Archiv für den Monat: August 2020

Pflichti II: Und nochmals nachträgliche Beiordnung, oder: Wohl herrschende Meinung

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Im zweiten Posting des Tages dann noch einmal zwei Entscheidungen, die sich erneut/auch mit der Frage der nachträglichen Beiordnung befassen. M.E. liegen zu der Problematik inzwischen die meisten Entscheidungen vor, die – wenn ich es richtig sehe – alle beigeordnet haben.

So auch im LG Duisburg, Beschl. v. 05.08.2020 – 33 Qs 37/20. Da heißt es dann zu der Frage:

„Die Regelung in § 141 Abs. 1 S. 1 StPO, nach der nur dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, steht der Beiordnung nicht entgegen. Zwar hatte sich Rechtsanwalt bereits als Wahlverteidiger des ehemals Beschuldigten bestellt. Der bisherige Wahlverteidiger kann jedoch zum Pflichtverteidiger bestellt werden, wenn dieser — wie hier – die Niederlegung des Wahlmandats für den Fall der beantragten Bestellung als Pflichtverteidiger ankündigt (vgl. BT-Drucksache 19/13829, 36; OLG Oldenburg, Beschluss v. 20.04.2009, 1 Ws 235/09, zitiert nach juris; Krawczyk, in: BeckOK StPO, 37. Edition, § 141 Rn. 2).

Der Umstand, dass das Ermittlungsverfahren durch Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 02.06.2020 eingestellt worden ist, steht der Beiordnung ebenfalls nicht entgegen. Zwar kommt die nachträgliche Beiordnung eines Verteidigers nach dem endgültigen Abschluss des Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht, so dass ein entsprechender Antrag unzulässig ist. Im Hinblick auf die Intention des Gesetzgebers zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (vgl. Bundestag-Drucksache 19/13829 und 19/15151) muss eine rückwirkende Bestellung allerdings ausnahmsweise zulässig sein, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1 StPO vorlagen und die Entscheidung durch interne Vorgänge, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte, unterblieben ist. Dies ist hier der Fall. Der Beiordnungsantrag vom 07.05.2020, an den mit Schriftsätzen vorn 22.05.2020 und 04.06.2020 erinnert wurde, wurde erst mit Verfügung vom 17.06.2020 nach der Einstellung des Verfahrens an das Amtsgericht weitergeleitet.

Entgegen den Ausführungen in der Beschwerdebegründung steht auch die Ausnahmeregelung in § 141 Abs. 3 S. 1 StPO der nachträglichen Beiordnung nicht entgegen. Danach kann in den Fällen des Satzes 1 Nummer 2 und 3 die Bestellung unterbleiben, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder, die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen. Hier liegt bereits kein Fall des § 141 Abs. 2 StPO (Bestellung ohne Antrag des Beschuldigten vor), so dass die Ausnahmeregelung nicht greift. Ungeachtet dessen kann nach dem Akteninhalt nicht davon ausgegangen werden, dass die Staatsanwaltschaft Duisburg bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung die alsbaldige Verfahrenseinstellung beabsichtigte. Denn mit Verfügung vom 12.05.2020 wurde dem Verteidiger des ehemals Beschuldigten Akteneinsicht gewährt und um Mitteilung gebeten, ob und wann eine Einlassung erfolgen werde.“

Und ähnlich dann der AG Chemnitz, Beschl. v. 30.07.2020 – 1 Gs 2108/20

„Die Voraussetzungen für das Unterbleiben der Bestellung gemäß § 141 Abs.2 Satz 3 StPO liegen nicht vor.

Rechtsanwalt pp. beantragte mit Schriftsatz vom 12.06.2020, eingegangen bei der Staatsanwaltschaft Chemnitz am 12.06.2020, seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Am 15.06.2020 wurde die Anklageschrift wegen Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht gemäß § 145a StGB gegen den Beschuldigten gefertigt und unterzeichnet. Die Akteneinsicht wurde dem Verteidiger mit Verfügung vom 16.06.2020 gewährt. Am 18.06.2020 wurde der Strafantrag durch die Führungsaufsichtsstelle zurückgenommen, weshalb mit Verfügung vom 16.06.2020 das Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten gemäß § 170 Absatz 2 StPO eingestellt wurde.

