Archiv für den Monat: März 2023

Pflichti II: Bestellung des „geschassten“ Wahlanwalts, oder: Anhörung auch während laufender HV

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Im zweiten „Pflichti-Posting“ dann etwas aus dem Verfahren. Es geht um die Bestellung des Wahlanwalts, dem der Angeklagte das Vertrauen entzogen hat, als Pflichtverteidiger und um das einzuhaltende Verfahren. Folgender Sachverhalt:

Mit ihrer Anklageschrift wirft die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten den sexuellen Missbrauch von Kindern u.a. in sieben Fällen vor. Der Angeklagte hatte bereits im Ermittlungsverfahren Rechtsanwalt A. zum Verteidiger gewählt.

Nach Zulassung der Anklageschrift zur Hauptverhandlung und Eröffnung des Hauptverfahrens  bestimmte die Vorsitzende unter dem 25.08.2022 drei Termine zur Hauptverhandlung auf den 16., 22. und 25.11.2022. Die Termine waren zuvor dem Verteidiger des Angeklagten mitgeteilt worden, dieser hat keine Verhinderung angezeigt.

Die Hauptverhandlung wurde sodann am 16.11.2022, 29.11.2022, am 13.12.2022, am 04.01. und am 17.01.2023 durchgeführt. Fortsetzungstermin war auf den 31.01.2023 bestimmt.

Nach dem 5. Verhandlungstag teilte der Verteidiger dem Gericht unter dem 27.01.2023, einem Freitag, mit, dass der Angeklagte das Mandat mit sofortiger Wirkung gekündigt habe und das Mandatsverhältnis damit beendet sei. Weitere Ausführungen enthielt der Schriftsatz nicht.

Noch am selben Tag bestellte die Vorsitzende in Ansehung des bereits am folgenden Dienstag anstehenden nächsten Verhandlungstermin, an dem der Angeklagte sonst unverteidigt gewesen wäre, nach Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Neuruppin Rechtsanwalt A. zum Pflichtverteidiger, da dieser der zuvor vom Angeklagten gewählte Verteidiger gewesen sei und Gründe, die einer Beiordnung entgegenstehen könnten, namentlich eine endgültige Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Verteidiger und dem Angeklagten, oder Gründe, die einer angemessenen Verteidigung des Angeklagten durch Rechtsanwalt A. entgegenstehen könnten, weder vorgetragen noch sonst ersichtlich seien.

Am darauffolgenden Verhandlungstag legte der Angeklagte gegen die Pflichtverteidigerbestellung sofortige Beschwerde ein, Rechtsanwalt A. beantragte die Aufhebung seiner Bestellung sowie seine Entpflichtung. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten hatte mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.02.2023 – 1 Ws 19/23 (S) – Erfolg:

„2. Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg, da der angefochtene Beschluss unter Verstoß gegen eine zwingende Verfahrensvorschrift zustande gekommen ist.

Der von der Verfassung verbürgte Anspruch auf ein rechtsstaatlich faires Verfahren umfasst das Recht des Beschuldigten, sich im Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen (vgl. BVerfGE 39, 238, 243; 68, 237, 255). In den Fällen der Pflichtverteidigung erfährt dieses Recht gemäß § 142 Abs. 1 Satz 3 StPO jedoch insoweit eine Einschränkung, als der Beschuldigte keinen unbedingten Anspruch auf Bestellung des von ihm gewünschten Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger hat. Im Übrigen bleibt jedoch der Anspruch des Beschuldigten auf Verteidigung durch einen Anwalt seines Vertrauens unberührt (vgl. BGH NStZ 1992, 247).

In diesem Anspruch ist der Angeklagte allerdings noch nicht dadurch verletzt worden, dass das Gericht den bisherigen Wahlverteidiger Rechtsanwalt A. zum Pflichtverteidiger bestellt hat.

