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Pflichti II: Aufhebung der „Pflichti-Zweitbestellung“, oder: Auswahlrecht des Beschuldigten

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Die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Saarbrücken, Beschl. v. 01.09.2022 – 4 Ws 268/22, passt ganz gut zu dem vorhin vorgestellten BGH, Beschl. v. 25.08.2022 – StB 35/22 (vgl. dazu Pflichti I: BGH zu Aufhebung der Zweitbestellung, oder: Zweitbestellung nicht zur „Verhinderungsentlastung“). Denn das OLG hat Stellung genommen zum Verfahren bei der Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers. Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Gegen den Angeklagten ist bei einer Wirtschaftsstrafkammer des LG ein umfangreiches Verfahren wegen vorsätzlichen gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreibens mit Dopingmitteln in über 1.000 Fällen, jeweils in Tateinheit mit Inverkehrbringen von bedenklichen verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, anhängig. Mit Beschluss vom 13.7.2022 bestellte der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer Rechtsanwalt M. zusätzlich zu dem bereits bestellten Pflichtverteidiger Rechtsanwalt S. als weiteren Pflichtverteidiger, da dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens erforderlich sei, nachdem der bisherige Pflichtverteidiger mitgeteilt hatte, an zwei der anberaumten Hauptbehandlungstermine verhindert zu sein.

Nach Durchführung mehrerer Hauptverhandlungstermine teilte der Vorsitzende der Staatsanwaltschaft, den beiden Pflichtverteidigern und dem inhaftierten Angeklagten mit, dass das Gericht beabsichtige, die Bestellung von Rechtsanwalt M. als zusätzlichem Verteidiger gemäß § 144 Abs. 2 StPO aufzuheben und räumte eine Frist zur Stellungnahme bis zum 08.08.2022, 12 Uhr ein. Nachdem beide Pflichtverteidiger jeweils mit am 08.08.2022 eingegangenem Schriftsatz Stellung genommen und sich gegen die Entpflichtung ausgesprochen hatten, hob der Vorsitzende die Bestellung von Rechtsanwalt M. als zusätzlichem Pflichtverteidiger mit Beschluss vom 09.08.2022 gemäß § 144 Abs. 2 StPO auf. In dem Beschluss wird insbesondere ausgeführt, dass bei Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers der zuletzt bestellte Rechtsanwalt zu entpflichten sei. Die Stellungnahme des Angeklagten vom 08.08.2022 ging am 09.08.2022 – laut Vermerk des Vorsitzenden erst nach der Entscheidung über die Aufhebung der Bestellung – bei Gericht ein. In der Stellungnahme machte der Angeklagte geltend, dass er von Rechtsanwalt M. erfahren habe, dass dieser entpflichtet werden solle, das Anhörungsschreiben des Gerichts sei ihm selbst erst am Abend des 08.08.2022 zugegangen. Er widersprach der Entpflichtung und begründete dies im Wesentlichen damit, dass Rechtsanwalt S. im Gegensatz zu Rechtsanwalt M. nicht an allen Verhandlungstagen anwesend gewesen sei und dass zwischen ihm und Rechtsanwalt M. ein starkes Vertrauensverhältnis bestünde. Es sei ihm völlig unverständlich, warum er seinen Pflichtverteidiger nicht aussuchen könne. Wenn das Gericht einen der beiden Pflichtverteidiger entpflichten wolle, bitte er um Entpflichtung von Rechtsanwalt S.

Gegen den dem Aufhebungsbeschluss legte der Angeklagte sofortige Beschwerde ein. Das Rechtsmittel hatte Erfolg:

„Die zulässige sofortige Beschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses des Vorsitzenden.

Gemäß § 144 Abs. 2 S. 1 StPO ist die Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers aufzuheben, sobald seine Mitwirkung zur zügigen Durchführung des Verfahrens nicht mehr erforderlich ist. Gemäß § 144 Abs. 2 S. 2 StPO gilt § 142 Abs. 5 bis 7 S.1 StPO entsprechend.

