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U-Haft III: Keine „Aufschlusszeiten“ wegen Corona, oder: Interaktionsbedürfnis des U-Haft-Gefangenen

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Und zum Schluss des Tages dann noch etwas aus dem U-Haft-Vollzug. der OLG Hamburg, Beschl. v. 12.07.2022 – 1 Ws 27/22 – hätte übrigens auch an einem „Corona-Tag“ vorgestellt werden können. Denn es geht um die Frage der Rechtmäßigkeit einer Streichung von sog. Aufschlusszeiten.

Der Beschuldigte war während seiner Unterbringung in der Untersuchungshaftanstalt auf einer offenen Station untergebracht, auf der er (zunächst) innerhalb der von der Anstalt vorgegebenen Zeiten – 08.30 Uhr bis 12:30 Uhr sowie 15:00 Uhr bis 18:00 Uhr – am Aufschluss teilnehmen und dadurch insbesondenre duschen, telefonieren, die Küche nutzen sowie sich mit Mitgefangenen unterhalten konnte. Vor dem Hintergrund der Auswirkungen und Gefahren der Covid-1 B-Pandemie ordnete der Leiter der Untersuchungshaftanstalt am 03.12.2021 aus Gründen des Infektionsschutzes nach Rücksprache mit den in der Ambulanz der Anstalt tätigen Ärzten formlos – mitgeteilt über den hausinternen „Info-Pool“ – die Streichung sämtlicher Aufschlusszeiten an. Im Anschluss hieran wurde der Beschuldigte entsprechend dieser Regelung behandelt. Er hat vorgetragen, aufgrund dessen in der Regel 23 Stunden in seinem Haftraum eingeschlossen gewesen zu sein.

Das OLG Hamburg hat diese Maßnahme als rechtswidirig angesehen. Aus dem umfangreichen Beschluss hier nur folgende Passage:

„(2) Nach dieser Maßgabe hat die UHA das ihr in § 42 Abs. 6 HmbUVollzG eingeräumte Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt.

(a) Im Rahmen der ihr eingeräumten Ermessensspielräume hat die Justizvollzugsanstalt die Grundrechte und Bedürfnisse der Gefangenen, insbesondere nach Interaktion mit Mitgefangenen, und die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Justizvollzugsanstalt zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen (vgl. OLG Naumburg, Beschl. v. 29.08.2019 -1 Ws (s) 269/191 – juris, Rn. 16; OLG Celle, Beschl. v. 03.03.1981 – 3 Ws 410/80 -, NStZ 1981, 2218). Bei der Anwendung der Vorschriften des Untersuchungshaftrechts hat sie dabei stets der besonderen Stellung Untersuchungsgefangener und dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb lediglich unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.01 .2008 – 2 BvR 1229/07 -, juris; BVerfG, Beschl. v. 16.06.04.1976- 2 BvR 61/76-, NJW 1976, 1311 ; Beschl. v. 31 .08.1993- 2 BvR 1479/93 -, NStZ 1994, 52; Beschl. v. 30.10.2014 – 2 BvR 1513/14-, NStZ-RR 2015, 79, 80).

Untersuchungsgefangene sind gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 HmbUVollzG so zu behandeln, dass der Anschein vermieden wird, sie würden zur Verbüßung einer Strafe festgehalten. Vor diesem Hintergrund erlangen die Grundrechte der Gefangenen ein erhöhtes Gewicht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 28.10.2012 – 2 BvR 737/11BVerfGK 20, 107, 113). Als Konsequenz hieraus hat die Justizvollzugsanstalt u.a. den in § 5 Abs. 1 S. 1 HmbUVollzG zum Ausdruck gebrachten Angleichungsgrundsatz zu beachten und möglichst darauf hinzuwirken, dass Untersuchungsgefangene eine angemessene Zeit des Tages außerhalb ihrer Hafträume verbringen können (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.10.2012- 2 BvR 736/11BVerfGK 20, 93, 101).

(b) Den vorgenannten Anforderungen hat die UHA nicht genügt. Die einschlägigen Rechte und Interessen der Gefangenen haben bei ihrer Entscheidung keine ausreichende Berücksichtigung gefunden.