Diese Entscheidung der Vorsitzenden lässt Ermessensfehler nicht erkennen. Der Umstand allein, dass der Angeklagte unter Hinweis auf das gestörte Vertrauensverhältnis Rechtsanwalt A. das Mandat entzogen hatte, macht dessen Beiordnung noch nicht verfahrensfehlerhaft. Denn ebenso wie die Erklärung des Anwalts, das Vertrauensverhältnis sei entfallen, für sich allein keine Verpflichtung des Vorsitzenden begründet, von seiner Bestellung zum Pflichtverteidiger abzusehen (vgl. BGHR StPO § 142 Abs. 1 Auswahl 2), hindert auch eine entsprechende Behauptung des Angeklagten nicht von vornherein die Bestellung des bisherigen Wahlverteidigers zum Pflichtverteidiger. Andernfalls hätte es der Angeklagte in der Hand, jederzeit unter Berufung auf ein fehlendes Vertrauensverhältnis zu seinem Verteidiger einen Verteidigerwechsel herbeizuführen und damit das Verfahren zu verzögern (vgl. OLG Düsseldorf JZ 1985, 100; BGHSt 39, 310 ff.).

Das Landgericht hat dem Angeklagten vorliegend indes nicht nach § 142 Abs. 5 Satz 1 StPO vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers Gelegenheit gegeben, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Verteidiger zu bezeichnen. Die Anhörung des Angeklagten ist – anders als nach der früheren Regelung in § 142 Abs. 1 a. F. StPO – zwingend vorgeschrieben und deren Nichtbeachtung kann die Revision begründen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 16. Februar 2021 -5 RVs 3/21-); die Verpflichtung zur Anhörung besteht auch dann, wenn ein Pflichtverteidiger unverzüglich zu bestellen ist (vgl. Krawczyk, a.a.O., § 142 Rdn. 17 ff.).

Für die erforderliche Bestellung eines Pflichtverteidigers während laufender Hauptverhandlung kann nichts anderes gelten, da das Gesetz nicht zwischen verschiedenen Verfahrensstadien unterscheidet und die zwingend vorgeschriebene Anhörung muss auch dann erfolgen, wenn der vormalige Wahlverteidiger nach gekündigtem Mandat zur Verfahrenssicherung zum Pflichtverteidiger bestellt werden soll, ohne dass dies vom Angeklagten beantragt worden ist.

Der Gesetzgeber hat offensichtlich in Kauf genommen, dass aufgrund des zwingenden Erfordernisses der Anhörung des Angeklagten geplante Hauptverhandlungstermine nicht stattfinden können, was zur Aussetzung der Hauptverhandlung oder zur Überschreitung der Unterbrechungsfristen des § 229 StPO führen kann, also auch Hauptverhandlungen, die bereits mehrere Verhandlungstage andauern und in denen eine umfangreiche Beweisaufnahme stattgefunden hat, ungeachtet etwaigen Zeugenschutzes abgebrochen werden müssen. Diesem Dilemma wird sich die Gerichtspraxis kaum entziehen können, da nicht für jedes Verfahren, in dem eine Verteidigung gemäß § 140 StPO notwendig ist, neben dem Wahlverteidiger ein Pflichtverteidiger bestellt werden kann. Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger ist nämlich lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein „unabweisbares Bedürfnis“ besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten (vgl. BGH, Beschluss vom 6. September 2022 – StB 36/22 –).

Die Missachtung des Anhörungs- und Bestimmungsrechts führt im vorliegenden Fall zur Aufhebung der Bestellung (vgl. Krawczyk, a.a.O., § 142 Rn. 26, § 143a Rn. 10; OLG Hamm, a.a.O.; OLG Saarbrücken a.a.O.; KG Berlin, Beschluss vom 27. April 2022 – 5 Ws 67/22 –). Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob die Entscheidung des OLG München vom 17. Dezember 2009 – 2 Ws 1101/09 – zu einer möglichen Heilung der unterbliebenen Anhörung des Angeklagten auch nach der Gesetzesänderung Gültigkeit beansprucht. Eine ggf. mögliche Heilung der fehlerhaft ohne vorherige Anhörung erfolgten Beiordnung ist vorliegend jedenfalls nicht ersichtlich (vgl. OLG München NJW 2010, 1766).“

Pflichti I: Beschuldigter nach Tatvorwurfseröffnung, oder: Manifestation des Verfolgungswillens

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Und dnan mal wieder etwas zur Plfichtverteidigung.

Den Opener macht der BGH, Beschl. v. 09.02.2023 – StB 3/23 – mit folgendem Sachverhalt:

Der GBA führt unter dem Aktenzeichen 2 BJs 450/20-2 gegen Unbekannt und weitere namentlich bekannte Personen ein Ermittlungsverfahren wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung gemäß § 129 StGB und anderer Straftaten. Beschuldigter in diesem Verfahren war neben anderen Personen auch der Beschwerdeführer (in dieser Sache). Mit Verfügung vom 07.05.2021 hat der GBA das gegen den Beschuldigten gerichtete Verfahren abgetrennt und diesen neben anderen unter dem Aktenzeichen 2 StE 7/21-2 vor dem OLG Dresden angeklagt. Die diesbezügliche Hauptverhandlung dauert an.

