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Pflichti I: Gutachten bei der Reststrafaussetzung, oder: Bei Aussage-gegen-Aussage gibt es nicht immer Pflichti

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Heute dann „Pflichtverteidigungsentscheidung“.

Ich eröffne den Reigen mit zwei Entscheidungen zum Beiordnungsgrund, und zwar einmal BGH und einmal OLG Brandenburg.

Der BGH hat im BGH, Beschl. v. 08.01.2025 – StB 71/24 – die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafvollstreckungsverfahren betreffennd Strafrestaussetzung zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StPO abgelehnt:

„2. Das Rechtsmittel ist jedoch unbegründet.

a) Die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Vollstreckungsverfahren, namentlich im Verfahren über eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung, kommt – in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO – nur ausnahmsweise in Betracht, wenn besondere Schwierigkeiten der Sach- oder Rechtslage im Vollstreckungsverfahren oder die Schwere des Vollstreckungsfalls für den Verurteilten dies gebieten oder der Verurteilte unfähig ist, seine Rechte sachgerecht selbst wahrzunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, BGHR StPO § 140 Abs. 2 Vollstreckungsverfahren 1 Rn. 9 mwN). Insofern ist eine zurückhaltende Handhabung angezeigt, weil das Strafvollstreckungsverfahren die Mitwirkung eines Verteidigers in weit geringerem Maße erfordert als das Erkenntnisverfahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Mai 2002 – 2 BvR 613/02, NJW 2002, 2773, 2774).

b) Hieran gemessen hat der gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 3 in Verbindung mit § 462a Abs. 5 Satz 1 StPO für die Entscheidung zuständige Vorsitzende des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts zu Recht die Bestellung eines Pflichtverteidigers abgelehnt.

aa) Die Sach- und Rechtslage des Vollstreckungsverfahrens weist keine besonderen Schwierigkeiten auf; es handelt sich vielmehr um einen typischen Fall der Prüfung der Voraussetzungen für eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe, der keine Besonderheiten erkennen lässt. Die zu beantwortenden Fragen werfen sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht keine Schwierigkeiten auf. Weder die Dauer der bislang vollstreckten Strafe noch der zu vollstreckende Strafrest lassen den Vollstreckungsfall als so schwerwiegend erscheinen, dass eine Pflichtverteidigerbestellung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO notwendig wäre. Zudem sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Verurteilte, der hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache hat, seine Rechte im Vollstreckungsverfahren selbst nicht sachgerecht wahrnehmen kann.

bb) Der Umstand, dass gegebenenfalls im weiteren Verlauf des Verfahrens über eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung ein kriminalprognostisches Gutachten gemäß § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO einzuholen sein wird, gebietet eine Pflichtverteidigerbestellung jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt gleichfalls nicht. Zwar kann die Erörterung eines solchen Gutachtens im Einzelfall eine Pflichtverteidigerbestellung erfordern, wenn hierfür besondere Kenntnisse oder Fähigkeiten erforderlich sind, über die der Verurteilte nicht verfügt (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, NStZ-RR 2022, 357, 358). Auch in den Fällen einer nach § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO gebotenen Einholung eines kriminalprognostischen Gutachtens ist aber in aller Regel keine Pflichtverteidigerbestellung veranlasst, solange das Gutachten noch nicht vorliegt oder – wie hier – noch nicht einmal eine Entscheidung darüber getroffen worden ist, ob es einer kriminalprognostischen Begutachtung des Verurteilten bedarf (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, NStZ-RR 2022, 357, 358).

cc) Schließlich ergibt sich die Notwendigkeit einer Pflichtverteidigerbestellung für die anstehende Vollstreckungsentscheidung nicht schon daraus, dass hier statt einer Strafvollstreckungskammer gemäß § 462a Abs. 5 Satz 1 StPO das Oberlandesgericht zu entscheiden hat (vgl. diesbezüglich näher BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, BGHR StPO § 140 Abs. 2 Vollstreckungsverfahren 1 Rn. 17).“

Und dann habe ich hier noch den OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.1.2025 – 1 Ws 161/24 (S) -, ergangen in einem Verfahren wegen sexuellen Übergriffs. Das LG hatte im Berufungsverfahren den Beiordnungsantrag zurückgewiesen. Das hat beim OLG „gehalten“.