(aa) Insoweit kann dahinstehen, auf welchen Zeitpunkt es bei der Prüfung der Ermessensentscheidung ankommt und ob und inwieweit die UHA im gerichtlichen Verfahren Gründe nachschieben kann.

(bb) Denn jedenfalls genügen die Erwägungen der UHA auch unter Berücksichtigung der erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens geäußerten Überlegungen nicht den Anforderungen an eine fehlerfreie und vollständige Ermessensentscheidung.

Der gebotenen Berücksichtigung des Bedürfnisses der Gefangenen an lnteraktion und internen Freiräumen kam im vorliegenden Fall besonderes Gewicht zu. Die Auswirkungen der Anordnung für die Gefangenen ähnelten einer Einzelhaft, die als besondere Sicherungsmaßnahme in § 54 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 3 HmbUVollzG spezifisch geregelt ist und einen schweren Eingriff in Grundrechte bewirkt (vgl. BVerfGK 20, 93, 103).

Die deswegen gebotene hinreichende Abwägung mit den Interessen der Gefangenen hat ausweislich der von der UHA mitgeteilten Erwägungen nicht stattgefunden. Die Begründung der UHA erschöpft sich auch in den nachgeschobenen Erwägungen in der Rechtfertigung der Maßnahme mit dem Infektionsschutz und der sich aus § 36 Abs. 1 Nr. 6 lfSG ergebenden Pflicht der Behörde zur Festlegung innerbetrieblicher Verfahrensweisen zur Infektionshygiene. Zwar hat die Anstaltsleitung hierzu weiter ausgeführt und erläutert, warum nach ihrer Auffassung mildere Mittel nicht in Betracht kämen. Bezüglich der beeinträchtigten Rechte der Gefangenen hat sie dagegen lediglich pauschal darauf verwiesen, dass diese durch die Anordnung gewahrt seien.

Ihre Ausführungen lassen nicht erkennen, dass sie sich in ihrer Abwägung der entgegenstehenden Belange eingehend mit den konkret beeinträchtigten Grundrechten der Betroffenen und deren Gewicht auseinandergesetzt und hierbei insbesondere den Angleichungsgrundsatz und die Sonderstellung von Untersuchungsgefangenen berücksichtigt hat. Stattdessen waren die Überlegungen der UHA einseitig darauf ausgerichtet, dem Infektionsgeschehen entgegenzuwirken.

Wenngleich dies im Ansatz richtig und dem Sinne des Gesetzes entsprechend war, hätte die UHA in einem zweiten Schritt vor dem Hintergrund der besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriffe erwägen müssen, ob und inwieweit zumindest in Grenzen eine Konkordanz mit den Rechten der Gefangenen möglich und vertretbar gewesen wäre. Die UHA hätte sich hierzu näher verhalten und zusätzlich prüfen müssen, ob alternative Konzepte umsetzbar gewesen wären, die zumindest einen kürzeren und eingeschränkten Kontakt zu anderen Gefangenen ermöglicht hätten und hierbei zu einem derart geringen Restrisiko für Belange des Gesundheitsschutzes geführt hätten, dass die rechtlichen geschützten Interessen der Gefangenen dessen Hinnahme als noch vertretbar und damit gerechtfertigt hätten erscheinen lassen.

Dies wäre, soweit ersichtlich, nach Lage der Dinge jedenfalls für geimpfte und genesene Gefangene wie den Beschwerdeführer nicht  ausgeschlossen gewesen. Den Versuch eines Interessenausgleichs hätte die UHA etwa durch die Prüfung der Frage unternehmen können, ob dem Grundbedürfnis an Kommunikation zumindest durch ein Minimum an zusätzlichen Freiräumen hätte entsprochen werden können. Zu denken gewesen wäre an deutlich verkürzte Öffnungszeiten, zu denen jeweils nur wenige Gefangene – bei Aufteilung in feste Gruppen – die Gelegenheit zu intern freier Bewegung gehabt hätten. Die Pflicht zur Tragung von Masken hätte in diesem verminderten Rahmen eher mit dem zur Verfügung stehenden Personal! überwacht werden können; ihre Durchsetzung hätte durch den Verlust der Vergünstigung im Falle eines Fehlverhaltens erfolgen können. Soweit die UHA in diesem Zusammenhang darauf verwiesen hat, dass eine unterschiedliche Behandlung von Gefangenen (,,Binnendifferenzierung“) die Einrichtung einer abgetrennten Station erfordert hätte und dies aufgrund der räumlichen Gegebenheiten nicht möglich gewesen wäre, weil dies dazu geführt hätte, dass Plätze auf dieser Station nicht voll hätten belegt werden können, falls nicht ausreichend geimpfte oder genesene Gefangene vorhanden gewesen wären, erscheinen die Überlegungen aus sich heraus nicht nachvollziehbar.

