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Verteidigeranruf: „Kommen später“ – AG verwirft Einspruch trotzdem, oder: Kurzer Prozess

© Brux . Fotolia.com

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Manchmal frage ich mich, was Verteidiger eigentlich noch alles tun sollen/müssen. So auch beim KG, Beschl. v. 21.07.2016 – 3 Ws (B) 382/16. Allerdings bezieht sich die Frage nicht auf den KG, Beschl., sondern auf das Verhalten/Vorgehen des AG. Da hatten der Betroffene und sein Verteidiger am Terminstag um 8.30 Uhr ein Taxi genommen, um die auf 9.15 Uhr bestimmte Hauptverhandlung beim AG wahrzunehmen. wahrzunehmen. Etwa 1,5 Kilometer vom Gerichtsort entfernt staute sich der Verkehr. Der Verteidiger unterrichtete um 9.01 Uhr die Geschäftsstelle des AG, dass und wo er im Stau stehe und dass es zu einer Verspätung um 15 bis 30 Minuten kommen könne. Um 9.25 Uhr erreichte das Taxi das AG, um 9.32 Uhr betraten der Betroffene und sein Verteidiger den Gerichtssaal. Zwei Minuten zuvor hatte das AG aber schon die Sache aufgerufen, einen Zeugen und den Sachverständigen entlassen und den Einspruch des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen.

Das gefällt dem KG zu Recht nicht, denn

a) Die Vorschrift des § 74 Abs. 2 OWiG beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Rechtsmittelführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Rechtsbeschwerde dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Diese Vermutung entfällt jedoch, wenn der Betroffene noch vor dem Termin oder in der normalen Wartezeit von fünfzehn Minuten (vgl. VerfGH Berlin NJW-RR 2000, 1451) die Gründe seiner (voraussichtlichen) Verspätung mitteilt und sein Erscheinen in angemessener Zeit ankündigt (vgl. OLG Köln VRS 42, 184 f.; BayObLG VRS 47, 303; 60, 304; 67, 438 f.; StV 1985, 6 f.; 1989, 94 f.; NJW 1995, 3134; OLG Stuttgart MDR 1985, 871 f.; OLG Düsseldorf StV 1995, 454 f.; OLG Hamm NZV 1997, 408 f.; ebenso zu den Anforderungen an den Erlass eines Versäumnisurteils wegen Nichterscheinens vor Gericht: OLG Dresden NJW-RR 96, 246 und BGH NJW 1999, 724 f.). Das Gericht ist in diesem Fall gehalten, einen längeren Zeitraum zuzuwarten (vgl. Senat VRS 123, 291 mwN). Diese über die normale Wartezeit hinausgehende Wartepflicht besteht unabhängig davon, ob den Betroffenen an der Verspätung ein Verschulden trifft, es sei denn, ihm fällt grobe Fahrlässigkeit oder Mutwillen zur Last (vgl. Senat, aaO)…..

….. c) Dieses Geschehen erweist, dass das Amtsgericht wusste, dass der Betroffene seinen Einspruch weiterverfolgen wollte und sich verspäten würde. Es war dem Amtsgericht auch zuzumuten zu warten. Denn der Verteidiger hatte 14 Minuten vor der Terminsstunde mitgeteilt, dass er sich etwa 1,5 Kilometer vom Gerichtsgebäude entfernt im Stau befinde. Damit ergab sich eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene und sein Verteidiger allenfalls kurz nach dem Ablauf der üblichen Wartezeit von 15 Minuten erscheinen würden.

d) Die Ausführungen des Amtsgerichts, ein weiteres Zuwarten sei nicht zumutbar gewesen, überzeugen nicht.

aa) Unzutreffend ist zunächst, dass zum geplanten Aufruf der nächsten Bußgeldsache um 9.35 Uhr „nach der eigenen Einschätzung des Verteidigers und seines Mandanten noch lange nicht mit ihrem Eintreffen zu rechnen war“. Der Bußgeldrichter wusste, dass der Betroffene und sein Rechtsanwalt um 9.01 Uhr ca. 1,5 Kilometer vom Gerichtsgebäude entfernt im Stau standen. Dass sie deutlich nach 9.30 Uhr erscheinen würden, war damit unwahrscheinlich, und tatsächlich betraten sie um 9.32 Uhr den Saal.

bb) Dass der zum hier gegenständlichen und zu dem nachfolgenden, auf 9.35 Uhr anberaumten Termin geladene Sachverständige, wie das Urteil ausführt, erklärt habe, „länger als bis 10.05 Uhr könne er keineswegs im Saal K 2105 anwesend sein“, führt nicht dazu, dass das Amtsgericht kurzen Prozess machen durfte. Wie dargelegt, war abzusehen, dass die ausdrücklich angekündigte Verspätung 15 Minuten nur geringfügig und jedenfalls nicht erheblich überschreiten würde. Sollte der Sachverständige seine Termine tatsächlich so eng getaktet haben, dass ein Verzug nicht abgefedert werden konnte, so wäre dies unangemessen.

cc) Nichts anderes ergibt sich schließlich daraus, dass der als Zeuge geladene Polizeibeamte nach Auffassung des Gerichts „nicht länger warten konnte“. Verzögerungen des hier in Rede stehenden Umfangs muss der polizeiliche Zeuge ebenso in Rechnung stellen wie die Vorsitzenden anderer Gerichte, die den Zeugen gleichfalls geladen haben.“

Ich bitte zu beachten: Die Formulierung „kurzer Prozess“ stammt nicht von mir, sondern vom KG, das offensichtlich „not amused“ war.

