Archiv für den Monat: August 2018

Rechtlicher Hinweis in der Hauptverhandlung, oder: Danach muss es genügend Verteidigungszeit geben

Die 35. KW. eröffne ich mit zwei BGH-Entscheidungen. Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 13.07.2018 – 1 StR 34/18, der eine Problematik aus § 265 StPo zum Gegenstand hat. Also „rechtlicher Hinweis“. Damit hat der BGH derzeit recht viel zu tun, was sicherlich auch daran liegt, dass die Vorschrift durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 17.08.2017 (BGBl I, S. 3202) geändert/erweitert worden ist. Da braucht sie etwas „Feinschliff“.

In dem Beschluss vom 13.07.2018 geht es aber nicht in der Hauptsache um Fragen, die mit der gesetzlichen Neuregelugn zu tun haben, sondern um eine auch schon zum alten Recht sich immer wieder stellende Frage, ob dem Angeklagten nach einem rechtlichen Hinweis ausreichende Verteidigungszeit gegeben worden ist, sich auf die neue Lage einzustellen.

Es ging hier in etwa um folgendes Verfahrensgeschehen: Mit der Anklage waren dem Angeklagten drei Fälle der Beihilfe zur Steuerhinterziehung hinsichtlich der C. Ltd. für die Jahre 2006 bis 2009 und 17 Fälle der mittäterschaftlichen Steuerhinterziehung hinsichtlich der L. GmbH zur Last gelegt worden. Die Anklageschrift war jeweils von Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) sowie davon ausgegangen, dass für eine mittäterschaftliche Begehung eine rein faktische Geschäftsführerstellung nicht ausreichend sei. Die erforderliche Rechtspflicht zur Aufklärung über steuerliche Tatsachen (§ 35 AO) habe für den Angeklagten erst ab dem 11.11. 2011 bestanden, so dass diesem nur für die nach diesem Zeitpunkt eingereichten Steuererklärungen mittäterschaftliches Handeln zur Last gelegt wurde.

In einem noch vor Eröffnung des Hauptverfahrens erfolgten Gespräch zwischen den Verfahrensbeteiligten gemäß § 202a StPO wies der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer darauf hin, dass das Gericht entgegen der rechtlichen Wertung in der Anklageschrift Steuerhinterziehung durch aktives Tun (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) für gegeben erachte, so dass es auf eine Organ- oder Pflichtenstellung des Angeklagten M. für eine täterschaftliche Strafbarkeit nicht ankomme. Weitere Ausführungen zur Beteiligungsform des Angeklagten M. erfolgten in diesem Rahmen nicht. Diese Einschätzung wiederholte der Vorsitzende in einem weiteren Gespräch am dritten Hauptverhandlungstag.

Am 20. Hauptverhandlungstag erteilte der Vorsitzende sodann den rechtlichen Hinweis, dass bei dem Angeklagten M. „auch eine Verurteilung wegen mittäterschaftlicher Umsatzsteuerhinterziehung für die Jahre 2006 – 2009 in Betracht“ komme. Nach weiteren sieben Hauptverhandlungstagen wurde die Beweisaufnahme geschlossen, ohne dass bis dahin weitere Hinweise erfolgt wären. Im unmittelbaren Anschluss hielt der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft seinen Schlussvortrag und beantragte darin, den Angeklagten wegen 20 (tatmehrheitlichen) Fällen der mittäterschaftlich begangenen Steuerhinterziehung zu verurteilten.

Die Plädoyers der Verteidiger waren für den nächsten Hauptverhandlungstag in der Folgewoche vorgesehen. In diesem Termin trat die Strafkammer jedoch wieder in die Beweisaufnahme ein. Sie erteilte den rechtlichen Hinweis, „dass beim Angeklagten M. in Abweichung von der Anklage auch eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung in 20 tateinheitlichen Fällen in Betracht kommt unter dem Gesichtspunkt eines uneigentlichen Organisationsdelikts. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn Anknüpfungspunkt für die strafbare Handlung nicht eine individualisierte Tathandlung ist, die jeder einzelnen Tat zugeordnet werden kann, sondern der Täter die organisatorische Grundlage für eine Vielzahl von Taten des Vordermanns schafft“.

