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Acht oder neun Monate Freiheitsstrafe, oder: Durcheinander?

© eyetronic Fotolia.com

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Ein wenig durcheinander scheint es bei einer Strafkammer des LG Gießen zugegangen zu sein. Jedenfalls kann man das m.E. annehmen/ableiten, wenn man den BGH, Beschl. v. 07.09.2016 – 2 StR 71/16 – liest, mit dem das LG-Urteil, durch das der Angeklagte wegen Besitzes von Betäbungsmitteln verurteilt worden ist, dann auch aufgehoben worden ist.

Grund: Ein nicht verlesenes Gutachten zur  Bestimmung von Art und Wirkstoffgehalt der Betäubungsmittel, insoweit ist und konnte keine Protokollberichtigung erfolgen. Einen Fehler hat es dann aber auch bei der Strafzumessung gegeben. Auf den weist der BGH in einer „Segelanweisung“ hin:

„d) Der neue Tatrichter wird gemäß § 358 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen haben, dass von einer Freiheitsstrafe von acht Monaten als Obergrenze der neu zu verhängenden Strafe auszugehen ist. Nach der Urteilsformel im schriftlichen Urteil, die auch der verkündeten entspricht, beträgt die verhängte Freiheitsstrafe zwar neun Monate, nach den Urteilsgründen indes nur acht Monate. Worauf der Widerspruch beruht, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen. Um ein offenkundiges Fassungsversehen, das einer Berichtigung zugänglich sein könnte, handelt es sich nicht, weil die Strafzumessungsgründe, die eine Strafe in der einen wie in der anderen Höhe zulassen, keine Anhaltspunkte dafür bieten, welche der beiden Strafen das Landgericht für angemessen erachtet hat. Auszuschließen ist aber, dass die Strafkammer eine niedrigere Strafe als die in den Gründen genannte verhängen wollte (BGH, Beschluss vom 11. September 2013 – 2 StR 298/13; BGH, Beschluss vom 15. Juni 2011 – 2 StR 194/11).“

Wenn es dem (bösen) Nachbarn nicht gefällt, dass ich noch Auto fahre, oder: Anonyme Hinweise verhältnismäßig?

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Verfahren, die zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen, haben für die Betroffenen erhebliche Bedeutung und sind in der Regel auch von erheblicher Brisanz. Meist geht es (auch) um die Frage, ob der Betroffene überhaupt verpflichtet war, ein von der Verwaltungsbehörde gefordertes Gutachten beizubringen und ob dann der Umstand, dass er das nicht getan bzw. die Beibringung verweigert hat, Grundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis sein kann/darf. Das ist nach § 11 Abs. 8 FeV zwar grundsätzlich zulässig, da danach der Schluss auf die Nichteignung des Betroffenen möglich ist, wenn er ein gefordertes Gutcahten nicht beibringt. Der Schluss auf die Nichteignung ist jedoch nur dann zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (BVerwG, Beschluss vom 11. Juni 2008 – 3 B 99/07 -, NJW 2008, 3014).

Und um die Fragen ging es u.a. im VG Neustadt, Beschl. v. 14.09.2015 – 3 L 783/15.NW. Die Verwaltungsbehörde hatte von dem Betroffenen die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens gefordert, da nach ihrer Ansicht fahreignungsrelevante Bedenken bestanden, weil der Betroffene u.a. an einer Psychose litt. Das ergab sich für die Behörde aus einer gutachterlichen Stellungnahme aus Oktober 2009 sowie aus einem Fachgutachten aus August 2009. In Letzterem war ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mehrere psychotische Episoden aufgetreten seien und deshalb im Hinblick auf mögliche Wiedererkrankungen eine gutachterliche Kontrolle nach Ablauf von zwei Jahren erfolgen sollte. Eine solche Nachuntersuchung hat die Verwaltungsbehörde im Jahre 2011 und später aber nicht veranlasst. Sie wurde erst Anfang 2015 tätig, nachdem sie offenbar ein Nachbar des Antragstellers hierauf aufmerksam gemacht hatte. Dazu das VG:

„Zwar lassen sich aus (anonymen) Hinweisen Dritter genügende Tatsachen im Sinne von § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV nicht ableiten. Die Fahrerlaubnisbehörde muss der Versuchung widerstehen, gewissermaßen durch „Schüsse ins Blaue“ auf der Grundlage eines bloßen „Verdachts-Verdachts“ dem Betroffenen einen im Gesetz nicht vorgesehenen Eignungsbeweis aufzuerlegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 2001 – 3 C 13.01 -, NJW 2002, 78). (Anonymen) Hinweisen Dritter kommt daher allgemein noch kein eigener Erkenntniswert zu, der Ermittlungsmaßnahmen, wie sie § 11 Abs. 2 FeV vorsieht, begründet, weil aus dem sie kennzeichnenden Charakter der Unverbindlichkeit für den Anzeigenden – die Behauptungen können auf bloßer Böswilligkeit beruhen und für den Anzeiger folgenlos aufgestellt werden – bereits kein genügender Anfangsverdacht erwächst (OVG Saarland, Beschluss vom 18. September 2000 – 9 W 5/00 -, ZfSch 2001, 92; vgl. auch OVG RheinlandPfalz, Beschluss vom 23. Mai 2002 – 7 B 10765/02 – und VG Neustadt, Beschluss vom 17. August 2015 – 1 L 700/15.NW -, wonach die Verkehrsbehörde einen durch Tatsachen getragenen „Anfangsverdacht“ zu belegen hat).

Die Kammer misst dem Umstand, dass der Antragsgegner erst auf „Anregung“ eines Nachbarn tätig geworden ist, im vorliegenden Verfahren – auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten – jedoch keine Bedeutung zu. Maßgebend ist allein, dass unabhängig davon Tatsachen im Sinne von § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV vorgelegen haben, nämlich die von Dr. med. C in seinem Gutachten vom 31. August 2009 angeregte, aber bisher nicht angeordnete Nachuntersuchung des Antragstellers.“

Schöner (?) „Zwar-Aber-Beschluss.

Passt vielleicht auch ganz gut zu Karneval: Der betrunkene Fußgänger….

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Ganz gut zu Karneval und dem sicherlich an diesen Tagen häufig erheblichen Alkoholkonsum passt die PM Nr. 9/2013 des VG Neustadt vom 05.02.2013 zum Verfahren 1 L 29/13. Da heißt es zu einer im Eilverfahren ergangenen Entscheidung des VG:

„Der betroffene Führerscheininhaber war laut Polizeibericht nachmittags in stark betrunkenem Zustand zu Fuß in der Nähe einer vielbefahren Straße unterwegs und soll andere Autofahrer gefragt haben, wieso diese in seinem Auto säßen. Passanten befürchteten, dass er völlig unkontrolliert auf die Straße laufen werde und alarmierten die Polizei. Der Atemalkoholtest ergab einen Wert von rund 3 Promille. Später wurde am Ort des Geschehens sein Autoschlüssel gefunden, den er dort verloren hatte. Die Fahrerlaubnisbehörde veranlasste zunächst eine ärztliche Untersuchung zur Klärung, ob der Antragsteller alkoholabhängig ist. Bei Alkoholabhängigkeit fehlt die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr und die Fahrerlaubnis ist zwingend zu entziehen. Nachdem das verkehrsmedizinische Gutachten nicht zu einem eindeutigen Ergebnis kam, forderte die Fahrerlaubnisbehörde zusätzlich ein psychologisches Fahreignungsgutachten an, dass der Antragsteller aber verweigerte. Daraufhin entzogen sie ihm die Fahrerlaubnis mit der Begründung: Weil er das geforderte Gutachten nicht beigebracht habe, sei von seiner fehlenden Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen auszugehen. Sie ordnete den Sofortvollzug ihrer Verfügung an. Dagegen wandte sich der Betroffene im gerichtlichen Eilverfahren und trug hier im Wesentlichen vor: Er sei damals nur zu Fuß gegangen und habe gar nicht Autofahren wollen. Sein Auto habe er nicht dabei gehabt, er habe die anderen Autofahrer vielmehr nach einem Taxi gefragt.

Sein Eilantrag hatte Erfolg, wenn auch aus anderen Gründen. Die Richter äußerten Zweifel, ob es überhaupt eine Rechtsgrundlage dafür gibt, dass die Behörde eine isolierte psychologische Untersuchung verlangen darf. Sie führten aus: In der einschlägigen Fahrerlaubnisverordnung seien lediglich die ärztliche und die medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) als zulässige Aufklärungsmittel bei Eignungszweifeln vorgesehen. Aus dem behördlichen Schreiben könne der Betroffene nicht hinreichend klar erkennen, welcher Untersuchung er sich zu unterziehen habe. Dort sei eine psychologische Untersuchung gefordert, die aber weder eine ärztliche noch eine medizinisch-psychologische Untersuchung sei. Das Verwaltungsgericht ließ allerdings erkennen, dass es für die Anordnung einer umfassenden, von der Fahrerlaubnisverordnung gerade bei alkoholbedingtem Eignungszweifel vorgesehenen MPU hier durchaus Anhaltspunkte sieht, vor allem wegen des sehr hohen Atemalkoholwertes und der daraus zu vermutenden Alkoholgewöhnung des Mannes. Über die Anordnung eines solchen medizinisch-psychologischen Gutachtens müsse aber zunächst die Fahrerlaubnisbehörde entscheiden. Bis dahin behält der Betroffene seinen Führerschein.“

 

Ordnungsgeld gegen eine RAK? Geht das?