„a) Nicht jede Aussage-gegen-Aussage-Konstellation erfordert die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Vielmehr kommt eine Beiordnung insbesondere dann nicht in Betracht, wenn zu der Aussage des einzigen Belastungszeugen den Angeklagten belastende Indizien hinzutreten mit der Folge, dass von einer schwierigen Beweiswürdigung nicht mehr gesprochen werden kann (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 16. Oktober 2008, 1 Ws 517/08, Rz. 4, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 09. Juli 2020, 5 Ws 202/20, Rz. 8, BeckRS 2020, 21130; Krawczyk in: BeckOK StPO, 53. Edition, Stand: 01. Oktober 2024, Rz. 29). Ist dagegen aus weiteren Indizien nicht hinreichend sicher auf die Richtigkeit der Angaben des einzigen Belastungszeugen zu schließen, sind dessen Angaben einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen mit der Folge, dass die Beiordnung eines Verteidigers erforderlich ist (OLG Hamm a. a. O.).

Gemessen hieran, bestand vorliegend keine schwierige Sachlage, welche die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen ließ (§ 140 Abs. 2 StPO). Die Berufungskammer hat neben der Geschädigten deren Lebensgefährten als Zeugen vernommen, der Zeuge stützte die den Angeklagten belastenden Angaben der Geschädigten. Zudem wurden die Chatnachrichten zwischen der Geschädigten und ihrer Mutter vom Tattag in die Beweisaufnahme eingeführt, auch sie bekräftigten die Aussage der Geschädigten. Insgesamt bestand sonach eine Prozesssituation, in der zur Aussage der einzigen Belastungszeugin weitere Indizien hinzutraten, aus denen auf die Richtigkeit deren Angaben geschlossen werden konnte. Allein die zeitliche Dauer der Beweisaufnahme vermag zu keiner anderen Sichtweise zu führen.

Beweis III: Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, oder: Vorliegen weiterer Beweismittel

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Die letzte Entscheidung heute verhält sich zu Beweiswürdigungsregeln, und zwar tzr Frage der Aussage-gegen-Aussagekonstellation bei Vorliegen weiterer tatbezogener Beweismittel. Es handelt sich um den KG, Beschl. v. 05.11.2021 – (2) 121 Ss 100/21 (24/21). Das KG nimmt zu der Frage in einem Zusatz Stellung, und zwar wie folgt:

„3. Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin:

„Gegen die von dem Angeklagten mit seiner Revision ebenfalls angegriffene Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils bestehen unter Berücksichtigung der maßgeblichen Rechtsgrundsätze (vgl. BGH, Beschluss vom 5. August 1997 – 5 StR 178/97 –, juris) keine durchgreifenden Bedenken. Die Annahme der Revision, dass eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliegt, trifft hier schon deshalb nicht zu, weil – worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hinweist – in Gestalt der bei der Anzeigenaufnahme gefertigten Lichtbilder und des ärztliche Attests des Dr. med. P. vom 20. Januar 2020 weitere unmittelbar tatbezogene, sachliche Beweismittel vorlagen, die die Angaben der Zeugin stützen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. November 2019 – 5 StR 451/19 – juris; Senat, NStZ 2019, 360). Der Anwendung der vom BGH (allein) für die Konstellation „Aussage gegen Aussage“ entwickelten besonders strengen Beweiswürdigungsregeln (vgl. BGHSt 44, 153; 44, 257) bedurfte es somit nicht.“.

Beweiswürdigung I: Aussage-gegen-Aussage-Thema, oder: Alle Umstände besonders sorgfältig gewürdigt?