Insbesondere ist nicht erkennbar, warum nicht einzelne Gefangene auf einer sonst (zeitweise) geöffneten Station im Einschluss hätten verbleiben können. Ob die entsprechenden Überlegungen zu einem Interessenausgleich, wie von der Generalstaatsanwaltschaft vertreten, notwendig zu Ausnahmen von der Einschlussregelung hätten führen müssen, weil letztere andernfalls unverhältnismäßig wäre, kann hier dahinstehen. Ein Ermessensfehler liegt alleine schon darin, dass die UHA das Gewicht der Gefangenenrechte und dementsprechend ihre Bedeutung bei der Ermessensausübung verkannt hat.“

Termin I: Ermessen bei der Terminsverlegung, oder: Wenn der Verteidiger auf sein Kind aufpassen muss

Ich stelle heute dann mal drei Entscheidungen vor, die alle mit dem (Hauptverhandlungs)Termin, der Terminierung und/oder der Terminsverlegung zu tun haben.

Den Opener macht der LG Berlin, Beschl. v. 29.07.2021 – 531 Qs 73/21. Ergangen ist die Entscsheidung in einem Verfahren mit dem Vorwurf des unerlaubten Entfernens vom Unfallort auf die Beschwerde des Verteidigers. In dem Verfahren hatte das AG zunächst einen Hauptverhandlungstermin für den 27.08.2021 anberaumt. Dieser Termin wurde aufgrund eines Terminsverlegungsantrags des Verteidigers, der angegeben hat sich vom 16.08.2021 bis 03.09.2021 im Urlaub zu befinden, auf den 08.09.2021 verlegt. Dann beantragt der Verteidiger erneut Terminsverlegung unter Hinweis auf die Betreuung seines knapp einjährigen Kindes. Er hat vorgetragen, dass die Kindsmutter ab dem 06.09.2021 wieder arbeiten geht und ein Kitaplatz erst ab dem 20.09.2021 zur Verfügung steht. Er hat nach dem 06.09.2021 Hauptverhandlungstermine Dienstags, Donnerstags oder Freitags vorgeschlagen.

Der Amtsrichter lehnt ab, da nicht ersichtlich sei, dass die Kindesbetreuung am Terminstag nicht anderweitig oder ausnahmsweise durch die Kindsmutter erfolgen könne, eine Terminsverlegung bereits durch den Verteidiger veranlasst worden sei und das Interesse an einer Verfahrensbeschleunigung die Organisationsschwierigkeiten des Verteidigers überwiegen würde. Dagegen die Beschwerde, die beim LG Erfolg hat:

„1. Die Beschwerde ist zulässig. Zwar können nach der in § 305 Abs. 1 Satz 1 StPO getroffenen Regelung Verfügungen des Vorsitzenden des erkennenden Gerichts, durch die ein Termin zur Hauptverhandlung anberaumt, verlegt oder eine solche Verlegung abgelehnt wird, grundsätzlich nicht mit der Beschwerde angefochten werden (vgl. KG, Beschl. v. 27.11.2006 – 4 Ws 207/06). Jedoch ist eine Anfechtung ausnahmsweise zulässig, wenn eine in rechtsfehlerhafter Ermessensausübung getroffene Entscheidung für einen Angeklagten eine besondere selbstständige Beschwer beinhaltet, weil sein Recht, sich eines Verteidigers seines Vertrauens zu bedienen, beeinträchtigt worden ist, dies leicht zu vermeiden gewesen wäre und die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung offensichtlich ist (vgl. KG, Beschl. v. 06.10.2008 – 3 Ws 341/08, m.w.N.).