In der Folge wurde die Beweisaufnahme erneut geschlossen. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft hielt seinen Schlussvortrag. Anschließend trat die Strafkammer, da die Verteidigung eines anderen Angeklagten verschiedene Anträge angekündigt hatte, wieder in die Beweisaufnahme ein. Nach Stellung der Anträge wurde die Hauptverhandlung für 24 Minuten unterbrochen und danach fortgesetzt. Die Verteidigung des Angeklagten beantragte im Hinblick auf den o.g. Hinweis, die Hauptverhandlung auszusetzen, hilfsweise zu unterbrechen und am selben Tag nicht mehr fortzusetzen. Die Verteidigung sei zur Frage der Zurechnung über die Konstruktion des uneigentlichen Organisationsdelikts nicht vorbereitet, so dass insofern eine angemessene Verteidigung nicht gewährleistet werden könne.

Die Strafkammer wies diesen Antrag nach einer weiteren 19-minütigen Unterbrechung der Hauptverhandlung unter Verweis auf den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen zurück; der erteilte Hinweis betreffe „lediglich die Frage der zutreffenden Beurteilung der Konkurrenzen und die rechtliche Einordnung täterschaftlicher Begehungsweise“. Auch sei eine Beurteilung als tateinheitliche Begehung nicht geeignet, zu einer Erhöhung der Strafe zu führen. Nachdem die Beweisaufnahme wiederum geschlossen worden war, plädierten zunächst der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft durch Wiederholung seiner Anträge und die Verteidiger des anderen Angeklagten. Nach einer 55-minütigen Mittagspause erhielten die Verteidiger des Angeklagten das Wort. Diese stellten im Rahmen ihrer Schlussvorträge sechs Hilfsbeweisanträge, die darauf ausgerichtet waren, dass dem Angeklagten keine für eine mittäterschaftliche Tatbegehung erforderlichen, individualisierbaren Tatbeiträge nachgewiesen werden könnten.

Der Angeklagte M. wurde schließlich in dem Folgetermin, der fünf Tage später stattfand, entsprechend des oben genannten Hinweises verurteilt, d.h. die Strafkammer ging von der Beteiligungsform der mittelbaren Täterschaft in Form eines uneigentlichen Organisationsdelikts aus. Die Hilfsbeweisanträge wurden im Wesentlichen als tatsächlich bedeutungslos abgelehnt; daraus, dass der Angeklagte nicht als Verantwortlicher nach außen aufgetreten sei, folge nicht zwingend, dass er nicht der Verantwortliche im Hintergrund gewesen sei.

Hier musste man zum Sachverhalt etwas weiter ausholen, um die Entscheidung des BGH zu verstehen. Der geht davon aus, dass die Verfahrensweise der Kammer 265 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 StPO. Deren Sinn und Zweck sei es, den Angeklagten vor Überraschungen zu schützen und eine Beschränkung seiner Verteidigung zu verhindern. Hier sei sowohl nach § 265 Abs.1 StPO als auch nach Abs. 2 Nr. 2 StPO ein Hinweis erforderlich gewesen. Zwar habe das LG dem Angeklagten den erforderlichen Hinweis erteilt. Aber:

„Es hat ihm und seinen Verteidigern anschließend aber nicht ausreichend Gelegenheit zur Verteidigung gegeben. Der Vorsitzende muss durch sein Verhalten zum Ausdruck bringen, dass das Gericht bereit ist, mit Rücksicht auf die eingetretene Veränderung Erklärungen und Anträge entgegenzunehmen und zu prüfen, und es muss dem Angeklagten zu solchen Erklärungen und Anträgen Zeit gelassen werden (vgl. bereits RG, Urteile vom 20. Februar 1891 – 12/91, RGSt 21, 372, 374 und vom 25. April 1894 – 1370/94, RGSt 25, 340, 342; Radtke in Radtke/Hohmann, StPO, § 265 Rn. 89). Wie viel Zeit dem Angeklagten und seinen Verteidigern hierzu einzuräumen ist, lässt sich zwar nicht allgemein bestimmen. Jedenfalls muss sie aber unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse als ausreichend angesehen werden können (BGH, Urteil vom 19. Januar 1965 – 5 StR 578/64 Rn. 7).