Nach § 142 Abs. 5 S. 1 StPO ist dem Beschuldigten vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers Gelegenheit zu geben, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Verteidiger zu bezeichnen. Nach Abs. 5 S. 3 ist der von dem Beschuldigten innerhalb der Frist bezeichnete Verteidiger zu bestellen, wenn dem kein wichtiger Grund entgegensteht, wobei ein wichtiger Grund auch vorliegt, wenn der Verteidiger nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung steht.

Im Fall der Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers nach § 144 Abs. 2 S. 1 StPO kann dies bei entsprechender Anwendung des § 142 Abs. 5 StPO nur bedeuten, dass der Beschuldigte im Hinblick darauf anzuhören ist, welcher der Pflichtverteidiger ihn fortan verteidigen soll, und dass der durch den Beschuldigten bezeichnete Verteidiger gerade nicht entpflichtet werden kann, sofern kein wichtiger Grund dies ausnahmeweise gebietet.

Nach Auffassung des Senats gilt die Verweisungsregelung wegen ihrer eindeutigen systematischen Stellung – jedenfalls auch – für die Fälle des Absatzes 2. Etwas anderes folgt weder aus den Gesetzesmaterialen (BT-Drs. 19/13829, 49 f.) noch aus der durch die Generalstaatsanwaltschaft zitierten Kommentierung (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage, § 144 Rn. 10), da beide Quellen sich zu der Frage der in Absatz 2 geregelten Aufhebung der Bestellung nicht verhalten. Soweit der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer II ausweislich der Beschlussbegründung aus dem Wortlaut des § 144 Abs. 2 S. 1 StPO schlussfolgert, dass der zuletzt bestellte Pflichtverteidiger zu entpflichten ist, steht dies im Widerspruch zu der Regelung der §§ 144 Abs. 2 S. 2, 142 Abs. 5 S. 1 StPO, die dem Angeklagten ein Bezeichnungsrecht einräumt. Auch in der Sache ist kein Grund ersichtlich, weshalb zwingend der zuletzt bestellte Pflichtverteidiger entpflichtet werden muss, wenn das besondere Bedürfnis für die Mitwirkung eines weiteren Verteidigers zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens nachträglich weggefallen ist, insbesondere ist die Aufgabe eines zweiten Pflichtverteidigers nicht allein auf die Verfahrenssicherung beschränkt. Vielmehr muss er in gleicher Weise die sachgerechte Verteidigung des Angeklagten gewährleisten, wie der zuerst bestellte Pflichtverteidiger (OLG Hamm, NStZ 2011, 235, m. w. N.).

Die Entscheidung des Vorsitzenden entspricht daher nicht den Vorgaben der §§ 144 Abs. 2 S. 2, 142 Abs. 5 S. 1 und S. 3 StPO hinsichtlich des vor der Entscheidung einzuhaltenden Verfahrens. Zwar hat der Vorsitzende veranlasst, dass sich der Angeklagte zur beabsichtigten Entpflichtung von Rechtsanwalt M. äußern kann, faktisch hatte der Angeklagte jedoch keine Möglichkeit hierzu, da ihn das Schreiben des Gerichts erst am Abend des 08. August 2022 – also nach Fristablauf – erreicht hatte und seine Stellungahme dem Vorsitzenden nicht im Zeitpunkt der Entscheidung über die Entpflichtung vorlag. Darüber hinaus wurde dem Angeklagten auch nicht die Gelegenheit gegeben, von seinem Bezeichnungsrecht nach §§ 144 Abs. 2 S. 2, 142 Abs. 5 S. 1 StPO Gebrauch zu machen und den Pflichtverteidiger zu benennen, von dem er weiterhin verteidigt werden möchte. Anders als nach früherer Rechtslage hat die Anhörung zur Bezeichnung des Verteidigers grundsätzlich zwingend zu erfolgen (Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 142 Rn. 32; BeckOK-StPO, 44. Edition, Stand: 01. Juli 2022, § 142 Rn. 17)….. „