Bei Antragstellung auf Beiordnung zum Pflichtverteidiger war demnach durch die Staatsanwaltschaft nicht beabsichtigt, das Verfahren alsbald einzustellen und keine weiteren Untersuchungshandlungen als die Beiziehung von Urteilen und Akten vorzunehmen. Vielmehr sollte ein Strafverfahren durchgeführt werden.

Erst sechs Tage später wurde der Strafantrag aufgrund neuer sachlicher Erkenntnis zurückgenommen.“

Pflichti I: Eröffnung des Tatvorwurfs, oder: Egal, woher du den Tatverdacht erfahren hast

Heute dann gleich noch einmal ein Pflichtverteidigungstag. Heute dann aber mit zwei Entscheidungen zum Verfahrensrecht in Zusammenhang mit den §§ 140 ff. StPO.

Und die erste aus dem Bereich kommt mal wieder vom LG Magdeburg, stammt also vom Kollegen Funck aus Braunschweig. Das LG hat im LG Magdeburg, Beschl. v. 24.07.2020 – 25 Qs 65/20 – zum Begriff der Eröffnung des Tatvorwurfs“ in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO und zur Einstellung nach § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO Stellung genommen.

Das AG hatte die Bestellung des Kollegen u.a. deshlab abgelehnt, da dem Mandanten der Tatvorwurf nicht eröffnet sei. Dazu dann das LG, das den Kollegen bestellt hat:

„In den Fällen der notwendigen Verteidigung wird dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Diese Voraussetzungen sind gegeben. Ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO liegt vor, da sich der in dieser Sache noch unverteidigte Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Antragsstellung am 31. März 2020 in Haft in der JVA Halle befand.

Dem Beschwerdeführer war zu diesem Zeitpunkt bereits der Tatvorwurf i. S. v. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO eröffnet. Für die Eröffnung des Tatvorwurfes genügt es, dass der Beschuldigte durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise vom Tatverdacht gegen ihn Kenntnis erlangt hat. Die Auslegung, nach welcher unter der Eröffnung des Tatvorwurfes i. S. v. § 141 Abs. 1 StPO nur die förmliche Mitteilung i. S. v. §§ 136, 163 a StPO verstanden wird, ist aus Sicht der Kammer unter Beachtung der Neuregelung der Vorschriften zur Bestellung eines Pflichtverteidigers zu eng. Die Gesetzgebungsmaterialien nehmen ausdrücklich Bezug auf Art. 2 Abs. 1 RL (EU) 2016/1919 über Prozesskostenhilfe in Strafverfahren und Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (RL 2016/1919/EU v. 7. Juli 2020, bar. ABI. 2017 Nr. L 91 S. 40) i. V. m. Art. 2 Abs. 1 S. 1 RL 2013/48/EU über Rechtsbeistand in Strafverfahren und Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (RL 2013/48/EU v. 22. Oktober 2013, ABI. Nr. L 294 S. 1), nach welchem gerade nicht die förmliche Mitteilung verlangt wird, so dass eine richtlinienkonforme Auslegung des Begriffes geboten ist (BeckOK StPO/Krawczyk, 36. Ed. 1.1.2020, StPO § 141 Rn. 4). Inwieweit der Beschuldigte schon Kenntnis hat, hängt daher nicht von einer förmlichen Beschuldigtenvernehmung ab, sondern davon, ob er tatsächlich Kenntnis hat bzw. hatte. Der Vermerk der Staatsanwaltschaft Magdeburg vom 12. März 2019 zur Sitzung vom 21. Januar 2019 lässt den Schluss zu, dass dem Beschwerdeführer bereits in der Hauptverhandlung – Az.: 13 Ls 233 Js 26233/18 (645/18) – tatsächlich bekannt geworden ist, dass gegen ihn ein Verfahren wegen Anstiftung zur falschen uneidlichen Aussage angestrebt werden könnte, da er bei der Vernehmung der Zeugin pp. auf die der Tatverdacht durch die Staatsanwaltschaft Magdeburg gestützt wird, anwesend war. Jenes stützt im Ergebnis auch der Brief des Beschwerdeführers vom 27. Mai 2020.