Das war hier nicht der Fall. Die anwesenden Verteidiger des Angeklagten M. hatten, nachdem der Vorsitzende den Hinweis erteilt hatte, einen Aussetzungs- bzw. hilfsweisen Unterbrechungsantrag gestellt und darin ausdrücklich erklärt, die Verteidigung sei auf die Frage der Zurechnung über die Konstruktion des uneigentlichen Organisationsdelikts nicht vorbereitet und benötige dafür jedenfalls Zeit bis zum nächsten Hauptverhandlungstermin. Damit brachten sie zum Ausdruck, dass sie sich nach der bis dahin 28 Tage andauernden Hauptverhandlung nach dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft und kurz vor den eigenen Schlussvorträgen außerstande fühlten, die Verteidigung gegenüber den veränderten rechtlichen Gesichtspunkten ordnungsgemäß zu führen.

Das war unter den dargelegten Umständen plausibel. Bei dem Gewicht der Veränderung und bei der Schwierigkeit des veränderten rechtlichen Gesichtspunktes, der nicht alltäglich ist und auf den sich die Verteidigung auch nach Kenntnis der Anklage und des Eröffnungsbeschlusses sowie des zwischenzeitlich erteilten rechtlichen Hinweises besonders hätte vorbereiten müssen, war zumindest eine längere Unterbrechung unerlässlich, die der Verteidigung eine hinreichend gründliche Vorbereitung auf die rechtliche Beurteilung des uneigentlichen Organisationsdelikts nebst allen dabei zu bedenkenden Verknüpfungen ermöglicht hätte. Die 55-minütige Mittagspause war hierfür jedenfalls nicht ausreichend. Auch konnte nicht erwartet werden, dass die Verteidigung während der laufenden Hauptverhandlung und unter Inkaufnahme, dieser nicht folgen zu können, unter Berücksichtigung der veränderten Rechtslage vorbereitet wird. Durch die Fortsetzung der Hauptverhandlung ohne nennenswerte Unterbrechung und Ablehnung des weitergehenden Unterbrechungsantrags, hat das Landgericht dem Angeklagten entgegen dem Willen des Gesetzgebers keine ausreichende Gelegenheit zur Vorbereitung einer Verteidigung gegenüber der veränderten Rechtslage gewährt und gegen § 265 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 StPO verstoßen. Zugleich liegt darin eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung im Sinne von § 265 Abs. 4 i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO (vgl. BGH, Urteil vom 19. Januar 1965 – 5 StR 578/64 Rn. 7 und Beschluss vom 1. März 1993 – 5 StR 698/92, NStZ 1993, 400).

