Pflichti I: Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, oder: Gesamtschau

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Heute – am nächsten warmen Sommertag – mache ich hier einen Pflichtverteidigungstag. Und alle drei Entscheidungen nehmen zu den Beiordnungsgründen Stellung.

Den Reigen eröffnet der OLG Hamm, Beschl. v. 09.07.2020 – III – 5 Ws 202/20 -, den mir der Kollege Bleicher aus Dortmund geschickt hat.

Der verteidigt den Angeklagten in einem Berufungsverfahren. Der Angeklagte ist mit Urteil des AG Brilon wegen Bedrohung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 60,00 Euro verurteilt worden. Ferner wurde ihm die Fahrerlaubnis entzogen, sein Führerschein wurde eingezogen und eine Sperrfrist von einem Jahr festgesetzt. Der Beiordnungsantrag ust damit begründet, dass der Angeklagte in einem ländlichen Gebiet wohne und als Arbeitnehmer auf seine Fahrerlaubnis angewiesen sei. Da (inzwischen) auch die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt, die sie auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hta, hat der Angeklagate auch damit den Beiordnungsantrag begründet. Zudem sei im Verfahren eine klassische „Aussage-gegen-Aussage-Konstellation“ gegeben.

Das LG hat die Beiordnung abgelehnt. Die sofortige Beschwerde hatte beim OLG Erfolg:

„Die zulässige Beschwerde gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbesteliung hat in der Sache Erfolg; dem Angeklagten war Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beizuordnen,

Nach § 140 Abs, 2 StPO bestellt der Vorsitzende einen Verteidiger dann, wenn wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage oder der Schwere der Tat die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint, weil der Angeklagte zur eigenen Verteidigung nicht hinreichend in der Lage ist, Vorliegend ist eine schwierige Sachlage gegeben. Entgegen der angefochtenen Entscheidung ist vorliegend eine        klassischen   „Aussage-gegen-Aussage-Konstellation“ gleichstehende Beweissituation anzunehmen. Zwar erfordert nicht jede Aussage-gegen-Aussage¬Konstellation eine Beiordnung. Diese kommt namentlich dann nicht in Betracht, wenn zu der Aussage des einzigen Belastungszeugen weitere belastende Indizien hinzukommen, so dass von einer schwierigen Beweiswürdigung nicht mehr gesprochen werden kann (OLG Celle, Beschluss vom 16. Oktober 2008, Az. 1 Ws 517/08 = NStZ 2009, 175, beck-online). Anders zu beurteilen sind jedoch die Fälle, in denen aus weiteren Indizien nicht hinreichend sicher auf die Richtigkeit der Angaben des einzigen Belastungszeugen geschlossen werden kann. Sind die Angaben des den Angeklagten belastenden einzigen Zeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen, ist die Beiordnung eines Verteidigers erforderlich (OLG Koblenz, Beschluss vom 11, Februar 1999, Az. 1 Ws 43/99 = NStZ-RR 2000, 176, beck-online; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 31. März 2009, Az. 3 Ws 271(09 = NStZ-RR 2009, 207, beck-online; LG München II Beschluss vom 10. Juli 2018, Az, 2 Qs 19/18 = BeckRS 2018, 38513, beck-online). Zwar ergibt sich dies mit Einführung des Akteneinsichtsrechts des Beschuldigten gemäß § 147 Abs. 4 StPO zum 01. Januar 2018 nicht mehr schon allein daraus, dass eine sachgerechte Verteidigung, insbesondere das Aufzeigen von eventuellen Widersprüchen in den Angaben des Belastungszeugen, nur durch Kenntnis des gesamten Akteninhaltes gewährleistet werden kann, der bis dahin nur dem Verteidiger uneingeschränkt zugänglich war. Die Aussage-gegen-Aussage-Konstellation erfordert jedoch weiterhin eine Beiordnung jedenfalls dann, wenn der belastenden Zeugenaussage möglicherweise entlastende Indizien gegenüberstehen, die eine sorgfältige Aussageanalyse notwendig machen. So liegt er Fall hier.

Der Angeklagte bestreitet die Tat. Er hat zwar eingeräumt, dem geschädigten Zeugen eine Schreckschusswaffe vorgehalten zu haben, er hat die gesamte Tatsituation jedoch völlig abweichend von der Darstellung des Zeugen und in einer Weise berichtet, welche die Rechtswidrigkeit seines Handelns zumindest fraglich erscheinen lässt, Die Notwendigkeit einer sorgfältigen Analyse der Aussage des geschädigten Zeugen entfällt auch nicht deshalb, weil der Beifahrer des Angeklagten als weiterer Zeuge zur Verfügung steht. Dieser hat gegenüber dem Amtsgericht die Darstellung des Geschädigten gerade nicht bestätigt. Vielmehr stimmte seine Aussage inhaltlich im Wesentlichen mit der Einlassung des Angeklagten überein, Abweichungen zu dieser im Detail können insoweit durchaus auch als Realkennzeichen zu würdigen sein. Auch sind die anlässlich der Durchsuchung am 05.09.2019 festgestellten Schäden am Fahrzeug des Angeklagten eher mit dessen Einlassung als mit den Bekundungen des Zeugen vereinbar. Insbesondere passt zu dem von dem Angeklagten geschilderten kraftvollen Aufreißen der Fahrertür, dass deren Griff am 09.05.2020 lose war, Dass — wie vom Amtsgericht festgestellt — der Fensterheber der Fahrertür des PKW des Angeklagten jedenfalls zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung defekt war, spricht ebenfalls eher für seine Darstellung, da der Zeuge angab, sich durch das geöffnete Fenster mit dem Angeklagten unterhalten zu haben. Soweit das Amtsgericht dies unter Hinweis darauf, dass man die Scheibe mit einigem Kraftaufwand heruntergedrückt haben könnte, für unerheblich hält, überzeugt jedenfalls diese Argumentation nicht. Denn sie lässt offen, warum der Angeklagte dies hätte tun sollen. Denn nach einem gewaltsamen Herunterdrücken der Scheibe wäre diese in der Tür versenkt und damit kaum auf dieselbe Weise wieder zu schließen gewesen.

In der Gesamtschau ist vorliegend von einer schwierigen Sachlage auszugehen.

Deshalb kann offen bleiben, ob vor dem Hintergrund, dass dem Angeklagten die Entziehung seiner Fahrerlaubnis droht, auch eine schwere Tat bejaht werden könnte (gegen die Annahme einer einschneidenden Rechtsfolge bei drohendem Entzug der Fahrerlaubnis: OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Mai 1985, Az. 1 Ws 304/85, zitiert bei Janiszewski NStZ 1986, 107, beck-online; LG Berlin, ‚Beschluss vom 14. September 2006, Az. 526 Qs 254/06 [Berufskraftfahrer]; LG Stuttgart, Beschluss vom 13. Dezember 2012, Az, 19 Qs 154/12 [Bußgeldverfahren gegen Berufskraftfahrer]).“

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