Vertrauen auf Blinklicht oder Wartepflicht? – Haftungsverteilung?

entnommen wikimedia.org Urheber Thirunavukkarasye-Raveendran

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Das OLG Dresden berichtet in einer PM vom 21.08.2014 über das OLG Dresden, ‌Urt. v. 20‌.‌08‌.‌2014‌ – 7 U ‌1876‌/‌13‌, das eine häufig auftretende Straßenverkehrssituation zum Gegegnstand hatte.. Ein grundsätzlich wartepflichtiger Verkehrsteilnehmer hatte auf das Blinklicht des Vorfahrtberechtigten vertraut und war auf die Vorfahrtstraße eingebogen. Beim Einbiegen in die vorfahrtberechtigte Straße kam es zum Zusammenstoß mit dem blinkenden Fahrzeug. Die Frage, die sich stellte: Wie wird die Haftung verteilt? Dazu aus der PM:

Der Senat ist nach Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge zu dem Ergebnis gelangt, dass derjenige, dem ein Vorfahrtsverstoß zur Last fällt, gegenüber dem demjenigen, dem ein missverständliches Verhalten vorzuwerfen ist, die Hauptverantwortung an dem Unfall, die hier zu einer Haftungsquote von 70 : 30 führt, trägt.

In Übereinstimmung mit der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung geht auch das Oberlandesgericht Dresden davon aus, dass der Wartepflichtige nur dann auf ein Abbiegen des Vorfahrtberechtigten vertrauen darf, wenn über das bloße Betätigen des Blinkers hinaus in Würdigung der Gesamtumstände, sei es durch eine eindeutige Herabsetzung der Geschwindigkeit oder aber dem Beginn des Abbiegemanövers, eine zusätzliche Vertrauensgrundlage geschaffen worden ist, die es im Einzelfall rechtfertigt, davon auszugehen, das Vorrecht werde nicht mehr ausgeübt. Nach Ansicht des Senats sei neben dem Blinken zumindest ein weiteres deutliches Anzeichen erforderlich, um darauf zu vertrauen, dass der Vorfahrtberechtigte tatsächlich vor dem Wartepflichtigen abbiegt, mithin kein Vorfahrtrecht mehr zu beachten ist.

Im vorliegend zu entscheidenden Fall konnte der Senat im Ergebnis der Beweisaufnahme die Überzeugung davon, dass neben dem irreführenden Blinken ein weiterer Umstand, insbesondere eine deutliche Reduzierung der Geschwindigkeit, dem Wartepflichtigen den Verzicht auf das Vorfahrtsrecht signalisiert hat, gewinnen. Dies führte zu der ausgewiesenen Haftungsquote.“

Darf man als Wartepflichtiger auf das Blinken des Vorfahrtberechtigten vertrauen?

entnommen wikimedia.org Urheber Moros

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Urheber Moros

Die Frage, ob man als Wartepflichtiger ohne weiteres auf das Blinken des Vorfahrtberechtigten vertrauen darf, spielt im OLG Dresden, Beschl. v. 24.04.2014 – 7 U 1501/13 – ein Rolle. Das OLG hat in seiner Entscheidung – betreffend einen Verkehrsunfall – zur Haftungsverteilung bei einer Kollision zwischen einem auf der Vorfahrtstraße fahrenden PKW, der nach rechts blinkt, dann aber weiter geradeaus fährt, und dem nach links auf die Vorfahrtstraße auffahrenden Wartepflichtigen Stellung genommen und ausgeführt/entschieden: Das Setzen des rechten Blinkers begründet allein noch kein Vertrauen, dass der Blinkende auch tatsächlich abbiegt. Erforderlich ist darüber hinaus eine erkennbare, deutliche Geschwindigkeitsverringerung des Vorfahrtberechtigten, eine sichtbare Orientierung des Blinkenden nach rechts oder sonstige ausreichende Anzeichen für ein tatsächlich bevorstehendes Abbiegen des Vorfahrtberechtigten.

Zur Haftungsquote in solchen Fällen: Regelmäßig überwiegt in solchen Fällen – so das OLG – der Haftungsanteil des Wartepflichtigen (Anschluss an OLG Hamm, Urt. v. 11.03.2003 – 9 U 169/02, NJW-RR 2003, 975 und OLG Saarbrücken, Urt. v. 11.03.2008 – 4 U 228/07, NJW-RR 2008, 1611), der allein auf das Blinken vertraut (im Fall dann 70:30 zu Lasten des Wartepflichtigen).