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In die neue Woche starte ich mit zwei Entscheidungen zur Beweiswürdigung und dort zur Unterthematik: „Aussage-gegen-Aussage-Problematik. Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v.  18.05.2021 – 1 StR 124/21. Das LG hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung verurteilt. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten hatte mit der Sachrüge Erfolg. Der BGH beanstandet die Beweiswürdigung des LG:

„1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist rechtsfehlerhaft.

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn das Tatgericht zu hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung stellt. Allerdings bestehen besondere Anforderungen an die Darlegung der Überzeugungsbildung, wenn das Tatgericht ‒ wie hier ‒ seine Feststellungen im Rahmen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen allein auf die Angaben der Geschädigten stützt. In einer solchen Konstellation, in der die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, ob das Gericht den Angaben der einzigen Belastungszeugin folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegung einbezogen hat (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 6. August 2020 ‒ 1 StR 178/20 Rn. 8; vom 12. Februar 2020 ‒ 1 StR 612/19 Rn. 4; vom 18. März 2020 ‒ 1 StR 67/20 Rn. 7; vom 5. April 2016 ‒ 1 StR 53/16 Rn. 3 und vom 20. April 2017 ‒ 2 StR 346/16 Rn. 6).

b) Diesen Anforderungen wird das Urteil des Landgerichts ‒ auch eingedenk des nur eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs ‒ nicht gerecht.

aa) Das Landgericht hat bei der hier vorliegenden Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen zwar zutreffend zunächst die Einlassung des Angeklagten (UA S. 21 ‒ 25) umfassend dargestellt, sich dann aber den ‒ aus seiner Sicht ‒ glaubhaften Angaben der Nebenklägerin nach deren inhaltlicher Überprüfung in vollem Umfang angeschlossen (UA S. 25 ‒ 41). In die notwendigerweise besonders sorgfältige Gesamtwürdigung werden vom Landgericht aber nicht alle Umstände einbezogen, die seine Entscheidung hätten beeinflussen können. Insbesondere wird die Einlassung des Angeklagten, dass es zunächst zu einverständlichen sexuellen Handlungen und nach der ‒ sowohl vom Angeklagten als auch von der Nebenklägerin übereinstimmend geschilderten ‒ Zäsur nach dem Oralverkehr nicht mehr zu einem Vaginalverkehr gekommen sei, nicht gewürdigt und nicht mit den Angaben der Nebenklägerin abgeglichen. Dessen hätte es gerade deshalb bedurft, weil die Nebenklägerin im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung und bei ihren Angaben in der Hauptverhandlung (UA S. 27 ‒ 29) teilweise abweichende Angaben zum eigentlichen Geschehensablauf gemacht hat, welche das Landgericht aber gleichwohl als in ihren wesentlichen Teilen konstant (UA S. 27) bewertet, ohne die entsprechenden Angaben der Nebenklägerin insoweit wiederzugeben. Auch die vom Landgericht festgestellten Facebook-Nachrichten des Angeklagten an die Nebenklägerin nach der Tat, u.a. mit den Formulierungen ʺWieso hast du so am Rad gedreht.ʺ (UA S. 41), werden nicht in die insoweit gebotene Gesamtwürdigung eingestellt.

bb) Hinzu kommt, dass das Landgericht trotz der in mehrfacher Hinsicht unrichtigen Angaben der Nebenklägerin ohne diesbezügliche Gesamtwürdigung von deren Glaubwürdigkeit ausgeht. So hat die Nebenklägerin bei ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung zunächst verschwiegen, dass ihr ʺSchwarmʺ Si. in der Nacht vor der Tat bei ihr übernachtet hatte und dass der Zeuge H. zweimal zu ihr ins Hotel gekommen war. Einmal war dies unmittelbar nach dem Tatgeschehen gegen 1.00 Uhr für die Dauer von einer Stunde der Fall; später hatte der Zeuge bei einem weiteren Besuch im Hotelzimmer auf dem Sofa übernachtet. Zwar hat die Nebenklägerin diese Angaben ‒ nach entsprechenden Vernehmungen der vorgenannten Zeugen ‒ in der Hauptverhandlung bei ihrer zweiten Vernehmung richtiggestellt. Die Begründung der Nebenklägerin, dass die Falschaussage aus falsch verstandener Loyalität zu dem Zeugen H. gemacht wurde (UA S. 40), und die Folgerung des Landgerichts, dass diese Falschaussage keine Zweifel am sonstigen Wahrheitsgehalt ihrer Aussage begründen kann, werden nicht nachvollziehbar begründet. Dieses Verhalten der Nebenklägerin mit zunächst wahrheitswidrigen Angaben hätte ‒ auch im Zusammenhang mit der dargestellten abweichenden Einlassung des Angeklagten zum Tatgeschehen ‒ zumindest einer vertiefenden Auseinandersetzung im Rahmen der Gesamtwürdigung mit der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin bedurft, um den erhöhten Anforderungen an die Beweiswürdigung in dieser besonderen Konstellation zu genügen.“