§ 265 Abs. 4 StPO enthält einen über die voranstehenden Absätze hinausgehenden Grundsatz, der besagt, dass das Gericht im Rahmen seiner Justizgewährungspflicht für eine Verfahrensgestaltung zu sorgen hat, die die Wahrung der Verfahrensinteressen aller Verfahrensbeteiligten, vor allem aber die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht verkürzt. Der Begriff der „veränderten Sachlage“ darf daher nicht eng ausgelegt werden (vgl. BGH, Urteil vom 19. Juni 1958 – 4 StR 725/57, NJW 1958, 1736, 1737; Radtke in Radtke/Hohmann, aaO Rn. 106; LR/Stuckenberg, aaO Rn. 99; KK/Kuckein, StPO, 7. Aufl., § 265 Rn. 29). Eine Veränderung der Sachlage ist daher auch anzunehmen, wenn das Gericht – wie vorliegend – aus den dem Angeklagten bereits aus der zugelassenen Anklage bekannten Tatsachen andere rechtliche Folgerungen zieht (BGH, Beschluss vom 1. März 1993 – 5 StR 698/92, aaO; so auch KK/Kuckein, aaO). Indem das Landgericht den hilfsweise gestellten Unterbrechungsantrag im Wesentlichen unter Hinweis auf das Beschleunigungsgebot und mit dem Argument ablehnte, der erteilte Hinweis betreffe lediglich Fragen der Konkurrenzen und der Art der Alleintäterschaft, übte es das ihm gemäß § 265 Abs. 4 StPO zustehende Ermessen nicht pflichtgemäß aus (zur Revisibilität der Ermessensausübung vgl. z.B. BGH, Urteil vom 19. Juni 1958 – 4 StR 725/57, NJW 1958, 1736, 1738 und Beschluss vom 27. Februar 2007 – 3 StR 44/07, StraFo 2007, 243); denn es nahm nicht ausreichend in den Blick, dass sich die Anforderungen an den Nachweis von Alleintäterschaft und mittelbarer Täterschaft in Form des uneigentlichen Organisationsdelikts deutlich unterscheiden, dass der Hinweis erst nach 28 Hauptverhandlungstagen erfolgte, nachdem die Beweisaufnahme bereits geschlossen worden war, und zeitnah bereits weitere Hauptverhandlungstermine anberaumt waren, so dass sich die Verzögerung durch eine weitergehende Unterbrechung in Grenzen gehalten hätte.“

Eine Entscheidung, mit der sich argumentieren und den Gerichten (hoffentlich) Einhalt gebieten lässt, wenn der Verteidiger und der Angeklagte, was ja in der Praxis nicht selten ist, mit am Ende der Hauptverhandlung erteilten (rechtlichen) Hinweisen überfahren werden (sollen). Dann kann man mit der Entscheidung mehr „Verteidigungszeit“ einfordern.

Sonntagswitz: Heute aus besonderem Anlass zu alten Leuten und/oder dem Alter

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Im Sonntagswitz diese Woche dann aus gegebenem besonderen Anlass mal wieder Witze zu Rentnern und zum Alter. Daran geht für alle kein Weg vorbei. Da sind dann:

Kommt ein Rentner zum Arzt und sagt: “Herr Doktor, Herr Doktor, meine Frau ist erst 35, ich bin schon 75 und doch ist sie schwanger geworden! Wie kann das sein?”

Doktor: “Stellen Sie sich vor, sie laufen im Wald, sehen einen Hasen, nehmen Ihren Stock und tun so, als ob Sie den Hasen erschießen wollen und der fällt um. Was denken Sie?”

“Da hat ein anderer geschossen!”

“Genau.”


Zwei Omas gucken sich einen Boxkampf im Fernsehen an.

Da geht der eine Boxer zu Boden.

Der Ringrichter fängt an zu zählen: “1…,2…,3…”

Sagt die eine Oma: “Der steht nicht auf! Den kenne ich aus dem Bus.”


Kommt ein 90-jähriger in eine Apotheke und möchte eine Viagra.

Der Apotheker bringt sie ihm und der alte Mann fragt, ob er die Pille auch zerkleinert bekommen könnte. In einem Mörser wird sie ihm ganz klein gemacht und überreicht. Der alte Mann ist zufrieden und holt einen 100 Euro Schein aus der Tasche, rollt ihn zusammen und schnupft die gemahlene Viagra, die er auf dem Tisch verteilt hatte, durch die Nase.

Da fragt ihn der Apotheker, was das denn soll.