Unter dem 17.10.2022 hat der Beschwerdeführer in dem Verfahren 2 BJs 450/20-2 die Beiordnung von Rechtsanwalt M. aus L. als Pflichtverteidiger beantragt mit der Begründung, in der Hauptverhandlung vor dem OLG Dresden sei durch die Einführung von Schriftstücken bekannt geworden, dass das genannte Ermittlungsverfahren weiterhin auch gegen ihn betrieben werde. Der Beschwerdeführer werde dort auch über den Zeitpunkt der Abtrennung hinaus als Tatverdächtiger (Auswertung eines Gutachtens durch das Landeskriminalamt vom 07.06.2021, Anforderung einer kriminaltechnischen Vergleichsarbeit vom 04.082021) bzw. Beschuldigter (Vermerk des Landeskriminalamts vom 20.09.2021) bezeichnet.

Mit Schreiben vom 19.10.2022 hat der GBA dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass er weder formal noch materiell Beschuldigter des in Rede stehenden Ermittlungsverfahrens sei.

Dagegen die sofortige Beschwerde, die beim BGH keinen Erfolg hatte.

„Die zulässige, insbesondere mit Blick auf § 311 Abs. 2 StPO fristgerechte sofortige Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg.

Gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO wird bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen demjenigen Beschuldigten ein Pflichtverteidiger bestellt, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist. Hieran fehlt es vorliegend, und zwar unabhängig davon, ob unter der Eröffnung des Tatvorwurfs lediglich die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens (vgl. KK-StPO/Willnow, 9. Aufl., § 141 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 141 Rn. 3) oder darüber hinaus auch die Kenntniserlangung in sonstiger auf die Strafverfolgungsbehörde zurückgehender Weise (vgl. LG Magdeburg, Beschluss vom 24. Juli 2020 – 25 Qs 233 Js 9703/19 [65/20], StV 2021, 162; BeckOK StPO/Krawczyk, 45. Ed., § 141 Rn. 4; SSW-StPO/Beulke/Salat, 5. Aufl., § 141 Rn. 13; BT-Drucks. 19/13829 S. 36) zu verstehen ist. Im Einzelnen:

1. Regelmäßig wird der Verfolgungswille der Strafverfolgungsbehörde durch die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens manifestiert (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juni 2019 – StB 14/19, NStZ 2019, 539 Rn. 30; Urteil vom 23. Juli 1986 – 3 StR 164/86, BGHSt 34, 138, 140; Meyer/Goßner/Schmitt, aaO, Einl. Rn. 76, jeweils mwN). Eine derartige Vorgehensweise des Generalbundesanwalts nach Abtrennung des gegen den Beschwerdeführer gerichteten Verfahrensteils ist mit der Beschwerde nicht dargelegt worden und auch sonst nicht ersichtlich.

2. Aber auch die Bezeichnung des Beschwerdeführers als Tatverdächtigen oder Beschuldigten in den mit der Beschwerde angeführten Schriftstücken lässt eine zureichende Manifestation des erforderlichen Verfolgungswillens des Generalbundesanwalts nicht erkennen. Ob eine solche gegeben ist, beurteilt sich danach, wie sich das Verhalten des ermittelnden Beamten nach außen, insbesondere in der Wahrnehmung des davon Betroffenen darstellt (BGH, Beschluss vom 6. Juni 2019, aaO). Nach diesem Maßstab ist von Belang, dass die in Bezug genommenen Schriftstücke nur verhältnismäßig kurze Zeit nach der Verfahrensabtrennung entstanden sind, das dem Datum 4. August 2021 zugeordnete in Wahrheit bereits am 1. Juni 2021. Sie enthielten – wie der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift vom 7. November 2022 im Einzelnen zutreffend ausgeführt hat – jeweils Ergebnismitteilungen zu nicht gegen den Beschwerdeführer gerichteten Ermittlungsaufträgen, die ihrerseits deutlich vor dem 7. Mai 2021 erteilt worden waren. Bei dieser Sachlage konnte der Beschwerdeführer ersichtlich nicht davon ausgehen, dass die Bezeichnung seiner Person mit den Begriffen Beschuldigter bzw. Tatverdächtiger als Manifestation eines ihn betreffenden Verfolgungswillens der Strafverfolgungsbehörden aufzufassen war; naheliegend war vielmehr eine auf Unkenntnis oder Nachlässigkeit des jeweiligen Verfassers zurückzuführende Unvollständigkeit der Bezeichnung, die darin lag, dass die Verwendung eines Zusatzes wie etwa „vormals“ unterblieb. Es kommt hinzu, dass der Generalbundesanwalt mit Schreiben vom 19. Oktober 2022 ausdrücklich klargestellt hat, den Beschwerdeführer in dem in Rede stehenden Ermittlungsverfahren nicht als Beschuldigten zu betrachten, so dass zumindest ab diesem Zeitpunkt von einer Manifestation eines Verfolgungswillens gegenüber dem Beschwerdeführer keine Rede mehr sein kann.