OWi III: Wenn die „Akte in Verlust geraten ist“, oder: Wiederherstellung des Sitzungsprotokolls, so geht es

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Und zum Schluss des Tages dann der BayObLG, Beschl. v. 29.08.2019 – 201 ObOWi 1465/19 -, der sich mit einer nicht alltäglich, aber immer mal wieder auftretenden Problematik befasst, nämlich der Frage der Zulässigkeit der Wiederherstellung eines verloren gegangenen Sitzungsprotokolls

Die Frage spielte in dem vom BayObLG entschiedenen Fall eine Rolle. Es ging um die Wirksamkeit der Zustellung des AG-Urteils. Denn:  Nach §§ 71 Abs. 1 OWiG, 273 Abs. 4 StPO darf das Urteil nicht zugestellt werden, bevor das Protokoll fertig gestellt ist. Eine entgegen dieser Vorschrift bewirkte Urteilszustellung ist unwirksam und setzt die von der Urteilszustellung abhängigen Fristen nicht in Lauf.

Also stellte sich in dem Fall, in dem Originalakte „in Verlust geraten“ war, die Frage: Wiederherstellung des Protokolls. Dazu das BayObLG:

„Nachdem hier die Originalakte einschließlich des Protokolls in Verlust geraten ist, ist bislang unklar, ob und wann das Protokoll vom 01.08.2018 fertiggestellt wurde. Es bedarf deshalb der Wiederherstellung des Protokolls. Die Wiederherstellung eines verlorengegangenen Protokolls ist zulässig. Vorsitzender und Protokollführer können, soweit ihr Gedächtnis reicht oder aus vorhandenen Aufzeichnungen oder durch Bekundungen der Verfahrensbeteiligten wieder aufgefrischt werden kann, eine abhanden gekommene Sitzungsniederschrift neu erstellen (LR/Stuckenberg StPO 26. Aufl. § 271 Rn. 69). Wegen der Bedeutung der Sitzungsniederschrift für das Rechtsbeschwerdeverfahren ist der Tatrichter verpflichtet, grundsätzlich alle verfügbaren Möglichkeiten auszuschöpfen, um das Protokoll möglichst vollständig zu rekonstruieren. Wenn es notwendig ist, um die eigene Erinnerung oder die des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle aufzufrischen, sind auch Nachforschungen anzustellen (KG, Beschl. v. 25.04.1990 – 4 Ws 84/90 = NStZ 1990, 405 = NStE Nr 4 zu § 271 StPO).

Hier ergibt sich aus der Akte nicht, ob ein Protokoll von der Richterin oder einem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle gefertigt wurde und ob und wann es fertiggestellt wurde. Es ist auch nicht niedergelegt, ob sich einer von beiden an den Inhalt oder Teile des Inhalts und die Fertigstellung einschließlich Datum erinnert oder ob dies versucht wurde. Das ist nachzuholen. Es könnte auch noch einmal beim Abwickler der Kanzlei S. angefragt werden, ob diesem eine Mitwirkung an der Rekonstruktion möglich erscheint. Sollte eine Wiederherstellung des Protokolls (teilweise) möglich sein, ist im wiederhergestellten Protokoll kenntlich zu machen, für welche Feststellungen Vorsitzender oder Protokollführer mangels sicherer eigener Erinnerung die Verantwortung nicht übernehmen können. Dann ist zu prüfen, ob das Urteil vom 01.08.2019 nach Fertigstellung des Protokolls zugestellt worden ist.

Sollte nach Ausschöpfung aller Erkenntnisquellen mangels Erinnerung oder anderer Quellen keine Wiederherstellung des Protokolls einschließlich der Frage der Fertigstellung möglich sein, so ist dies unter Darstellung der erfolgten Bemühungen in den Akten zu vermerken. Das Protokoll gilt dann von dem Zeitpunkt an als fertiggestellt, an dem endgültig feststeht, dass keine (weitere) Rekonstruktion möglich ist (vgl. ähnlich LR/Stuckenberg a.a.O. § 271 Rn. 31). Danach hat nach diesem Vermerk nochmals die von dem Vorsitzenden anzuordnende Zustellung des Urteils vom 01.08.2019 zu erfolgen (§§ 80 Abs. 3 Satz 1, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 343 Abs. 2 StPO). Erst mit dieser Zustellung wird die Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde in Gang gesetzt. Nach deren Ablauf wird sodann erneut nach §§ 80 Abs. 3 Satz 1, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 347 StPO zu verfahren sein.“

Gilt natürlich auch im Strafverfahren…..