Der § 141 Abs. 2 S. 3 StPO ist vorliegend nicht einschlägig, da diese Norm ausdrücklich nur auf die Fälle des § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3 StPO angewendet werden kann. Vorliegend richtet sich die Bestellung jedoch nach § 141 Abs. 1 StPO. Eine entsprechende Anwendung von § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf § 141 Abs. 1 i. V. m. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO erachtet die Kammer aufgrund der ausdrücklichen Beschränkung auf § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3 StPO für nicht geboten. Aber auch bei entsprechender Anwendung der Vorschrift dürften deren Voraussetzungen nicht erfüllt sein, da aufgrund der bisherigen Zeitdauer und der äußerst ungewissen Zeitspanne bis zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens in Abhängigkeit des Ausganges des Wiederaufnahmeverfahrens in der Sache 333 Js 26233/18 jedenfalls nicht mehr von einer alsbald beabsichtigten Einstellung gesprochen werden kann.“

Pflichti III: „Beiordnungsbündel“, oder: Höhere Freiheitsstrafe, Akteneinsicht und SV-Gutachten

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Die dritte Entscheidung, den LG Magdeburg, Beschl. v. 24.07.2020 – 25 Qs 722 Js 17549/20 (74/20) – hat mir mal wieder der Kollege Funck aus Braunschweig geschickt.

Das LG hat auf seine sofortige Beschwerde in einem Verfahren mit dem Vorwurf gegen die Angeklagte, zwei Diebstahlstaten begangen zu haben, den Kollegen aus Pflichtverteidiger beigeordnet. Dazu stützt sich das LG auf mehrere Gründe:

„Die zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache Erfolg, da die Beschwerdeführerin einen Anspruch auf Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 141 Abs. 1 StPO hat.

Die Voraussetzungen sind erfüllt. Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor, da bereits die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers gebietet. Zwar gibt nicht schon jede Freiheitsstrafe Anlass zur Bestellung eines Pflichtverteidigers. Jedoch kann eine zu erwartende Freiheitsstrafe über einem Jahr in der Regel die Mitwirkung eines Verteidigers gebieten (Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl., § 140, Rn. 23 a). So liegt es hier. Der Beschwerdeführerin wird die tatmehrheitliche Begehung von zwei Diebstählen vorgeworfen. Der Diebstahl wird gemäß § 242 Abs. 1 StGB mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Gelstrafe bestraft. Dabei ist zu berücksichtigen, dass aufgrund der tatmehrheitlichen Begehung eine Gesamtstrafe gemäß § 53 StGB zu bilden sein wird und die Beschwerdeführerin bereits mehrfach einschlägig vorbestraft ist, wobei sie bereits mehrfach zu Freiheitsstrafen, auch Freiheitsstrafen von einem Jahr, verurteilt worden ist.

Daneben gebietet aber auch die Schwierigkeit der Sachlage die Mitwirkung eines Verteidigers, da die Beschwerdeführerin, anders als ihr Verteidiger, gemäß § 147 Abs. 4 StPO nur eine beschränkte Möglichkeit zur Einsichtnahme in die Akten hat (Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl, § 147, Rn. 32). Gegen eine persönliche Einsichtnahme der Akten durch die Beschwerdeführerin dürften insbesondere die von den Zeugen geäußerten Bedenken sprechen, dass die Beschwerdeführerin bereits einmal die Wohnungen der Zeugen betreten habe und sie erneut aufsuchen könnte.

Im Übrigen ist die Sachlage erschwert, da ein daktyloskopisches Gutachten eingeholt worden ist (Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl., § 140, Rn. 27).“

Pflichti II: „Sozialnazi“ – Schmähkritik?, oder- Jedenfalls rechtlich schwierig.

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Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, kommt mit dem LG Münster, Beschl. v. 06.08.2020 – 11 Qs-82 Js 6977/18-42/20 – auch aus dem OLG Hamm-Bezirk. Im Verfahren wird dem Angeklagten eine Beleidigung vorgeworfen. Der Kollege Urbanzyk, der mir den Beschluss geschickt hat, teilt zum Sachverhalt, der sich aus dem LG-Beschluss ergibt, mit:

„Streit in einer Obdachlosenunterkunft. Mitarbeiter der Stadt fordert Person auf, Zimmer dort zu beziehen. Später will Freund der Person mit Beamtem den Vorfall diskutieren. Der Beamte verweigert Gespräch. Der Freund ist verärgert, nennt den Beamten im Weggehen einen “Sozialnazi“.