3. Anhaltspunkte dafür, dass der Generalbundesanwalt dem Beschwerdeführer eine verfahrensmäßige Stellung als Beschuldigter willkürlich vorenthielte (zum Maßstab der Willkür in diesem Zusammenhang vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juni 2019, aaO), bestehen nicht, wie auch der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs im Ergebnis zutreffend angenommen hat.“

OWi III: „Sinnfreies“ Einkopieren des Akteninhalts, oder: Rechtlicher Hinweis nach Zurückverweisung?

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Und dann noch der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 21.02.2023 – IV – 2 RBs 18/23 –, der u.a. zwei Fragen behandelt, nämlich zunächst die zutreffende Begründung der Verfahrensrüge einer Rechtsbeschwerde und dann die Frage nach der Erforderlichkeit eines rechtlichen Hinweises (§ 265 StPO) nach Zurückverweisung:

„Das Amtsgericht hat den Betroffenen am 10. Februar 2022 wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 38 km/h zu einer Geldbuße von 320 Euro verurteilt und ein einmonatiges Fahrverbot verhängt.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat der Senat über dieses Urteil mit Beschluss vom 30. Mai 2022 wie folgt entschieden:

  1. Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben. Jedoch bleiben die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen mit Ausnahme derjenigen zur Fahrereigenschaft des Betroffenen aufrechterhalten.
  2. Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird als unbegründet verworfen.
  3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Duisburg zurückverwiesen.

Am 8. November 2022 hat das Amtsgericht den Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit erneut zu eine Geldbuße von 320 Euro verurteilt und ein einmonatiges Fahrverbot verhängt. Hiergegen richtet sich dessen Rechtsbeschwerde, die sich auf Verfahrensrügen und die Sachrüge stützt.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet.

1. Die von dem Betroffenen erhobenen Verfahrensrügen erweisen sich als unzulässig, weil sie nicht in der nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotenen Form angebracht worden sind.

Die Rüge wegen Verletzung der Hinweispflicht umfasst 154 Seiten, wobei sinnfrei nahezu der gesamte Akteninhalt einkopiert worden ist. Von den 16 Seiten, die keine Aktenkopien darstellen, entfallen 13 Seiten auf jeweils wenige Zeilen umfassende Trennblätter, mit denen die nachgeheftete Ablichtung bezeichnet wird.

Bei der Rüge wegen Verletzung der Aufklärungspflicht wurde derselbe Akteninhalt mit denselben Trennblättern sinnfrei erneut in die Begründungsschrift eingefügt, so dass sich deren Papierumfang ohne Erkenntnisgewinn verdoppelt hat. Lediglich die Eingangsseite mit dem Obersatz und die beiden letzten Seiten unterscheiden sich inhaltlich von der vorherigen Verfahrensrüge.

Die mangelnde Eignung der gewählten „Gestaltung“ lässt sich exemplarisch daran ablesen, dass zu den beiden nunmehr erhobenen Verfahrensrügen jeweils die vollständige Begründungsschrift (83 Seiten) aus dem ersten Rechtsbeschwerdeverfahren einkopiert worden ist. Die dortigen Verfahrensrügen, die sich insbesondere gegen die Richtigkeit der Messung und die Verwertbarkeit des Messergebnisses richteten, sind für das zweite Rechtsbeschwerdeverfahren indes nicht relevant. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 30. Mai 2022 mit eingehender Begründung die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen mit Ausnahme derjenigen zur Fahrereigenschaft des Betroffenen aufrechterhalten.