AE III: Akteneinsicht des Nebenklägers, oder: Aussage-gegen-Aussage

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Und als dritte Entscheidung dann noch der OLG Hamm, Beschl. v. 06.09.2021 – 4 Ws 153/21 – zur Akteneinsicht an die Vertreterin der Nebenklägerin in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation. Dazu das OLG:

„Der Senat kann dahinstehen lassen, ob in Konstellationen, in denen Aussage gegen Aussage steht, bei Gewährung von Akteneinsicht an die Nebenklägervertreterin generell eine Gefährdung des Untersuchungszwecks i.S.v. § 406e Abs. 2 S. 2 StPO zu gewärtigen ist (OLG Hamburg, Beschl. v. 21.03.2016 – 1 Ws 40/16 – juris; Eisenberg JR 2016, 390, 394; Hinderer StraFo 2016, 76 ff.) oder ob eine solche erst nach Betrachtung der Umstände des Einzelfalls angenommen werden kann (so etwa: KG Berlin StraFo 2019, 116 f.; OLG Braunschweig StraFo 2016, 75, 76; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 05.02.2021 – 2 Ws 27/21 – juris). Auch wenn man der zweiten Auffassung folgt, führt die Ausübung des durch die Norm eingeräumten Ermessens, zu dessen Überprüfung der Senat mangels gesetzlicher Beschränkung der Überprüfungskompetenz (wie etwa in § 453 Abs. 2 StPO) in vollem Umfang berufen ist (vgl. § 309 Abs. 2 StPO), dazu, im vorliegenden Fall nur eine eingeschränkte Akteneinsicht in dem vom Landgericht vorgenommenen Umfang zu gewähren. Der Angeklagte bestreitet die Tat und es liegt eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vor. Es wird daher im Hauptverfahren auf eine eingehende Würdigung der den Angeklagten belastenden Aussage der Nebenklägerin einschließlich ihrer Entstehungsgeschichte und Aussagekonstanz ankommen. Zwar drängt die Kenntnis der Verfahrensakten nicht zur Annahme der Unrichtigkeit von Aussagen und mit der Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts geht nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher (BGH JR 2016, 390 und BGH JR 2016, 391). Auch ist vorliegend angesichts des geringen Alters der Nebenklägerin und der Zusicherung der Nebenklägervertreterin, ihr den Akteninhalt nicht zugänglich zu machen, nicht zu gewärtigen, dass die Nebenklägerin ihre verschriftlichte Aussage bzw. Teile der verschriftlichten Aussage ihrer Mutter gleichsam „zum Auswendiglernen“ erhält. Andererseits war die Aussage der Nebenklägerin im Ermittlungsverfahren bei der Polizei so detailarm (und Angaben zum Tatgeschehen erfolgten eher mühsam und auf immer erneute Vorhalte), dass die Kenntnis der Akteninhalte – und sei dies auch nur durch entsprechende Vorhalte im Rahmen eines vorbereitenden Gesprächs mit der Nebenklägervertreterin – sehr wohl die Würdigung der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben im Hauptverfahren erschweren und damit den Untersuchungszweck gefährden könnte. Demgegenüber ist die Beeinträchtigung der Rechte der Nebenklägerin gering, denn – wie der Nichtabhilfebeschluss zutreffend ausführt – ihrer anwaltlichen Vertreterin kann unmittelbar nach ihrer Vernehmung bzw. der Vernehmung ihrer Mutter und noch vor Entlassung dieser Zeugen Akteneinsicht gewährt werden, so dass diesen entsprechende Vorhalte – nach einer zunächst von etwaigen Kenntnissen der Akteninhalte unbeeinflussten Aussage – gemacht werden können. Sollte eine längere Verhandlungspause innerhalb eines Verhandlungstages für die Wahrnehmung der Akteneinsicht nicht ausreichen, wird das Landgericht ggf. auch die Anberaumung eines weiteren Fortsetzungstermins in Erwägung ziehen müssen.“