So liegt der Fall hier. Die Entscheidung des Richters des Amtsgerichts ist offensichtlich fehlerhaft, weil sie nicht alle für die Abwägung der Interessen des Angeklagten an einer Verteidigung durch den von ihm gewählten Verteidiger mit den Interessen der Strafrechtspflege bedeutsamen Gesichtspunkte erkennbar in Betracht zieht. Dies ist auch nicht im Rahmen der Nichtabhilfeentscheidung nachgeholt worden. Zum einen waren den Terminierungen keine Bemühungen um eine Abstimmung der Termine vorausgegangen, was hier unproblematisch bei einer Tagessache mit lediglich einem Verteidiger möglich gewesen wäre. Zum anderen wurde nicht berücksichtigt, dass der Verteidiger zum Zeitraum der Terminierung neue mögliche Termine vorschlägt. Des Weiteren findet sich keine Darlegung der Terminslage der Abteilung oder eine Begründung, warum dem Verfahren nunmehr ein besonderes Beschleunigungsinteresse zu teil wird (weder Haftsache noch Führerschein vorläufig beschlagnahmt).

2. Die Beschwerde ist auf Grund dieses Fehlers bei der Ermessensausübung auch begründet. Die Kammer hebt die angefochtene Entscheidung auf. Der Richter am Amtsgericht wird erneut über den Terminsaufhebungsantrag vom 29.06.2021 zu entscheiden haben. Insoweit kann die Kammer keine abschließende Entscheidung treffen, da es auch möglich erscheint, dass eine fehlerfreie Ermessensausübung zu demselben Ergebnis führt.“

Toleranzgrenze bei der Rahmengebühr, oder: Abstellen auf Gesamtgebühren oder auf Einzelgebühr?

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Am „Gebührenfreitag“ heute dann zunächst eine Entscheidung, die aus dem Sozialgerichtsverfahren stammt. Ja, richtig gelesen. Aber: Die Ausführungen des BayLSG im BayLSG, Beschl. v. 24.03.2020 – L 12 SF 271/16 E – passen auch für das Straf- oder Bußgeldverfahren. Der Beschluss behandelt nämlich eine Problematik in Zusammenhang mit § 14 RVG – also Rahmengebühr.

Dazu führt das BayLSG aus:

„…..

Innerhalb dieses Gebührenrahmens bestimmt der Rechtsanwalt nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers und des Haftungsrisikos des Rechtsanwalts nach billigem Ermessen. Hiermit ist dem Rechtsanwalt ein Beurteilungs- und Entscheidungsvorrecht eingeräumt, das mit der Pflicht zur Berücksichtigung jedenfalls der in § 14 RVG genannten Kriterien verbunden ist. Unter Zugrundelegung der genannten Kriterien ist vorliegend mit der Ansicht des SG von einer deutlich überdurchschnittlichen Angelegenheit auszugehen.

Der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit stellt sich auch nach Auffassung des Senats deutlich überdurchschnittlich dar……..

Zusammenfassend ist festzustellen, dass von einer deutlich überdurchschnittlichen Angelegenheit auszugehen ist, die auch nach Auffassung des Senats zwar nicht die Höchstgebühr, aber den Ansatz einer um 2/3 erhöhten Mittelgebühr gerechtfertigt.