Daraufhin antwortet ihm der Opa: „Ach wissen sie junger Mann, in meinem Alter, da spielt sich Sex nur noch im Kopf ab.“


Opa zu seinem Enkel: „Zu Weihnachten bekommst du ein Buch. Welches hättest du denn gerne?“

Enkel: „Dein Sparbuch.“


 

Wochenspiegel für die 34. KW., das war Rat von der Polizei, offene Videoüberwachung, Belästigung mit WhatsApp und Schönheitsreparaturen

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So, dann auch diese Woche ein Wochenspiegel. Aber – hatte ich dazu ja schon in der letzten Woche geschrieben – es ist schwieriger geworden, ihn zusammen zu stellen, seitdem JuraBlogs offline ist. Leider weiß niemand, warum. Einfach so. Schade.

Aber ich will versuchen, den sonntäglichen Rückblick aufrecht zu erhalten. Mit einer Neuerung: Ab heute werde ich im Wochenspiegel immer auch den Top-Beitrag der ablaufenden Woche aus meinem Blog bringen, wobei mir klar ist, dass bei diesem „Kurzranking“ also 🙂 die Montags- und/oder Dienstagsbeiträge wegen der längeren „Laufzeit“ im Vorteil sind.

Heute weise ich im Wochenspiegel dann hin auf:

  1. Schlechter Rat von der Münchner Polizei,

  2. BAG zur gerichtlichen Verwertbarkeit von Aufzeichnungen aus offener Videoüberwachung,
  3. Deutliche Worte vom OLG Stuttgart: Wer grenzenlos veröffentlicht, muss auch grenzenlos haften,
  4. AG Mayen zu VKS-Abstandsmessung: Akteneinsicht in Referenzvideo und Reparaturnachweise,

  5. und als Gegensatz zum AG Mayen: AG Weiden i. d. OPf.: Keine Einsicht in Geschwindigkeits-Messdaten,
  6. Von Diensten und Pflichten,

  7. BGH stärkt (erneut) Rechte von Mietern,
  8. 60-Jähriger belästigt 17-jährige Kollegin per WhatsApp – Kündigung unwirksam,

  9. Untersuchungshaft eines Heranwachsenden – und die unterbliebene Unterrichtung der Jugendgerichtshilfe,

Eine „Trunkenheitsfahrt“ ist nicht „sozialwidrig“, oder: Grundsicherung muss nicht zurückgezahlt werden

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Als zweite Entscheidung im „Kessel Buntes“ dann das LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 05.07.2018 – L 6 AS 80/17. Entschieden worden ist über einen vom sog. Grundsicherungsträger gegenüber dem Kläger, einem Kraftfahrer, geltend gemachten Anspruch auf Rückzahlung von Grundsicherungsleistungen. Die waren dem Kläger nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes aufgrund einer Trunkenheitsfahrt gewährt worden. Das LSG sagt: Nein, der Kläger muss nichts zurückzahlen: Denn mit der Trunkenheitsfahrt, die zum Verlust des Führerscheins und nachgehend zum Verlust des Arbeitsplatzes führte, hat der Kläger seine Hilfebedürftigkeit nicht i.S.d. § 34 Abs 1 SGB II (in der bis zum 31. Juli 2016 geltenden Fassung) herbeigeführt. Die Trunkenheitsfahrt war nicht sozialwidrig:

„Entgegen den Grundsätzen des SGB II und damit „sozialwidrig“ verhält sich der Betroffene, wenn es ihm aus eigener Kraft möglich (gewesen) wäre, die Hilfebedürftigkeit abzuwenden und sein Verhalten diesen Möglichkeiten zuwiderläuft. Das Tatbestandsmerkmal des „sozialwidrigen Verhaltens“ umfasst nach der Rechtsprechung des BSG (SozR 4-4200 § 34 Nr 2 Rn 20 f) nur ein Verhalten, das (1) in seiner Handlungstendenz auf die Einschränkung bzw den Wegfall der Erwerbsfähigkeit oder der Erwerbsmöglichkeit oder (2) die Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit bzw der Leistungserbringung gerichtet war bzw hiermit in „innerem Zusammenhang“ stand oder (3) ein spezifischer Bezug zu anderen nach den Wertungen des SGB II zu missbilligenden Verhaltensweisen bestand.  Für die Annahme eines sozialwidrigen Verhaltens ist zudem erforderlich, dass die Existenzgrundlage durch das maßgebliche Verhalten selbst unmittelbar beeinträchtigt wird oder wegfällt.