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Im Rechtsstreit zwischen Rechtsanwalt und Mandant hat das Gericht gemäß § 14 Abs. 2 Satz 1 RVG ein Gutachten des Vorstands der Rechtsanwaltskammer einzuholen, soweit die Höhe der (gesetzlichen) Rahmengebühr streitig ist. Das hatte das LG Berlin beschlossen und hat dann am 27.01.2011 die Verfahrensakten an eine RAK übersandt. Diese erstattete das Gutachten nicht, so dass dann am 23.02.2012 eine Frist zur Gutachtenerstattung gesetzt und für erfolglosen Fristablauf gemäß § 411 Abs. 2 ZPO die Festsetzung eines Ordnungsgeldes angedroht wurde. Dagegen das Rechtsmittel der RAK zum KG, die der Kammer im KG, Beschl. v. 28.06.2012 – 19 W 3/12 – Recht gegeben hat.

„Die Gutachtenerstellung weist gegenüber dem Sachverständigenbeweis nach den §§ 402ff. ZPO Besonderheiten auf: Das Gutachten ist von Amts wegen einzuholen und gemäß § 14 Abs. 2 Satz 2 RVG kostenlos zu erstatten. Es handelt sich nicht um eine förmliche Beweisaufnahme; entsprechend durften die am Prozess beteiligten Rechtsanwälte nach der BRAGO keine Beweisgebühr geltend machen (OLG Düsseldorf, JurBüro 1990, 872). Das Gutachten ist ein Rechtsgutachten, welches die Kontrolle des anwaltlichen Billigkeitsermessens durch das Prozessgericht unterstützen soll (Winkler in Mayer/Kroiß, RVG, 5. Aufl., § 14 Rn. 58 und 76). Das Gutachten ist vom Vorstand der Rechtsanwaltskammer zu erstatten und gemäß § 72 BRAO von den beteiligten Gutachtern zu beschließen. Zuständig ist die Rechtsanwaltskammer welcher der Anwalt zum Zeitpunkt des Rechtsstreites angehört. Eine Auswahlmöglichkeit zwischen mehreren Rechtsanwaltskammern besteht mithin für das Gericht nicht.

Insgesamt handelt es sich bei dem Gutachten der Rechtsanwaltskammer, nicht um ein Sachverständigengutachten im Sinne der §§ 404 ff. ZPO. Unter Berücksichtigung der oben genannten Besonderheiten sowie des Umstandes, dass es sich bei der Rechtsanwaltskammer um eine Körperschaft des öffentlichen Rechts handelt, sind Ordnungsmittel nach §§ 409, 411 ZPO nicht zulässig (Winkler, a.a.O., Rn. 87; Mayer in Gerold/Schmidt, 19. Aufl., § 14, Rn. 36).“

Und nun?

Bei gewalttätiger Vorgeschichte – Sachverständigengutachten erforderlich

Der BGH, Beschl. v. 06.07.2011 – 5 StR 230/11 nimmt zur Pflicht des Tatgerichts zur Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens über den Angeklagten bei einer „gewalttätiger Vorgeschichte“ Stellung.

In Kapitalstrafsachen besteht danach – wenn nicht ein länger geplantes, rational motiviertes Verbrechen vorliegt – häufig Anlass, einen psychiatrischen Sachverständigen beizuziehen. Maßgeblich seien insoweit die Umstände des Einzelfalls. Bei einer gewaltätigen Vorgeschichte der Beziehung zwischen dem Angeklagten und dem späteren Opfer und somit Verhaltensbesonderheiten des Angeklagten während der rund 20-jährigen Beziehung zum Opfer biete sich die Überprüfung möglicher  psychopathologischer Dispositionen der Persönlichkeit des Angeklagten, die nicht das Ausmaß von Persönlichkeitsstörungen erreichen müssten, durch einen Sachverständigen an. Bei Anhaltspunkten für einen die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten erheblich vermindernden Affekt wie Erinnerungslücken könne eine Begutachtung geboten sein.