Betroffener: SMS „Bin gleich da“ – AG antwortet mit Einspruchsverwerfung

In einem Bußgeldverfahren ist die Hauptverhandlung auf 10.00 Uhr anberaumt. Um 10.03 Uhr schickt der Betroffene, seinem Verteidiger auf dessen Mobiltelefon eine SMS-Mitteilung folgenden Inhalts : „Haben uns verspätet. Bin gleich da.“ Diese Nachricht liest der  Verteidiger dem Tatrichter vor. Dieser hat hierauf bis „ca. 10.30 Uhr“ gewartet und sodann den Einspruch verworfen. Dagegen die Verfahrensrüge des Betroffenen. Der lässt sich außerdem entnehmen, dass er im Pkw seines Cousins, des Zeugen S.W., mitgefahren sei, welcher der wahre Fahrer des Tatfahrzeugs gewesen sei und zum Zwecke seiner Vernehmung und seines Vergleichs mit der auf den Messfotos abgebildeten Person vor Gericht habe erscheinen sollen. Ihre Verspätung sei darauf zurückzuführen, dass der im Rollstuhl sitzende Zeuge mit seiner, des Betroffenen Hilfe eine Treppe habe überwinden müssen, um in das Gerichtsgebäude zu gelangen. Der Betroffene ist der Meinung, dass „die vom Gericht eingeräumte Wartezeit von 30 Min. nicht ausreichend“ gewesen ist und der Tatrichter verpflichtet gewesen wäre, länger zu warten.

Das OLG Jena, Beschl. v. 29.08.2011 – 1 SsRs 86/11 sagt: Doch, denn:

„Vor diesem Hintergrund hält es auch der Senat im Hinblick auf das Gebot fairer Verfahrensführung und die sich daraus ergebende prozessuale Fürsorgepflicht für angebracht, eine gewisse Verspätung des Betroffenen in Rechnung zu stellen, wenn dieser ohne ausreichende Entschuldigung nicht pünktlich zur Hauptverhandlung erschienen ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er nicht mehr erscheinen werde. Dabei ist die Einhaltung einer Wartezeit von 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung angemessen. Eine über 15 Minuten hinausgehende Wartepflicht besteht dagegen regelmäßig nicht. Ob sie für solche Ausnahmefälle in Betracht zu ziehen ist, in denen besondere Umstände ein längeres Zuwarten nahe legen (vgl. OLG Hamm, a.a.O.; OLG Frankfurt, a.a.O.; KG Berlin a.a.O.), kann offen bleiben. Denn solche Umstände sind hier nicht gegeben. Der Betroffene hat kurz nach Beginn der 15-minütigen Wartezeit mitgeteilt, dass er sich – was offensichtlich war – verspätet habe und „gleich“ da sein werde. Hieraus konnte der Tatrichter allenfalls entnehmen, dass der Betroffene noch (irgendwann demnächst) kommen wolle, nicht aber, wann er voraussichtlich erscheinen werde. Insbesondere konnte der Tatrichter aufgrund der Mitteilung nicht erkennen, dass und in welchem Umfang ein weiteres, die regelmäßige Wartezeit von 15 Minuten übersteigendes Zuwarten aus Gründen prozessualer Fürsorge geboten gewesen wäre. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall von Fällen, in denen der Betroffene seine ungefähre Ankunftszeit mitteilt oder nähere Angaben zu den Gründen für seine Verspätung macht, die es dem Gericht erlauben, einzuschätzen, dass der Betroffene voraussichtlich erst eine bestimmte Zeit nach Ablauf der 15-minütigen Wartefrist eintreffen wird bzw. sich unverschuldet verspätet hat. Danach hat der Tatrichter, indem er länger als 15 Minuten – nach dem Rechtsbeschwerdevorbringen sogar 30 Minuten – bei unklarem Verspätungsgrund und ungewisser Ankunftszeit auf den Betroffenen gewartet hat, seiner prozessualen Fürsorgepflicht jedenfalls Genüge getan.“

Na ja, hätte man m.E. auch anders sehen können. Denn aus dem „gleich“ folgt, dass der Betroffene unterwegs war.

Wenn ich sage, ich komme, aber verspätet…

darf das LG die Berufung nicht verwerfen, sondern hat eine Wartepflicht. So das OLG Brandenburg, Beschl. v. 07.03.2011 – (1) 53 Ss 19/11 (5/11).

Das OLG führt aus: Es verstößt gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens, eine Berufung zu verwerfen, obwohl der Angeklagte telefonisch zutreffend ankündigt, dass er irrtümlich vor dem erstinstanzlichen Gericht erschienen sei und deshalb um 1 Stunde und 15 Minuten verspätet bei der Berufungskammer eintreffen wird. Macht sich der Angeklagte nach Bekanntwerden des Irrtums unverzüglich auf den Weg zur Berufungskammer und spricht dort mit seinem Verteidiger bei der Geschäftsstelle vor, dann ist die Nachlässigkeit bei der Kenntnisnahme von der Terminsladung nicht als grob fahrlässig anzusehen.

Interessant auch, dass das OLG die Frage des Verschuldens des Angeklagten nicht an einer anderen Stelle prüft: Nämlich beim Irrtum darüber, wo die Berufungshauptverhandlung stattfindet.