Überlastung durch andere Haftsachen, insbesondere vier bereits vor der Anklage in dieser Sache eingegangene umfangreiche Schwurgerichtsverfahren, bereits rein terminlich an der Durchführung einer Hauptverhandlung vor Fristablauf gehindert. Eine Eröffnungsentscheidung sei insbesondere auch deshalb zurückgestellt worden, weil eine Terminierung der Hauptverhandlung im Jahr 2023 nicht durchführbar erschienen sei. Der Beginn der Hauptverhandlung sei ab dem 23.01.2024 vorgesehen.

Der Verteidiger des Angeklagten hat imHaftprüfungsverfahren die Aufhebung des Haftbefehls verlangt, da der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verletzt sei. Aus anderen Verfahren sei bekannt, dass die Strafkammer bereits seit 2022 dauerhaft mit Haftsachen ausgelastet sei. Mit Beschluss vom 10.11.2023 hat das OLG die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Die Haftfortdauer über sechs Monate hinaus sei aus wichtigem Grund gerechtfertigt und auch nicht unverhältnismäßig. Zur Begründung schloss sich das OLG den Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft an: Es sei der bei der Jahresgeschäftsverteilung 2023 nicht vorhersehbaren ungewöhnlich hohen Belastung der Kammer geschuldet, dass der Beginn der Hauptverhandlung erst ab dem 23.01.2024 vorgesehen sei. Die Kammer verhandele derzeit zwei umfangreiche Schwurgerichtsverfahren mit 77 beziehungsweise 127 in den Anklagen benannten Zeugen, weshalb Hauptverhandlungstermine nicht mehr zur Verfügung stünden. Bis Jahresende müsse die Kammer eine weitere, bereits länger eingegangene Haftsache gegen einen minderjährigen Angeklagten verhandeln. Die kurzfristige Überlastung der Kammer beruhe nicht auf gerichtsorganisatorischen Gründen, so dass die Verfahrensverzögerung insbesondere angesichts der Schwere der dem Angeschuldigten vorgeworfenen Straftaten keinen durchgreifenden Bedenken begegne. Das OLG führte am Ende seines Beschlusses aus, ein Schriftsatz der Verteidigung vom 09.11.2023 dem Senat vorgelegen habe.

Der Angeklagte hat Verfassungsbeschwerde erhoben und mit der eine Verletzung seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebotes im Zwischenverfahren geügt. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angeommen.

Nach Auffassung des BVerfG ist zwar, soweit der Angeklagte die Haftfortdauerentscheidung des OLG angreift, zwar der Rechtsweg erschöpft, weil eine Anhörungsrüge nur im Falle der Geltendmachung einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zum Rechtsweg gehört (vgl. BVerfGE 122, 190, 198; 126, 1, 17; 134, 106, 113 Rn. 22). Die Erhebung einer Anhörungsrüge sei hier jedoch mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde geboten gewesen.

Dazu nur der Leitsatz zu der Entscheidung:

Der Subsidiaritätsgrundsatz (§ 90 Abs 2 S 1 GG) verlangt die Erhebung einer Anhörungsrüge im fachgerichtlichen Verfahren auch dann, wenn mit der Verfassungsbeschwerde zwar keine Verletzung des Gehörsanspruchs (Art 103 Abs 1 GG) gerügt werden soll, den Umständen nach jedoch ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte naheliegt und zu erwarten ist, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würden.

Nach Auffassung des BVerfG wäre das OLG zu Ausführungen dazu verpflichtet gewesen, weshalb es das substantiierte Kernvorbringen des Verteidigers in dessen Schriftsatz vom 09.11.2023 gegen die Fortdauer der Untersuchungshaft für nicht relevant oder überzeugend hielt. Mit dieser Anhörungsrüge hätte der Angeklagte die Möglichkeit gewahrt, dass eine Grundrechtsverletzung durch dasOLG selbst beseitigt wird.

Zur Sache führt das BVerfG dann aber trotz der Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde dennoch aus, und zwar:

„3. Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird den verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht gerecht. Das Verfahren wurde nach Eingang der Anklageschrift beim Landgericht nicht in der durch das Gewicht des Freiheitseingriffs gebotenen Zügigkeit gefördert.

a) Es handelt sich bei der hier eingetretenen Verzögerung nicht um eine nur kleinere Verfahrensverzögerung, die entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könnte (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2018 – 2 BvR 819/18 -, Rn. 29). Das Landgericht hatte trotz Ablaufs von mehr als fünf Monaten seit dem Eingang der Anklage am 31. Mai 2023 noch nicht über die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens (§§ 199 ff. StPO) entschieden. Anhaltspunkte dafür, dass jedenfalls nach Ablauf der Frist zur Stellungnahme des Beschwerdeführers am 4. Juli 2023 noch keine Eröffnungsreife vorgelegen haben könnte, sind nicht ersichtlich. Noch ausstehende Ermittlungen sind nicht genannt. Die Bezeichnung dieser Verzögerung im angefochtenen Beschluss als „kurzfristig“ ist nicht nachvollziehbar.

b) Die vom Oberlandesgericht für die Verzögerung im Zwischenverfahren angeführten Gründe rechtfertigen den Eingriff in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG nicht.

Die „ungewöhnlich hohe Belastung der Kammer“ durch bereits vor der Anklage des Beschwerdeführers eingegangene Schwurgerichtsverfahren stellen vom Beschwerdeführer nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte Umstände dar. Diesen Umständen kann zur Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nicht allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung entgegengehalten werden (vgl. BVerfGK 7, 140 <155 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Februar 2020 – 2 BvR 2090/19 -, Rn. 51; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 2020 – 2 BvR 225/20 -, Rn. 61; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1853/20 -, Rn. 28). Da die Überlastung eines Gerichts in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft fällt, kommt es jedenfalls angesichts der hier gegebenen, nicht nur kurzfristigen Überlastung auf deren Vorhersehbarkeit nicht an (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2018 – 2 BvR 819/18 -, Rn. 30).