Bild-Ton-Aufnahme in der Hauptverhandlung, oder: Verfahren und Gründe für die Vorführung

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Die zweite „Montagsentscheidung“ kommt vom ebenfalls BGH. Es handelt sich um den BGH, Beschl. v. 16.10.2018 – 3 StR 256/18. Thematik ist kein Dauerbrenner, sondern eine Frage, die m.E. die Rechtsprechnung bislang nicht so häufig beschäftigt, nämlich die Bild-Ton-Aufführung in der Hauptverhandlung (§ 255a StPO). In dem Beschluss geht es um die Frage der erneuten richterlichen Vernehmung der sog. Opferzeugin in einem Vergewaltigungsverfahren. Die Strafkammer hatte dazu die Aufzeichnung der richterlichen Vernehmung statt erneuter Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung angeordnet. Die Anordnung kam allerdings nicht von der Strafkammer, sondern „nur“ vom Vorsitzenden, zudem passte die Begründung nicht. Das führte zur Aufhebung des landgerichtlichen Urteils durch den BGH:

„Zu Recht beanstandet die Revision, dass die Entscheidung, die persönliche Vernehmung (§ 250 StPO) der Zeugin und Nebenklägerin Celina D. durch Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung ihrer richterlichen Vernehmung zu ersetzen, nicht durch gerichtlichen Beschluss, sondern nur durch – zudem unzureichend begründete – Anordnung des Vorsitzenden getroffen wurde.

1. Durch den Wortlaut der seit dem 1. September 2013 geltenden Fassung des § 255a StPO ist klargestellt, dass Entscheidungen nach § 255a Abs. 2 StPO nicht der Vorsitzende, sondern das Gericht nach einer Interessenabwägung zu treffen hat (vgl. auch Beck-OK StPO/Berg, § 255a Rdn. 17.1; Löwe-Rosenberg/Mosbacher, Nachtrag zu § 255a Rdn. 10; a.A. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 255a Rdn. 11). Soweit zur zuvor geltenden Gesetzesfassung angenommen wurde, es genüge die Anordnung des Vorsitzenden (vgl. BGH NStZ 2011, 712; a. A. KK-Diemer, StPO, 7. Aufl., § 255a Rdn. 14), ist diese Ansicht nunmehr obsolet (vgl. Beck-OK StPO/Berg, a. a. O.; Löwe-Rosenberg/Mosbacher, a. a. O).

Der Verstoß gegen das Beschlusserfordernis kann mit der Revision als eigenständige Verletzung von Verfahrensrecht gerügt werden (vgl. MüKo-StPO/Krüger, § 255a Rdn. 44; Beck-OK StPO/Berg, § 255a Rdn. 18).

2. Auch die gemäß § 255a Abs. 2 S. 3 StPO erforderliche Begründung zur Ersetzung der persönlichen Vernehmung durch Vorspielen der Bild-Ton-Aufzeichnung war – wie die Revision ebenfalls mit Recht rügt (RB S. 52) – unzureichend. Die Gründe der Anordnung (vgl. Anlage I zum Protokoll vom 21. Februar 2018) geben lediglich die tatsächlichen Voraussetzungen wieder, die die Ermessensentscheidung eröffnen; sie lassen aber die Ausübung des Ermessens nicht erkennen. Eine eingehende Begründung war vorliegend umso mehr geboten, als die Zeugin, auf deren Angaben die Anklage sich im Wesentlichen gestützt hat, zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung bereits neunzehn Jahre alt war und eine besondere sich gerade aus dem Alter ergebene Schutzbedürftigkeit der Zeugin sich damit nicht von Vornherein aufdrängte.“