Das BSG hat eine Sozialwidrigkeit verneint bei Straftaten (räuberischer Diebstahl in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und versuchter Vergewaltigung – B 4 AS 39/12 R, vorsätzliches Handeln mit Betäubungsmitteln – B 14 AS 55/12 R), die absehbar zu einer Inhaftierung und damit zum Wegfall von Erwerbsmöglichkeiten führen. Denn der Vorwurf der Sozialwidrigkeit sei nicht in der Strafbarkeit einer Handlung, sondern darin begründet, dass der Betreffende – im Hinblick auf die von der Solidargemeinschaft aufzubringenden Mittel der Grundsicherung für Arbeitsuchende – in zu missbilligender Weise sich selbst oder die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen in die Lage gebracht hat, Leistungen nach dem SGB II in Anspruch nehmen zu müssen. Dagegen sei in den entschiedenen Fällen die berufliche Existenzgrundlage durch das strafbare Verhalten nicht unmittelbar beeinträchtigt worden oder weggefallen.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist das Verhalten des Klägers zwar als rechtlich in höchstem Maße zu missbilligende Tat zu werten, nicht jedoch als sozialwidrig iSd § 34 SGB II einzustufen:

Es liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass die Handlungstendenz des Klägers darauf gerichtet war, seine berufliche Existenzgrundlage zu vernichten und damit zu Lasten öffentlicher Kassen hilfebedürftig iSd SGB II zu werden. Für diese Annahme besteht kein Grund. Der Kläger war seit 2012 als Kraftfahrer beim selben Arbeitgeber beschäftigt und hatte dort zu Beginn des Jahres 2014 eine Festanstellung sowie eine Gehaltserhöhung erhalten, weil der Arbeitgeber mit seinen Leistungen zufrieden war.

Es bestand auch kein spezifischer Bezug zu anderen nach den Wertungen des SGB II zu missbilligenden Verhaltensweisen…..“

Zu lauter Sex im Whirlpool auf dem Balkon, oder: Dann fliegt der Polizeianwärter

entnommen wikimedia.org
By Bloody666 – Own work, CC0

Über den OVG Bremen, Beschl. v. 13.07.2018 – 2 B 174/18 – ist ja schon an mehreren Stellen berichtet worden. Ich komme auf ihn dann heute im „Kessel Buntes“ noch einmal zurück, nachdem nun der Volltext vorliegt.

Es geht um einen Polizeianwärter, der aus dem Beamtenverhältnis auf Widerruf wegen charakterlicher Ungeeignetheit entlassen werden soll. Grundlage sind folgendes Geschehnisse:

Im Zeitraum vom 16.10.2017 bis zum 11.02.2018 ist es zu insgesamt sechs Polizeieinsätzen bei dem Antragsteller gekommen, weil Nachbarn von dem Antragsteller ausgehende Ruhestörungen gemeldet hatten. Bei dem ersten Einsatz am 16.10.2017 beschwerten sich zwei Nachbarn darüber, dass es seit zwei Tagen mehrmals zu lautstarken sexuellen Handlungen in einem Whirlpool, den der Antragsteller auf seinen Balkon aufgestellt hatte, gekommen sei; letztmalig zur Mittagszeit. Laut polizeilichem Einsatzbericht ist der Balkon von dem daran vorbeiführenden Fußweg einsehbar. Der über dem Antragsteller wohnende Nachbar erstattete am 23.10.2017 wegen der Erregung öffentlichen Ärgernisses Anzeige, weil der Antragsteller nach seiner Aussage am 14.10.2017 (ebenfalls zur Mittagszeit) deutlich wahrnehmbaren Geschlechtsverkehr im Whirlpool hatte. Am 18.10.2017 kam es zu einem weiteren Einsatz bei dem Antragsteller, weil Nachbarn wiederum angezeigt hatten, dass dieser lauten Geschlechtsverkehr im Whirlpool habe. Am 29.11.2017 sowie zweimal am 30.11.2017 wurden von dem Antragsteller ausgehende Ruhestörungen, wie bspw. lautes Rumschreien in der Wohnung, polizeilich gemeldet. Am 11.02.2018 zeigten Nachbarn eine Sachbeschädigung an, die sie dem Antragsteller zurechneten. Dies führte jeweils zu einem Polizeieinsatz. Am 05.12.2017 wurde zudem angezeigt, dass der Antragsteller am Vorabend zusammen mit seiner Freundin und einem Freund mit einer Softairwaffe auf seiner Terrasse herumgeschossen habe.