Nebenklage I: Akteneinsicht für die Nebenklägerin, oder: Aussage-gegen-Aussage

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Heute stelle ich dann Entscheidungen rund um die Nebenklage vor. Die erste, der LG Köln, Beschl. v.29.01.2021 – 120 Qs 3-4/21 -, den mir die Kollegin Heindorf aus Köln Essen geschickt hat, ist m.E. vor allem aber auch für Verteidiger interessant.

Ergangen ist er in einem Verfahren, das eine Tat nach § 177 Abs. 2 Nr. 5, Abs. 5 Nr. 1, Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB zum Gegenstand hat. In dem ist der Nebenklagevertreterin, die als Zeugenbeistand beigeordnet war, Akteneinsicht gewährt worden. Dagegen richte ich sich die Beschwerde der Verteidiger der beiden Angeklagten. Die hatte Erfolg:

„Die Beschwerden sind auch begründet. Der Antrag auf Akteneinsicht war abzulehnen.

Nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO kann dem Nebenkläger die Akteneinsicht versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Über die Versagung der Akteneinsicht wegen einer Gefährdung des Untersuchungszwecks entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen (Schmitt a.a.O., § 406e Rn. 11). Indes ist das Beschwerdegericht nicht darauf beschränkt, die angefochtene Entscheidung auf Ermessensfehler zu überprüfen, sondern trifft eine eigene Ermessensentscheidung (KG NStZ 2019, 110 (111); OLG Braunschweig NStZ 2016, 629 (630)). Dabei sind auch in Fällen, in denen die Angaben des Verletzten zum Kerngeschehen von der Einlassung des Angeklagten abweichen und eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliegt, immer die Umstände des Einzelfalls entscheidend (vgl. KG a.a.O.; OLG Braunschweig a.a.O.; Schmitt a.a.O., § 406e Rn. 12). Allerdings dürfte bei einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation jedenfalls dann von einer Gefährdung des Untersuchungszwecks auszugehen sein, wenn — wie hier — die Aussage des Belastungszeugen das einzige oder nach dem Ermittlungsergebnis belastbarste Beweismittel ist (so auch LR-StPO/Hilger, 26. Aufl. 2009, § 406e Rn. 13). Denn in diesen Fällen droht schon durch die Akteneinsicht als solche eine Gefährdung des Untersuchungszwecks, sodass dem Belastungszeugen jedenfalls in aller Regel die Akteneinsicht zu versagen ist (vgl. OLG Hamburg NStZ 2015, 105 (107); MüKoStPO/Grau, 2019, § 406e Rn. 14).