Die Organisationsentscheidung der Staatsanwaltschaft muss man hinnehmen

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Der BGH, Beschl. v. 11.08.2016 – 1 StR 196/16 – ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Ich picke mir heute zunächst die verfahrensrechtliche Frage der Abtrennung heraus. Zur Last gelegt wurde dem Angeklagten Steuerhinterziehung in Zusammenhang mit dem Handel/Verkauf von unversteuerten Zigaretten und ein BtM-Delikt. Das BtM-Delikt ist dann abgetrennt und der Angeklagte ist insoweit gesondert verurteilt worden. Mit der Revision wird u.a. deshlab ein Verfahrenshindernis geltend gemacht. Die BGH sieht das nicht so:

b) Die Abtrennung des Verfahrens und die gesonderte Aburteilung einer Betäubungsmittelstraftat begründete für die verfahrensgegenständlichen Steuerstraftaten ebenfalls kein Verfahrenshindernis.

Die Trennung verbundener Strafsachen ist gesetzlich zulässig und kann sogar noch nach Eröffnung des Hauptverfahrens angeordnet werden (§ 4 Abs. 1 StPO). Sie ist aus Zweckmäßigkeitserwägungen insbesondere dann zulässig, wenn nur eine der verbundenen Sachen entscheidungsreif ist (vgl. BGH, Urteil vom 3. Oktober 1974 – 4 StR 385/74, MDR 1975, 23 bei Dallinger).

Bei der Entscheidung über die Abtrennung von Verfahrensteilen handelt es sich um eine Ermessensentscheidung. Selbst bei einer im gerichtlichen Verfahren erfolgten Trennung verbundener Strafsachen kann diese mit der Revision nur auf Ermessensmissbrauch hin überprüft werden (vgl. BGH, Urteil vom 6. August 2013 – 1 StR 201/13, NStZ-RR 2013, 352). Ob sich bei einem – wie hier allein in Frage kommenden – Ermessensmissbrauch durch die Staatsa-waltschaft überhaupt ein Verfahrenshindernis ergeben kann, bedarf keiner Entscheidung. Denn ein solcher Missbrauch liegt hier nicht vor.

Insbesondere ergibt er sich auch nicht aus dem Umstand, dass wegen unterschiedlicher Tatvorwürfe eigenständige Ermittlungsverfahren geführt wurden. Zwar kann es zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung sinnvoll sein, das Verfahren wegen mehrerer Tatvorwürfe durch lediglich ein staatsanwaltschaftliches Dezernat führen zu lassen. Gerade bei Deliktsarten, bei denen – wie bei Wirtschafts- und Steuerstraftaten – juristisches Spezialwissen erforderlich ist, kann es indes zweckmäßig sein, diejenigen Ermittlungen, die sich auf solche Tatvorwürfe beziehen, in einem gesonderten Ermittlungsverfahren durch ein hierauf spezialisiertes Dezernat der Staatsanwaltschaft führen zu lassen. Die Organisationsentscheidung der Staatsanwaltschaft, die gegen den Angeklagten bestehenden Tatvorwürfe wegen Steuerstraftaten und diejenigen wegen des Betäubungsmitteldelikts nicht in einem einheitlichen Ermittlungsverfahren zu führen, ist daher weder ermessensmissbräuchlich, noch führt sie zu einem Verfahrenshindernis.

Wird bei Anklageerhebung zunächst nur ein Teil der Tatvorwürfe in die Anklageschrift aufgenommen, kann dies hinsichtlich der übrigen eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung darstellen, für die dann – wie hier – bei späterer Aburteilung ein Ausgleich vorzunehmen ist. Andererseits besteht für die Staatsanwaltschaft regelmäßig keine Pflicht, mit der Anklage bezüglich ausermittelter Tatvorwürfe zuzuwarten, bis eine einheitliche Anklageerhebung für alle Tatvorwürfe möglich ist. Zwar kann ein einheitliches Hauptverfahren verfahrensökonomischer und für den Angeklagten weniger belastend sein. Allerdings ist auch insoweit der Beschleunigungsgrundsatz im Blick zu behalten. Letztlich besteht damit insoweit weitgehendes Ermessen der Ermittlungsbehör-den. Gleichwohl eintretende rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen sind zu kompensieren.“