Der vom Oberlandesgericht für die Verzögerung zusätzlich angeführte Umstand, der Kammer stünden vor dem Sechsmonatstermin keine Hauptverhandlungstermine mehr zur Verfügung, stellt bereits keine schlüssige Begründung dafür dar, weshalb zumindest eine Eröffnung des Hauptverfahrens noch nicht hatte erfolgen können. Auch im Zwischenverfahren muss das Verfahren mit der gebotenen Zügigkeit gefördert werden, um bei Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10 -, Rn. 15; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1853/20 -, Rn. 27 m.w.N.). Jedenfalls kann allein die Üblichkeit, die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Verfügung des Vorsitzenden über die Terminierung der Hauptverhandlung zeitlich zusammen vorzunehmen, keine Verzögerung einer Eröffnungsentscheidung rechtfertigen, sollte eine Terminierung der Hauptverhandlung noch nicht möglich sein.“

U-Haft III: Neues zur Sechs-Monats-Haftprüfung, oder: Dieselbe Tat, zügiger Termin, unzuständiges Gericht

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Und zum Tagesschluss stelle ich dann drei Entscheidungen zum Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121 ff. StPO – also Sechs-Monats-Prüfung – vor.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 19.10.2023 – 19.10.2023 -, in dem sich der BGH noch einmal zum Begriff „derselben Tat“ geäußert hat, und zwar wie folgt:

„Der Begriff derselben Tat im Sinne dieser Vorschrift weicht vom prozessualen Tatbegriff im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO ab und ist mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Norm weit auszulegen. Er erfasst alle Taten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an, in dem sie – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt geworden sind und in einen bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können, und zwar unabhängig davon, ob sie Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind. Dadurch wird eine sogenannte Reservehaltung von Tatvorwürfen vermieden, die darin bestünde, dass von Anfang an bekannte oder im Laufe der Ermittlungen bekannt gewordene Taten zunächst zurückgehalten und erst kurz vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zum Gegenstand eines neuen oder erweiterten Haftbefehls gemacht werden mit dem Ziel, eine neue Sechsmonatsfrist zu eröffnen. Somit löst es keine neue Haftprüfungsfrist gemäß § 121 Abs. 1 StPO aus, wenn ein neuer Haftbefehl lediglich auf Tatvorwürfe gestützt bzw. durch sie erweitert wird, die schon bei Erlass des ersten Haftbefehls – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt waren. Tragen dagegen die erst im Laufe der Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls und ergeht deswegen ein neuer oder erweiterter Haftbefehl, so wird dadurch ohne Anrechnung der bisherigen Haftdauer eine neue Sechsmonatsfrist in Gang gesetzt. Für den Fristbeginn ist dann der Zeitpunkt maßgeblich, in dem sich der Verdacht hinsichtlich der neuen Tatvorwürfe zu einem dringenden verdichtet hat. Entscheidend ist mithin, wann der neue bzw. erweiterte Haftbefehl hätte erlassen werden können, nicht hingegen, wann die Staatsanwaltschaft ihn erwirkt hat. Dabei ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Haftbefehl spätestens an dem auf die Beweisgewinnung folgenden Tag der veränderten Sachlage anzupassen ist (st. Rspr.; s. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2017 – AK 14/17, juris Rn. 6 ff.; vom 7. September 2017 – AK 42/17, NStZ-RR 2018, 10, 11; vom 16. Januar 2018 – AK 78/17, juris Rn. 11; vom 25. Juli 2019 – AK 34/19, NStZ 2019, 626 Rn. 7 f.; vom 14. Mai 2020 – AK 8/20, juris Rn. 5 ff.; vom 20. September 2023 – AK 54/23, juris Rn. 8).“

Zur Abrundung dann noch zwei KG-Beschlüsse zur Frage der Verfahrensverzögerung und/oder dem Beschleunigungsgrundsatz, und zwar:

1. Im Verfahren der besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO bildet allein der zuletzt erlassene und prozessordnungsgemäß bekanntgegebene Haftbefehl den Prüfungsgegenstand. Dies gilt auch dann, wenn der Haftbefehl auf weitere Taten hätte erweitert werden können, tatsächlich aber nicht erweitert worden ist. Mit einer im Eröffnungsbeschluss getroffenen Haftfortdauerentscheidung „nach Maßgabe des Anklagesatzes“ kann ein Haftbefehl nicht in prozessual ordnungsgemäßer Weise auf die weiteren Anklagevorwürfe erweitert werden.

2. Im Gerichtsverfahren muss bei der Bearbeitung von Haftsachen der Gesichts-punkt der vorausschauenden Planung im Vordergrund stehen. Die Umstände des Falles können es nahegelegen, für eine zügige Terminierung direkte und schnelle Kommunikationswege (E-Mail, Telefon oder Fax) zu beschreiten.

Dass zunächst Anklage zur allgemeinen Strafkammer erhoben und die Sache von dort dem Schwurgericht vorgelegt wird, stellt dann keine sachwidrige Verfahrensverzögerung dar, wenn die Anklage rechtlich vertretbar bei dem sich schließlich für unzuständig haltenden Gericht erhoben worden ist. Denn es ist als Folge der Gewaltenteilung hinzunehmen, dass ein Strafgericht den angeklagten Lebenssachverhalt in Einzelfällen anders würdigt als die Staatsanwaltschaft.