Ausweislich des Akteninhalts haben die Angeklagten die Tat abgestritten, wobei sie insbesondere die Einvernehmlichkeit der betreffenden sexuellen Handlungen vorgeben. In solchen Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen greifen besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung, wobei es dem Tatrichter je nach Fallgestaltung auch obliegen kann, dem Belastungszeugen zum Zwecke der Glaubhaftigkeitsprüfung Inhalte früherer Vernehmungen oder sonstige Akteninhalte vorzuhalten. Gerade der inhaltlichen Konstanz aufeinander folgender Vernehmungen desselben Zeugen kommt als eines von zahlreichen Realitätskriterien wesentliche Bedeutung zu (OLG Hamburg NStZ 2015, 105 (107)). Auch wenn die Tat tatsächlich begangen worden sein und der Zeuge in der Hauptverhandlung wahrheitsgemäß aussagen sollte, wird die Aussagekraft seiner Aussagekonstanz durch die Gewährung vorheriger Akteneinsicht zwangsläufig entwertet (vgl. auch BGH, Beschluss vom 21. April 2016 — 2 StR 435/15 —, juris Rn. 14). Selbiges gilt für die im Rahmen der Beweiswürdigung gebotene Überprüfung durch den Tatrichter, ob der Aussageinhalt mit den sonstigen Akteninhalten, insbesondere den übrigen Ermittlungsergebnissen, in Einklang zu bringen ist. Das Gericht könnte sich bei der Glaubhaftigkeitsprüfung der Aussage dem Umstand der vorherigen Akteneinsicht nicht verschließen. Hierdurch wird die Erforschung des wahren Sachverhalts unabhängig davon gefährdet, ob der Zeuge die Kenntnisnahme von Akteninhalten offenlegt oder seine Aussage gar bewusst diesen Akteninhalten anpasst. Schon die Möglichkeit, dass der Tatrichter der Aussage des Belastungszeugen aus diesem Grund geringeres Gewicht beimisst, steht dem Untersuchungszweck entgegen.

Auch die Zusicherung der Nebenklagevertreterin, der Nebenklägerin im vorliegenden Fall keine Akteninhalte zur Verfügung zu stellen, schließt die Gefährdung des Untersuchungszwecks nicht aus. Der Tatrichter kann nicht zuverlässig überprüfen, ob diese Zusicherung eingehalten wurde (vgl. OLG Hamburg NStZ 2015, 105 (108)). Hieran ändert sich nicht dadurch etwas, dass die Nebenklägerin auf Befragen des Tatrichters, welche Akteninhalte zu ihrer Kenntnis gelangt sind, als Zeugin zur Wahrheit verpflichtet wäre und für den Fall einer Lüge mit einer Strafe rechnen müsste (so aber KG NStZ 2019, 110 (112)). Denn gerade in Fällen, in denen der Angeklagte der Sache nach eine Falschbeschuldigung durch den Belastungszeugen behauptet, ist diese Erwägung nicht geeignet, eine Gefährdung des Untersuchungszwecks auszuschließen.

Ohne Bedeutung ist weiter die — auch von der Nebenklagevertreterin vorgebrachte —Erwägung, es dürfte sich im Ergebnis eher zu Gunsten als zu Lasten des Angeklagten auswirken, wenn eine festgestellte Konstanz in der Aussage der Nebenklägerin wegen einer vorherigen Akteneinsicht an Wert für die Beurteilung ihrer Angaben als richtig verliert (vgl. hierzu KG NStZ 2019, 110 (112)). Es geht bei dem Versagungsgrund des § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO nicht um die Interessen des Angeklagten, sondern um das öffentliche Interesse, den Untersuchungszweck nicht zu gefährden. Auch wenn der Untersuchungszweck auch den Interessen des Angeklagten dient, steht er dennoch nicht zu dessen Disposition.

Der Gefährdung des Untersuchungszwecks stehen im vorliegenden Fall keine überwiegenden Interessen der Nebenklägerin gegenüber. Die Erwägung der Nebenklagevertreterin, nur durch Aktenkenntnis sei ihr eine Beurteilung möglich, ob die Nebenklägerin möglicherweise eine Falschaussage getätigt hat, ist nicht durchgreifend. Es obliegt dem Tatrichter, die Nebenklägerin vor ihrer Vernehmung umfassend zu den Folgen einer Falschaussage zu belehren. Es ist der Nebenklagevertreterin auch ohne genaue Aktenkenntnis unbenommen, die Nebenklägerin darüber aufzuklären, welche prozessualen Rechte ihr aus dem hypothetischen Fall unwahrer Angaben im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung erwachsen würden. Es ist nicht erkennbar, welchen Vorteil die genaue Kenntnis früherer Aussageinhalte für diese Aufklärung bieten sollte…..“