b) Allerdings ist dem Rechtsanwalt nach § 14 1 RVG bei Rahmengebühren wie der Verfahrensgebühr ein Ermessensspielraum von 20 % (sog. Toleranzgrenze) zuzugestehen, der von Dritten wie von den Gerichten zu beachten ist (vgl. zuletzt BSG vom 12.12.2019, – B 14 AS 48/18 R -; vgl. auch BGH vom 11.07.2012 – VIII ZR 323/11 – juris RdNr.10; BGH vom 05.02.2013 – VI ZR 195/12 – juris RdNr 8). Ist die Gebühr – wie hier – von einem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist (§ 14 Abs. 1 Satz 4 RVG). Der Ermessensspielraum verhindert, dass die Gerichte im Einzelfall bei relativ geringfügigen Überschreitungen (vor allem der Mittelgebühr) ihr Ermessen an die Stelle des Ermessens des Rechtsanwalts setzen und dabei oftmals aufwändige Überprüfungen vornehmen, ob die Tätigkeit vielleicht doch in gewissem Umfang anders zu bewerten (z.B. als leicht überdurchschnittlich) war (vgl. BGH, Urteil vom 08.05.2012, Az.: VI ZR 273/11). Damit wird der Aufwand für die Kostenbeamten und die Spruchkörper der Gerichte reduziert und Streit darüber, was noch als billig oder schon als unbillig zu gelten hat, leichter vermieden (vgl. BSG, Urteil vom 01.07.2009, Az.: B 4 AS 21/09 R); nicht zuletzt trägt die Vereinfachung auch dem verfassungsrechtlichen Gebot des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) Rechnung, gleich liegende Fälle gleich und unterschiedliche Fälle entsprechend ihren Unterschieden ungleich zu behandeln (BayLSG, Beschluss vom 01.04.2015, Az.: L 15 SF 259/14). Streitig ist jedoch, ob der Toleranzrahmen für die einzelnen Gebührentatbestände separat zu prüfen ist oder ob die 20 % auf die Gesamtgebühr (ohne Auslagen) bezogen sind. Für letzteres spricht – wie das SG zu Recht ausführt -, dass die Gebühren als Gesamtbetrag festgesetzt und zur Überprüfung gestellt werden (so auch BayLSG, Beschluss vom 01.04.2015, Az.: L 15 SF 259/14 E; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.05.2012, Az.: L 20 AY 139/11 B; Toussaint in Hartmann/ders., Kostengesetze, 49. Aufl. 2019, § 14 RVG, RdNr. 24 unter Verweis auf OLG Koblenz, NJW 2005, 918).

Dennoch ist der Senat der Auffassung, dass bei der Festlegung der 20 % Toleranzgrenze nicht die gesamten Gebühren des Verfahrensabschnitts maßgebend sind, sondern vielmehr jeweils abzustellen ist auf die einzelne Gebühr. Eine dem Rechtsanwalt zuzubilligende und durch die Kostenfestsetzung zu beachtende Toleranzgrenze bei der Ermessensausübung kann nicht allgemein, sondern nur für den konkreten Einzelfall unter Bewertung der einzustellenden Kriterien und nach Durchführung einer Gesamtabwägung gezogen werden. Der sein Ermessen ausübende Rechtsanwalt hat die Kriterien des § 14 RVG jedoch bei jeder Gebühr, die er ansetzt (und deren Höhe sich nicht aus dem Gesetz ergibt), zugrunde zu legen und zu beachten, nicht erst bei der Gesamtgebühr. Es erscheint daher nicht sachgerecht, abweichend hiervon bei der Toleranzgrenze, die ein Ersetzen des Ermessens des Anwalts durch das Gericht bei geringfügigen, noch zu tolerierenden Abweichungen verhindern soll, auf die alleinige Betrachtung der insgesamt beantragten Gebühren abzustellen. Zudem wirkt sich – wie das SG zutreffend bemerkt – in Fällen wie dem vorliegenden, wo für einen der Gebührentatbestände (hier Terminsgebühr) die Höchstgebühr als angemessen anerkannt wird, die Toleranzgrenze bei Abstellen auf die Gesamtgebühren allein auf den anderen Gebührentatbestand (hier: Verfahrensgebühr) aus und erhöht die Toleranz insoweit deutlich. Gerade in Fällen, in denen eine Gebühr sehr hoch ist und eine weitere sich im unteren Bereich des Gebührenrahmens bewegt, führt das Abstellen auf die Gesamtgebühren im Ergebnis zu einer überproportionalen Erhöhung der niedrigen Gebühr. Für eine derartige Verzerrung des Gebührenrahmens besteht kein Anlass. Der Gesichtspunkt der Vereinfachung der Prüfpflicht der Kostenbeamten ist zudem auch bei einer Anwendung der Toleranzgrenze bezogen auf die einzelnen Gebühren gewahrt.