Das zweimalige Einkopieren der ihrerseits (teils doppelte) Aktenauszüge enthaltenden Begründungsschrift aus dem ersten Rechtsbeschwerdeverfahren hat im Übrigen zur Folge, dass sich in der vorliegenden Begründungsschrift nunmehr einige Akteninhalte in vierfacher oder gar sechsfacher Anzahl befinden.

Die unübersichtliche Begründungsschrift lässt einen Zusammenhang zwischen der jeweiligen Verfahrensrüge und den zweimal identisch einkopierten Akteninhalten weitgehend vermissen. Es ist nicht Aufgabe des Rechtsbeschwerdegerichts, sich die wenigen relevanten Unterlagen aus dem ca. 300 Seiten umfassenden Konvolut herauszusuchen und den Sachzusammenhang selbst herzustellen. Vielmehr wäre es erforderlich gewesen, bezogen auf die konkrete Verfahrensrüge (lediglich) den insoweit relevanten Verfahrensstoff mitzuteilen (vgl. zur Revision: BGH NStZ 2020, 625; NStZ 2023, 127). Daran fehlt es hier.

2. Ungeachtet dessen hätte die Rüge, dass nach der Zurückverweisung der Sache kein (erneuter) Hinweis auf die Möglichkeit einer Verurteilung wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit erfolgt ist, auch bei zulässiger Erhebung keinen Erfolg gehabt.

Das Amtsgericht hatte dem Betroffenen bereits im „ersten Durchgang“ mit der Ladung zu der Hauptverhandlung vom 10. Februar 2022 einen solchen Hinweis erteilt, da nach dem Bußgeldbescheid mangels Bezeichnung der Schuldform von dem Vorwurf fahrlässigen Handelns auszugehen war (vgl. OLG Bamberg DAR 2017, 383). Zudem ist der Betroffene am 10. Februar 2022 wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verurteilt worden. Bei dieser Sachlage bedurfte es nach der Zurückverweisung der Sache keiner Wiederholung des Hinweises auf die Möglichkeit einer Verurteilung wegen vorsätzlicher Tatbegehung (vgl. BGH bei Dallinger MDR 1971, 363; OLG Köln NJW 1957, 473; OLG Stuttgart MDR 1967, 233; Stuckenberg in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 265 Rdn. 14). Die Verurteilung wegen einer Vorsatztat beinhaltet den unmissverständlichen und fortwirkenden Hinweis, dass der Betroffene auch im weiteren Verfahren – sei es nach Zurückverweisung der Sache, sei es in einer höheren Instanz – mit einer solchen rechtlichen Bewertung seiner Tat rechnen muss…..“

OWi II: Abweichung von der Bedienungsanleitung, oder: Welche Feststellungen beim Freispruch?

Das BayObLG hat im BayObLG, Beschl. v. 21.11.2022 – 202 OBOWi 1291/22 – zu den Anforderungen an die tatsächlichen Feststellungen bei einem freisprechenden Urteil Stellung genommen.

Das AG hat den Betroffenen aus tatsächlichen Gründen vom Vorwurf, am 29.04.2020 auf der A-Straße in B. mit einem Kraftfahrzeug fahrlässig die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerorts um 34 km/h überschritten zu haben, freigesprochen. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Staatsanwaltschaft mit der Rechtsbeschwerde und begründet diese mit der Sachrüge sowie mit der Verfahrensrüge der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht.

