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Die amtsärztliche Untersuchung des Pflichtverteidigers

Bei der Auswertung der BGH-Entscheidungen stoße ich gerade auf den BGH, Beschl. v.18.08.2011 – 5 StR 286/11. Und was ich dort lese, habe ich bisher noch nie gelesen bzw. erlebt:

Ergänzend bemerkt der Senat:
Auch wenn die Veranlassung des Vorsitzenden, den Pflichtverteidiger einer amtsärztlichen Untersuchung zum Zwecke der Feststellung seiner Verhinderung zu unterziehen, hier unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt war, verliert dieser Rechtsverstoß durch die freimütige und umfängliche Entschuldigung in seiner dienstlichen Erklärung vom 16. August 2010 (§ 26 Abs. 3 StPO) soviel an Gewicht, dass der Angeklagte keine Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters mehr haben konnte. Ein vernünftiger Angeklagter musste nämlich der Entschuldigung entnehmen, dass der Richter zur Selbstkorrektur bereit und fähig ist.

Wie lange braucht man eigentlich, um 10 Seiten neuen Urteilstext zu lesen?

Manchmal merkt Revisionsentscheidungen des BGH die Verärgerung des Senats über das Instanzgericht an bzw. kann sie deutlich zwischen den Zeilen spüren. So auch in dem Beschl. v. 27.10.2010 – 2 StR 331/10, in dem es mal wieder um die Versäumung der Urteilsabsetzungsfrist des § 275 StPO gegangen ist. Der Vorsitzende der Strafkammer hatte die Unterschrift eines inzwischen an ein AG abgeordneten Richters ersetzt und das damit begründet – so seine Stellungnahme in der Revision: -, dass der zweite Beisitzer S. sei seit dem 1. März 2010 an das Amtsgericht Bad Arolsen versetzt gewesen sei Nach Fertigstellung des Urteilsentwurfs durch den Berichterstatter am 5. März 2010 und nach Durchsicht des Urteils durch ihn selbst am 10. März 2010 habe er jeweils bei S. angerufen. Dieser habe ihm mitgeteilt, infolge Arbeitsüberlastung beim Amtsgericht und wegen eines noch abzusetzenden umfangreichen Schwurgerichtsurteils bis zum Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist nicht zur Lektüre des Urteils und zur Unterschrift in der Lage zu sein. Weil ihm ein weiteres Zuwarten bis zum Ende der Absetzungsfrist sinnlos erschienen sei und weil es sich zudem hinsichtlich eines nicht revidie-renden Mittäters um eine Haftsache gehandelt habe, habe er einen entsprechenden Verhinderungsvermerk betreffend den Richter S. angebracht.

Dem BGH gefällt/genügt das nicht und er führt dazu aus:

„Voraussetzung ist aber stets, dass sich der Vorsitzende ernsthaft darum bemüht hat, dem in § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO formulierten Gebot, dass das Urteil von allen mitwirkenden Berufsrichtern zu unterschreiben ist, Geltung zu verschaffen. Bei der Unterzeichnung eines Strafurteils handelt es sich nämlich um ein dringliches unaufschiebbares Dienstgeschäft, weshalb der Vorsitzende verpflichtet ist, rechtzeitig organisatorische Vorsorge für die Erfüllung dieser Pflicht zu treffen (BGH NStZ 2006, 586). Hier kommt hinzu, dass der Schuldspruch nach Bestätigung durch den Bundesgerichtshof bereits feststand. Die Urteils-gründe umfassten zwar 113 Seiten, wovon allerdings 3 ½ Seiten auf das Rubrum entfielen und 87 Seiten lediglich ein Abdruck der rechtskräftigen Fest-stellungen des ersten Durchgangs waren. Weitere 11 Seiten entfallen auf wört-liche Wiedergaben der Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten, die bereits im ersten Urteil enthalten waren. Die neue Beweiswürdigung umfasst 3 ½ Seiten, die Strafzumessung für die drei nicht rechtskräftig Verurteilten insgesamt 5 Seiten. Die substantiell neuen Teile der Urteilsgründe umfassten somit insgesamt weniger als 10 Seiten. Vor diesem Hintergrund hätte der Vorsitzende in dem Zeitraum zwischen Urteilsverkündung am 17. Februar 2010 bis zur Umsetzung des Proberichters am 1. März 2010 Absprachen mit diesem zur Sicherstellung der Unterschriftsleistung treffen müssen, was auch dem Beschleunigungsgebot in idealer Weise Rechnung getragen hätte. Jedenfalls aber hätte er nach Fertigstellung des Urteilsentwurfs durch den Berichterstatter die von dem Proberichter behauptete überlastungsbedingte Verhinderung nicht ohne weiteres hinnehmen dürfen, sondern die behauptete dienstliche Belastung oder Tätigkeit des Proberichters im Hinblick darauf bewer-ten und gewichten müssen, dass es sich bei der Mitwirkung an der Fertigstellung des Urteils um ein unaufschiebbares Dienstgeschäft handelte. So ist es schlechterdings unvorstellbar, dass der an das Amtsgericht versetzte Richter in dem gesamten Zeitraum gegenüber seiner Pflicht zur Mitwirkung an der Urteilsabfassung vorrangige Dienstgeschäfte wahrzunehmen hatte. Im Ergebnis die-ser Überprüfung hätte der Vorsitzende gegenüber dem umgesetzten Richter der Lektüre und Unterzeichnung des Urteilsentwurfs innerhalb der noch zur Verfügung stehenden Zeit bis zum 24. März 2010 höheres Gewicht geben müs-sen; gegebenenfalls hätte er dem Richter einen Urteilsentwurf auch bereits am 5. März 2010 per Fax oder E-Mail zuleiten können, damit diesem ein noch grö-ßerer Bearbeitungszeitraum zur Verfügung gestanden hätte. Wenn eine Über-prüfung nach diesem Maßstab tatsächlich eine permanente Überbelastung des Proberichters mit dringlicheren Dienstgeschäften ergeben hätte, hätte der Vor-sitzende über die Justizverwaltung auf eine Entlastung des Proberichters hin-wirken können, die diesem eine Mitwirkung an der Urteilsabfassung ermöglicht hätte. Aus dem Vermerk des Vorsitzenden ergibt sich, dass er den Maßstab für die Beurteilung der Verhinderung, der sich an der Bedeutung der Mitwirkung der beteiligten Berufsrichter an der Fassung der Urteilsgründe orientiert, verkannt hat. „

Man könnte auch schreiben: Nun mach nicht so ein Theater um 10 Seiten, sondern nimm dir mal ein Beispiel an Verteidigern, denen nicht selten von den Gerichten zugemutet wird, im Rahmen der gewährten Akteneinsicht, Aktenberge innerhalb einer Frist von 3 Tagen zu lesen.

Für Fehler des Gerichts muss der Angeklagte büßen?

Man ist je doch erstaunt, was es so alles gibt:
Der Angeklagte hat einen Pflichtverteidiger, der zunächst Wahlverteidiger war. Die Beiordnung erfolgt (erst) in der Beschwerdeinstanz. Am 1. HV-Tag, einem Freitag, stellt sich heraus, dass der Vorsitende den falschen Polizeibeamten als Zeugen geladen hat, so dass ein zweiter HV-Tag notwendig ist. Der Vorsitzende stellt ausdrücklich fest, dass das Gericht schon so weit austerminiert sei, dass nur noch der Freitag in drei Wochen – also der letzte Tag innerhalb der Frist des § 229 I StPO – für die Weiterverhandlung zur Verfügung steht. Angeklagte und Verteidiger nehmen an; Ladung Statt Kenntnis vom Termin.
Etwa 10 Tage vor dem 2. HV-Tag verlegt der Vorsitzende den 2. HV-Termin um einen Tag nach vorne. Der Pflichtverteidiger weist darauf hin, dass er da bereits als Pflichtverteidiger in einem anderen Verfahren zu einem Fortsetzungstermin geladen sei. Der Vorsitzende gibt als Begründung für die Verschiebung an, dass er am ursprünglichen vorgesehen Tag schon länger seine Teilnahme an einer Richter-Tagung angemeldet habe und ihm dies damals entfallen gewesen sei; er bestellt nunmehr einen zweiten PV für die Hauptverhandlung. Tatvorwurf ist § 224 StGB mit 5 Angeklagtenund extrem widersprüchlichen Zeugenaussagen am 1. HV-Tag.

Da ist man doch sehr erstaunt: Kann es denn richtig sein, dass der Vorsitzende seinen Fehler = Übersehen des Termins jetzt einfach auf Kosten des Angeklagten (um den geht es!!!!!!!!!) ausbügelt und ihm seinen Anwalt des Vertrauens entzieht? M.E. NICHT.