Das reicht dem OVG für eine Entlassung wegen charakterlicher Ungeeignetheit:

Die Antragsgegnerin durfte aus diesen Vorkommnissen und dem Verhalten des Antragstellers im Zusammenhang mit den Polizeieinsätzen auf seine charakterliche Ungeeignetheit schließen. Nachdem die Polizeibeamten ihm beim Einsatz am 16.10.2017 den Inhalt der Beschwerde der Nachbarn mitgeteilt hatten und er gebeten worden war, sexuelle Handlungen auf dem Balkon zu unterlassen, entgegnete der Antragsteller mit der Frage, ob auch die Polizeibeamten sexuelle Handlungen festgestellt hätten sowie der Bemerkung, er könne auf seinem Balkon tun und lassen, was er wolle. Dieses Verhalten des Antragstellers konnte als uneinsichtig eingeschätzt werden. Obwohl der Vorfall am 16.10.2017 zum Gegenstand eines Mitarbeitergesprächs (20.10.2017) mit dem Antragsteller gemacht worden war, in dem dieser auf seine außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht hingewiesen wurde, und es am 29.11.2017 und 30.11.2017 zu insgesamt drei Polizeieinsätzen beim Antragsteller gekommen war, hat dieser am 04.12.2017 (Anzeige vom 05.12.2017) eine echt wirkende Softairwaffe auf seiner Terrasse benutzt und damit auf einen Windfang oder eine davor stehende Zielscheibe geschossen. Dies hat der Antragsteller eingeräumt. Auch wenn es sich um die Benutzung einer zugelassenen und handelsüblichen Softairwaffe handelte, musste dem Antragsteller in seiner besonderen Situation bewusst sein, dass die Nutzung der Softairwaffe einen weiteren negativen Eindruck hinterlassen konnte und geeignet war, aufgrund von Fehleinschätzungen seines Umfeldes einen Polizeieinsatz auszulösen. Es ist auch nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin berücksichtigt hat, dass bei dem Polizeieinsatz am 11.02.2018 auf dem Balkon des über dem Antragsteller wohnenden Nachbarn mehrere Plastikkugeln gefunden wurden, die identisch waren mit Munitionskugeln, die in größerer Anzahl auf dem Fußboden in der Wohnung des Antragstellers lagen, und zudem die Softairwaffe griffbereit in der Wohnung des Antragstellers lag. Der Antragsteller hatte somit trotz des schwelenden Nachbarschaftskonflikts und des Mitarbeitergespräches am 20.10.2017, in dem ihm die Probleme der Benutzung der Softairwaffe deutlich vor Augen geführt worden waren, nicht alles unternommen, um jeglichen Verdacht einer weiteren Benutzung der Softairwaffe auszuschließen. Vielmehr legen die polizeilichen Ermittlungen eine weitere Benutzung der Waffe nahe. Des Weiteren hatte sich der Antragsteller beim Einsatz am 11.02.2018 nach Einschätzung der handelnden Polizeibeamten in einem derartigen psychischen Zustand befunden, der ihnen Anlass gab, den Antragsteller beim sozialpsychiatrischen Dienst vorzustellen. In dem Polizeibericht wird geschildert, dass der Antragsteller während des gesamten Einsatzes einen emotional instabilen Eindruck gemacht habe und immer wieder ins Weinen verfallen sei.“