Nach den Feststellungen des AG erfolgte die Geschwindigkeitsmessung mit einem geeichten Messgerät PoliScanSpeed, Softwareversion 3.2.4., welches zum Zeitpunkt der verfahrensgegenständlichen Messung auf einem Stativ auf einer Rasenfläche neben der Fahr-bahn aufgestellt war. Das Amtsgericht sah es nach durchgeführter Beweisaufnahme als erwiesen an, dass das Messgerät entgegen den Vorgaben in Ziffer 7.1.1 der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers nicht auf einem hinreichend festen Untergrund aufgestellt gewesen sei. So habe der als Zeuge vernommene Messbeamte zwar pauschal bestätigt, dass er die Messung entsprechend seiner Schulung und gemäß der Bedienungsanleitung durchgeführt habe, sich aber nicht mit Sicherheit daran erinnern können, dass er auf ausreichend festen Unter-grund bei der Aufstellung des Messgeräts im Stativbetrieb geachtet habe. Zudem habe der hinzugezogene Sachverständige für Geräte zur Verkehrsüberwachung feststellen können, dass sich während der Messung der horizontale Schwenkwinkel des Messgerätes verändert habe, und daraus den Schluss gezogen, dass das Messgerät nicht auf einem hinreichend festen Untergrund aufgestellt worden sei und damit ein Verstoß gegen die Bedienungsanleitung vorliege. Das AG ging deshalb nicht vom Vorliegen einer Messung im sog. standardisierten Messverfahren aus. Die damit erforderliche nachträgliche individuelle Überprüfung auf Messfehler sei dem Sachverständigen aufgrund der ihm vorliegenden Anknüpfungstatsachen aber nicht möglich gewesen, da die hierzu von ihm benötigten Daten durch das Gerät nicht gespeichert werden. Daher sei der Betroffene freizusprechen.

Der Betroffene wird sich gefreut haben, aber zu früh. Das BayObLG hat aufgehoben und zurückverwiesen. Ihm reichen die Feststellungen des AG nicht.

Hier nur die Leitsätze zu der Entscheidung:

    1. Wird bei der Durchführung einer amtlichen Geschwindigkeitsmessung von den Vorgaben der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers abgewichen, gibt dies Anlass zu der Überprüfung, ob das erzielte Messergebnis den Vorgaben eines sog. standardisierten Messverfahrens entspricht.
    2. Abweichungen von Vorgaben der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers vermögen das Vorliegen eines sog. standardisierten Messverfahrens jedenfalls dann nicht in Frage zu stellen, wenn die Möglichkeit einer fehlerhaften Messung ausgeschlossen ist.

OWi I: Gibt es eine Halterhaftung beim E-Scooter?, oder: AG Frankfurt/Main versus AG Hamburg-Altona

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Am Dienstag heute ist OWi-Tag.

Zum Warmwerden beginne ich mit zwei AG-Entscheidungen zur Halterhaftung nach § 25a StVG, und zwar: Halterhaftung beim E-Scooter?

Bei der einen Entscheidung handelt es sich um den schon etwas älteren AG Frankfurt am Main, Beschl. v. 12.08.2022 – 971 OWi 51/21. Da lag der Bescheid gegen ein bundesweit agierendes Unternehmen, das u. a. E-Scooter Dritten für einen spontanen Gebrauch zur eigenverantwortlichen Nutzung mittels App überlässt, zugrunde. Ein E-Scooter war verbotswidrig abgestellt worden. Das AG Frankfurt am Main hat eine „Haftung“ des Unternehmens abgelehnt. Bei einem E-Scooter handele es sich nach § 1 Abs. 1 eKFV  um ein sog. Elektrokleinstfahrzeuge. Für die gelte nach § 9 eKFV die StVO nach Maßgabe von §§ 10 bis 13 eKFV. Nach  § 11 Abs. 5 eKFV gelten für das Abstellen von Elektrokleinstfahrzeugen damit  die für Fahrräder geltenden Parkvorschriften entsprechend. Damit sei zugleich die Anwendung der für Kraftfahrzeuge im Übrigen geltenden Parkvorschriften der §§ 12 und 13 StVO ausgeschlossen.

Demgegenüber hat das AG Hamburg-Altona im AG Hamburg – Altona, Beschl. v. 23.01.2023 – 327b OWi 1/23,  die Anwendbarkeit bejaht. Das hat es damit begründet, dass es spezielle Parkvorschriften für Fahrräder nicht gibt. Für Fahrräder komme allein ein Verstoß gegen § 1 Abs.2 StVO, also das allgemeine Rücksichtnahmegebot in Betracht. Nur dieses könne der Gesetzgeber mit seinem Verweis auf die „Parkvorschriften für Fahrräder“ also gemeint haben. In dem Falle stelle daher ein Verstoß gegen § 1 Abs.2 StVO somit auch einen Halt- oder Parkverstoß im Sinne des § 25a StVG dar.

Die letztere Entscheidung dürfte im Hinblick darauf, dass es allgemeine Meinung ist, dass § 25a StVG auch in den Fällen des Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO Anwendung findet, m.E. zutreffend sein.