Auch der Senat hat wie das SG keine Bedenken, über die Toleranzgrenze zur Höchstgebühr zu gelangen. Zum einen ist die Toleranzgrenze überhaupt nur anzuwenden, wenn der Rechtsanwalt bei der Festsetzung tatsächlich Ermessen ausgeübt hat. Eine „verzerrende“, nur den Toleranzrahmen ausschöpfende Festsetzung wird damit verhindert. Die Toleranzgrenze ergibt sich systematisch aus der analogen Anwendung des § 315 BGB und teleologisch aus der Erwägung, dass möglichst Streit darüber vermieden werden soll, was „billig“ iSv § 14 RVG ist. Diese systematischen und teleologischen Erwägungen gelten unabhängig davon, ob über die Toleranzgrenze die Höchstgebühren erreicht werden oder nicht.“

Corona: Versammlungsfreiheit, oder: Das BVerfG vermisst eine einzelfallbezogene Ermessensausübung

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Starten wir in die 17. KW. mit dem Thema, mit dem wir die 16. KW. beendet haben. Ja, mit Corona – ein anderes Thema gibt es ja kaum noch. Und ich starte in dem Zusammenhnag mit dem BVerfG, Beschl. v. 17.04.2020 – 1 BvQ 37/20, für mich der Beweis/das Zeichen, dass der Rechtsstaat auch in diesen schwierigen Zeiten funktioniert. Man muss nur auf der Klaviatur spielen können. Aber das ist immer Voraussetzung für (ausreichenden) Rechtsschutz.

Bei der Entscheidung handelt es sich um den Beschluss des BVerfG zu zwei in Stuttgart geplanten Versammlungen. Die waren am 10.04.2020 für den 15. und den 18.04.2020 bei der Stadt Stuttgart angemeldet worden. Zu deren Reaktion wird im Verfahren dann vorgetragen:

Wenn das OLG die „Auslagen- und Kostenkeule“ schwingt, oder: BVerfG sagt schon mal „Willkür“

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Wer kennt es als Verteidiger nicht? Das Schwingen der „Auslagen- und Kostenkeule“ durch die Instanzgerichte nach der Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses. Häufig hat man den Eindruck, dass nach dem Grundsatz verfahren wird: „Wenn wir dich schon nicht verurteilen können, dann wollen wir dich wenigstens finanziell bestrafen.“. Das ist für die betroffenen Beschuldigten vor allem dann misslich, wenn das Verfahren durch die Einstellung wegen eines Verfahrenshindernis nicht endgültig erledigt ist, sondern noch einmal Anklage erhoben werden kann. Denn dann droht eine „Doppelbelastung.“

So war es im vom BVerfG mit BVerfG, Beschl. v. 26.05.2017 – 2 BvR 1821/16 – entschiedenen Fall.Da hatte die Staatsanwaltschaft dem ehemaligen Angeklagten mit Anklageschrift vom 08.10.2015 ein Verstoß gegen u.a. das Pflichtversicherungsgesetz gemäß §§ 267 Abs. 1, 52 StGB, §§ 1, 6 PflVG zur Last gelegt. Das AG verurteilte den Angeklagten wegen Urkundenfälschung. Der Angeklagte legte gegen das Urteil Sprungrevision ein. Da OLG hat das Verfahren auf Kosten der Staatskasse eingestellt, da dem Verfahren kein wirksamer Eröffnungsbeschluss zu Grunde gelegen habe und somit ein Verfahrenshindernis bestehe (§ 206a Abs. 1 StPO). Es sah gemäß § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO davon ab, die dem Beschwerdeführer entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen. Mit seiner Verfassungsbeschwerde hat sich der ehemalige Angeklagte nach erfolgloser Gegenvorstellung gegen die Auslagenentscheidung in dem Beschluss des OLG gewendet. Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Das BVerfG sieht durch den OLG-Beschluss das Willkürverbot verletzt:

Die Entscheidung sollte man als Verteidiger „im Gepäck haben“, wenn er um die Auslagenerstattung für seinen Mandanten kämpft, und zwar nicht nur für das Straf-, sondern auch für das Bußgeldverfahren. Dabei ist – insbesondere für das Bußgeldverfahren – der Satz in der Begründung: „Bei einem durch einen Verfahrensfehler des Gerichts eingetretenen Verfahrenshindernis kann es der Billigkeit entsprechen, die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse aufzubürden.“ von Bedeutung. An ihn sollte man vor allem immer dann denken, wenn es um die Frage der Verjährung geht.

Ähnlich übrigens der BVerfG, Beschl. v. 13.10.2015 – 2 BvR 2436/14 – und dazu: Kosten und Auslagen beim Betroffenen? , so einfach geht das nicht mehr….