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Schriftliches Sachverständigengutachten, ja oder nein?

Für das Erkenntnisverfahren ist ja nicht ganz unbestritten, ob der Verteidiger/Angeklagte einen Anspruch auf ein schriftliches (Vor)Gutachten hat (vgl. dazu auch BGH, Beschl. v. 12.02.2008 – 1 StR 649/07). Das wird teilweise mit Hinweis auf das Mündlichkeitsprinzip verneint. Nun hat das KG – allerdings für das Vollstreckungsverfahren – in  seinem Beschl. v. 08.03.2010 – 2 Ws 40-41/10 ausgeführt, dass dort im Gegensatz zur Beauftragung eines Sachverständigen in der Hauptverhandlung, in der die Regeln der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit herrschen, es sich bei der Prüfung der Aussetzung des Strafrestes nach § 454 StPO in seinem Grundsatz um ein schriftliches Verfahren handelt, so daß ein Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf Vorlage eines schriftlichen Gutachtens besteht. Zumindest also da, besteht ein Anspruch, obwohl das m.E. eine Selbstverständlichkeit ist, so dass man sich fragt, warum dazu erst das KG bemüht werden musste. Man wird m.E. das ein oder andere Argument aus der Entscheidung des KG auch auf das Erkenntnisverfahren übertragen können.

Kardinalfehler beim Sachverständigengutachten

Ein in der Praxis häufiger Fehler hat jetzt (mal wieder) zur Aufhebung eines Urteils durch den BGH geführt (vgl. Urt. v. 04.08.2010 – 2 StR 194/10). Das LG hatte seinen Freispruch u.a. auf ein Sachverständigengutachten gestützt. In dem Zusammenhang beanstandet der BGH,

„…, dass das Landgericht nicht dargelegt hat, welche Ausführungen die aussagepsychologische Sachverständige Dipl. Psych. G. gemacht hat. Hält der Tatrichter die Zuziehung eines Sachverständigen für erforderlich, so hat er grundsätzlich dessen Ausführungen in einer zusammenfassenden Darstellung wiederzugeben, um dem Revisionsgericht eine Nachprüfung zu ermöglichen (vgl. BGH, NStZ-RR 1996, 233; NStZ 2007, 538). Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Tatrichter dem Gutachter nicht folgt oder wenn dies – wie hier – aus den übrigen Urteilsgründen nicht ersichtlich wird.

Dem werden die Gründe des angefochtenen Urteils nicht gerecht. Sie beschränken sich auf eine bruchstückhafte Wiedergabe der Ausführungen der aussagepsychologischen Sachverständigen in der Hauptverhandlung. Daraus ist auch nicht zu entnehmen, zu welchem Gesamtergebnis ihr Gutachten gelangt ist. Der Hinweis des Landgerichts auf die auch nach Ansicht der Sachverständigen bestehende Detailarmut der Aussagen der Zeuginnen D. und J. reicht nicht aus, zumal drei Aussagen von unmittelbaren Zeu-gen des behaupteten jeweiligen Tatgeschehens vorliegen, die in der Gesamt-schau unter Umständen die richterliche Überzeugung von der Richtigkeit des jeweiligen Vorwurfes selbst dann begründen könnten, wenn jede für sich genommen dazu nicht ausreicht.“

Wie gesagt: Häufiger Fehler, auch im OWi-Verfahren, der dann regelmäßig zur Aufgebung führt.

Wenn der Gutachter mit Kachelmann Pizza gegessen hat…

– der Bericht in der BILD über die Teilnahme des SV, der ein Gutachten über das mutmaßliche Opfer erstattet hat, also zutrifft, dann ist das zumindest ungeschickt. Egal, ob er nun am Tisch gesessen (und Pizza oder sonst was gegessen hat) oder nur einen Espresso getrunken hat und nur kurz anwesend war, um Herrn Kachelmann persönlich kennenzulernen, wie der Gutachter wohl selbst gegenüber Bild gesagt hat.