Verfahrenseinstellung und Auslagenentscheidung, oder: Ermessen, das man hat, muss man auch ausüben

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Innerhalb kurzer Zeit hat das BVerfG erneut zur Ermessensausübung bei der Auferlegung der notwendigen Auslagen nach Verfahrenseinstellung Stellung nehmen müssen. Im BVerfG, Beschl. v. 13.10.2015 – 2 BvR 2436/14 – hatte es sich um eine Einstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG gehandelt (vgl. dazu Kosten und Auslagen beim Betroffenen? , so einfach geht das nicht mehr….). Im BVerfG, Beschl. v. 29.10.2015 – 2 BvR 388/13 ging es dann um eine Einstellung nach § 206a StPO. In beiden Fällen moniert das BVerfG, dass die befassten Gerichte das ihnen eingeräumte Ermessen nicht ausübt haben.

In dem der Entscheidung vom 29.102.2015 zugrunde liegenden Verfahren hatte das LG Stralsund das ihm in § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO eingeräumte Ermessen offenbar gar nicht erkannt, sondern hatte sich offenbar als verpflichtet angesehen, die notwendigen Auslagen des ehemaligen Angeklagte nicht der Staatskasse aufzuerlegen. Das schließt das BVerfG zutreffend aus der Formulierung des landgerichtlichen Beschlusses, in dem es geheißen hatte: „Die Kammer hat nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO davon abzusehen, die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen, da er wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht.“.

Das ist aber so nicht zutreffend. Vielmehr müssen zum Verfahrenshindernis, das allein der Verurteilung entgegensteht, weitere besondere Umstände hinzutreten, die es billig erscheinen lassen, dem Angeschuldigten die Auslagenerstattung zu versagen. Darüber hat das Einstellungsgericht zu befinden, was das LG Stralsund eben nicht getan hatte.

Der auf die Beschwerde des ehemaligen Angeklagten ergangene Beschluss des OLG Rostock hatte das übrigens nicht „repariert“. Das OLG hatte zwar (zutreffend) darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung gem. § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO eine Ermessensausübung erfordert. Es hatte dann aber die vom LG unterlassene Ermessensausübung nicht nachgeholt, sondern sich, ohne eigene Ermessenserwägungen anzustellen, auf die rechtliche Prüfung der – tatsächlich nicht vorliegenden – „Ermessensentscheidung des Landgerichts“, die es „als fehlerfrei“ erachtet, beschränkt. Eine Praxis, die, da die OLG nicht selten aus den „zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung“ verwerfen, wie man sieht, nicht ungefährlich ist.

Die Entscheidung des BVerfG ändert im Übrigen aber nichts an der Rechtsprechung des BVerfG, wonach es zulässig ist, in einer das Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Entscheidung einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten und dies bei der Entscheidung über die kostenrechtlichen Folgen zu berücksichtigen. Darauf weist das BVerfG ausdrücklich hin. Rechtsfolgen, die keinen Strafcharakter haben, können auch in einer das Verfahren abschließenden Entscheidung an einen verbleibenden Tatverdacht geknüpft werden (BVerfG NJW 1990, 2741; 1992, 1611, 1992, 1612; Beschl. v. 7. 2. 2002 – 2 BvR 9/02). Die Versagung des Auslagenersatzes im Falle einer Verfahrenseinstellung widerspricht also nicht der verfassungsrechtlichen Unschuldsvermutung, solange sich die Entscheidung über die Auslagenerstattung auf Erwägungen zum Tatverdacht stützt und ihre Begründung keine gerichtliche Schuldfeststellung oder -zuweisung enthält. Und: Es muss erkennbar sein, dass das Gericht sich seines Ermessens bewusst war und es auch ausgeübt hat.