Das LG sagt: In diesem Fall braucht der Angeklagte einen Pflichtverteidiger:

„DerBeschluss beruht auf § 140 Abs. 2 StPO. Danach liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung u.a. dann vor, wenn wegen der Schwierigkeit der Rechtslage ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Eine schwierige Rechtslage besteht u.a. dann, wenn solche Rechtsfragen zu entscheiden sind, deren Beantwortung selbst unter Strafverfolgungsbehörden umstritten ist (vgl. Julius/Schiemann in GerckefJulius/Temming/Zöller, StPO, 6. Auflage 2019, Rn. 18 zu § 140). Eine solche Rechtslage ist hier gegeben.

Zur Beantwortung der Frage, ob es sich im Falle unsachlicher und ehrverletzender Äußerungen gegenüber staatlichen Bediensteten noch um zulässige Formen der Meinungsfreiheit oder um herabsetzende Formalbeleidigungen bzw. Schmähkritik handelt, bedarf es einer sorgfältigen Prüfung von Anlass und Kontext einer Äußerung und der anschließenden Wertung, inwieweit ein sachliches Anliegen bzw. die persönliche Kränkung im Vordergrund steht (vgl. BVerfG, BeckRS 2020, 12825). Dass auch Juristen die zutreffende Einordnung und Wertung erhebliche Schwierigkeiten bereitet, ergibt sich bereits aus den zahlreichen auch in letzter Zeit zu dieser Frage ergangenen Entscheidungen des BVerfG (vgl. u.a. BVerfG a.a.O.; BeckRS 2020, 12819; BeckRs 2020, 12823; BeckRs 2020, 12825; NJW 2019, 2600): Vor diesem Hintergrund ist die Beiordnung eines Verteidigers zur Ermöglichung einer sachgerechten Verteidigung unter dem Gesichtspunkt des „fairen Verfahrens“ geboten. „

„unter dem Gesichtspunkt des „fairen Verfahrens“ geboten“? – ich würd eher sagen: Rechtlich schwierig.

Pflichti I: Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, oder: Gesamtschau

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Heute – am nächsten warmen Sommertag – mache ich hier einen Pflichtverteidigungstag. Und alle drei Entscheidungen nehmen zu den Beiordnungsgründen Stellung.

Den Reigen eröffnet der OLG Hamm, Beschl. v. 09.07.2020 – III – 5 Ws 202/20 -, den mir der Kollege Bleicher aus Dortmund geschickt hat.

Der verteidigt den Angeklagten in einem Berufungsverfahren. Der Angeklagte ist mit Urteil des AG Brilon wegen Bedrohung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 60,00 Euro verurteilt worden. Ferner wurde ihm die Fahrerlaubnis entzogen, sein Führerschein wurde eingezogen und eine Sperrfrist von einem Jahr festgesetzt. Der Beiordnungsantrag ust damit begründet, dass der Angeklagte in einem ländlichen Gebiet wohne und als Arbeitnehmer auf seine Fahrerlaubnis angewiesen sei. Da (inzwischen) auch die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt, die sie auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hta, hat der Angeklagate auch damit den Beiordnungsantrag begründet. Zudem sei im Verfahren eine klassische „Aussage-gegen-Aussage-Konstellation“ gegeben.

Das LG hat die Beiordnung abgelehnt. Die sofortige Beschwerde hatte beim OLG Erfolg:

„Die zulässige Beschwerde gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbesteliung hat in der Sache Erfolg; dem Angeklagten war Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beizuordnen,