Ich kann dann die Verteidigung nun wirklich nicht verstehen. In der derzeit aufgeladenen Stimmung für/gegen Kachelmann (vgl. die Zusammenstellung hier und hier), muss man m.E. doch den Ball flach halten und darf das positive Gutachten des SV über die Nebenklägerin doch nicht dadurch entwerten, dass man den Anschein eines „Parteigutachtens“ vermittelt. Es ist eh schon schwer genug für die Verteidigung mit eigenen Gutachten im Prozess „Punkte zu sammeln“, dass muss ich doch nicht noch unnötig dadurch erschweren, dass ich selbst Angriffspunkte im Hinblick auf die Unvoreingenommenheit des Sachverständigen liefere. Der Befangenheitsantrag gegen den SV ist damit doch sicher (vgl. auch noch hier).

Im Übrigen mal wieder ein richtiger Bild-Artikel: „Luxuslokal“ und „Jetzt kommt heraus: An dem Abend war außer einer Richterin auch Gutachter ……. dabei.“ Was soll „außer einer Richterin…“ suggerieren: Dass es sich um eine Richterin der Kammer aus Mannheim handelt, oder?

Fehlende Frontlinie führt nicht zum Freispruch – sondern nur zum SV-Gutachten

Wir hatten neulich über eine Entscheidung des AG Lübben berichtet, das eine Geschwindigkeitsmessung mit eso ES 3.0 als unverwertbar angesehen hatte, weil die sog. „Fotolinie“ fehlte (vgl. hier).

Inzwischen hat die Problematik das OLG Brandenburg beschäftigt. Dieses hat in seinem Beschl. v. 03.06.2010 – 2 Ss (OWi) 110 B/10 – eine gleich lautende Entscheidung des AG Lübben zu der Problematik aufgehoben und ausgeführt, dass das Tatgericht bei Zweifeln an der Richtigkeit eines Geschwindigkeitsmessergebnisses für Sachaufklärung sorgen und nicht unmittelbar freisprechen darf. Der Freispruch druch das AG wegen Fehlens der sog. Fotolinie beim Aufbau einer Messstation sei aufzuheben, wenn das Tatgericht die Unverwertbarkeit des Messergebnisses an diesem konkreten Umstand festmacht und diese Erkenntnisse aus einer selbständigen Analyse des Aufbaus der Messstation gewonnen haben will. Zwar könen sich das Gericht grundsätzlich auf seine eigene Sachkunde zur Klärung von Beweisfragen beziehen, es müsse das Ergebnis seiner Erwägungen aber immer auf Grundlage einer für die Sachverhaltsaufklärung und Überzeugungsbildung tragfähigen Begründung bilden. Drängt sich lediglich der Verdacht einer Fehldokumentation auf, müsse das Gericht dies zum Anlass nehmen, eine weitere Sachaufklärung hinsichtlich der Relevanz der mutmaßlichen Fehlerquelle und seiner Auswirkung auf das Messergebnis mittels eines Sachverständigengutachtens in die Wege zu leiten.

Fazit: In den Fällen soll also wohl die Einholung ein SV-Gutachtens erforderlich sein. Ggf. muss der Verteidiger das beantragen und wegen der m.E. nicht beachteten Vorgaben der Bedienungsanleitung immer auch die Frage des Toleranzwertes problematisieren.

Sachkundig bist du, aber nicht in allen Fällen. ADHS sollte dich zum SV-Gutachten veranlassen

Wie weit geht die Sachkunde des Gerichts? Immer wieder eine Frage, die die Praxis beschäftigt. Interessant in dem Zusammenhang die Entscheidung des OLG Koblenz v. 10.06.2010 – 2 Ss 48/10. Im Verfahren ging es um die Beurteilung des Reifegrades eines Heranwachsenden. Das LG hatte insoweit eigene Sachkunde in Anspruch genommen und die Frage selbst beurteilt.

Das OLG sagt:

  1. Ob ein Heranwachsender zum Zeitpunkt der Tatbegehung noch einem Jugendlichen gleichstand, ist im Wesentlichen Tatfrage, wobei dem Tatgericht bei der Beurteilung der Reife des Heranwachsenden grundsätzlich ein Ermessensspielraum eingeräumt wird.
  2. Der Anhörung eines Sachverständigen bedarf es jedoch dann, wenn Anlass zu Zweifeln über eine normale Reifeentwicklung des betroffenen Heranwachsenden bestehen, insbesondere Auffälligkeiten in einer sittlichen und geistigen Entwicklung.“

Auffälligkeiten hat das OLG dann bejaht. Der Angeklagte hatte in früher Jugend eine ADHS-Erkrankung, die mit Ritalin behandelt worden war.