Nach § 140 Abs, 2 StPO bestellt der Vorsitzende einen Verteidiger dann, wenn wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage oder der Schwere der Tat die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint, weil der Angeklagte zur eigenen Verteidigung nicht hinreichend in der Lage ist, Vorliegend ist eine schwierige Sachlage gegeben. Entgegen der angefochtenen Entscheidung ist vorliegend eine        klassischen   „Aussage-gegen-Aussage-Konstellation“ gleichstehende Beweissituation anzunehmen. Zwar erfordert nicht jede Aussage-gegen-Aussage¬Konstellation eine Beiordnung. Diese kommt namentlich dann nicht in Betracht, wenn zu der Aussage des einzigen Belastungszeugen weitere belastende Indizien hinzukommen, so dass von einer schwierigen Beweiswürdigung nicht mehr gesprochen werden kann (OLG Celle, Beschluss vom 16. Oktober 2008, Az. 1 Ws 517/08 = NStZ 2009, 175, beck-online). Anders zu beurteilen sind jedoch die Fälle, in denen aus weiteren Indizien nicht hinreichend sicher auf die Richtigkeit der Angaben des einzigen Belastungszeugen geschlossen werden kann. Sind die Angaben des den Angeklagten belastenden einzigen Zeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen, ist die Beiordnung eines Verteidigers erforderlich (OLG Koblenz, Beschluss vom 11, Februar 1999, Az. 1 Ws 43/99 = NStZ-RR 2000, 176, beck-online; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 31. März 2009, Az. 3 Ws 271(09 = NStZ-RR 2009, 207, beck-online; LG München II Beschluss vom 10. Juli 2018, Az, 2 Qs 19/18 = BeckRS 2018, 38513, beck-online). Zwar ergibt sich dies mit Einführung des Akteneinsichtsrechts des Beschuldigten gemäß § 147 Abs. 4 StPO zum 01. Januar 2018 nicht mehr schon allein daraus, dass eine sachgerechte Verteidigung, insbesondere das Aufzeigen von eventuellen Widersprüchen in den Angaben des Belastungszeugen, nur durch Kenntnis des gesamten Akteninhaltes gewährleistet werden kann, der bis dahin nur dem Verteidiger uneingeschränkt zugänglich war. Die Aussage-gegen-Aussage-Konstellation erfordert jedoch weiterhin eine Beiordnung jedenfalls dann, wenn der belastenden Zeugenaussage möglicherweise entlastende Indizien gegenüberstehen, die eine sorgfältige Aussageanalyse notwendig machen. So liegt er Fall hier.

Der Angeklagte bestreitet die Tat. Er hat zwar eingeräumt, dem geschädigten Zeugen eine Schreckschusswaffe vorgehalten zu haben, er hat die gesamte Tatsituation jedoch völlig abweichend von der Darstellung des Zeugen und in einer Weise berichtet, welche die Rechtswidrigkeit seines Handelns zumindest fraglich erscheinen lässt, Die Notwendigkeit einer sorgfältigen Analyse der Aussage des geschädigten Zeugen entfällt auch nicht deshalb, weil der Beifahrer des Angeklagten als weiterer Zeuge zur Verfügung steht. Dieser hat gegenüber dem Amtsgericht die Darstellung des Geschädigten gerade nicht bestätigt. Vielmehr stimmte seine Aussage inhaltlich im Wesentlichen mit der Einlassung des Angeklagten überein, Abweichungen zu dieser im Detail können insoweit durchaus auch als Realkennzeichen zu würdigen sein. Auch sind die anlässlich der Durchsuchung am 05.09.2019 festgestellten Schäden am Fahrzeug des Angeklagten eher mit dessen Einlassung als mit den Bekundungen des Zeugen vereinbar. Insbesondere passt zu dem von dem Angeklagten geschilderten kraftvollen Aufreißen der Fahrertür, dass deren Griff am 09.05.2020 lose war, Dass — wie vom Amtsgericht festgestellt — der Fensterheber der Fahrertür des PKW des Angeklagten jedenfalls zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung defekt war, spricht ebenfalls eher für seine Darstellung, da der Zeuge angab, sich durch das geöffnete Fenster mit dem Angeklagten unterhalten zu haben. Soweit das Amtsgericht dies unter Hinweis darauf, dass man die Scheibe mit einigem Kraftaufwand heruntergedrückt haben könnte, für unerheblich hält, überzeugt jedenfalls diese Argumentation nicht. Denn sie lässt offen, warum der Angeklagte dies hätte tun sollen. Denn nach einem gewaltsamen Herunterdrücken der Scheibe wäre diese in der Tür versenkt und damit kaum auf dieselbe Weise wieder zu schließen gewesen.

In der Gesamtschau ist vorliegend von einer schwierigen Sachlage auszugehen.

Deshalb kann offen bleiben, ob vor dem Hintergrund, dass dem Angeklagten die Entziehung seiner Fahrerlaubnis droht, auch eine schwere Tat bejaht werden könnte (gegen die Annahme einer einschneidenden Rechtsfolge bei drohendem Entzug der Fahrerlaubnis: OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Mai 1985, Az. 1 Ws 304/85, zitiert bei Janiszewski NStZ 1986, 107, beck-online; LG Berlin, ‚Beschluss vom 14. September 2006, Az. 526 Qs 254/06 [Berufskraftfahrer]; LG Stuttgart, Beschluss vom 13. Dezember 2012, Az, 19 Qs 154/12 [Bußgeldverfahren gegen Berufskraftfahrer]).“