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OWi III: Nochmals Abwesenheit der Betroffenen, oder: Abwesenheitsverhandlung/Verwerfungsurteil

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Und im dritten Posting dann noch einmal Abwesenheit des Betroffenen (§3 73, 74 OWiG), und zwar mit zwei Entscheidungen zur Abwesenheitsverhandlung und zur Begründung der Rechtsbeschwerde gegen ein Verwerfungsurteil. Beide Entscheidungen behandeln „Dauerbrennerfragen“, und zwar:

Hat das AG in einer sog. Abwesenheitsverhandlung nicht frühere Äußerungen und Anträge des Betroffenen zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht und diese weder in der Hauptverhandlung noch in den Urteilsgründen beschieden, ist das Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt.

Bei der Verwerfung eines Einspruchs nach § 74 OWiG muss sich das Gericht in den Urteilsgründen mit den Einwendungen und Bedenken gegen eine Verwerfung auseinandersetzen, insbesondere auch mit der Zulässigkeit eines Antrags und dessen Begründung, den Betroffenen von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, sowie den Erwägungen zur Ablehnung des Antrags. Das Urteil ist schon dann fehlerhaft, wenn es den Entbindungsantrag des Betroffenen nicht erwähnt.

 

 

 

Verkehrsrecht II: Vorläufige Entziehung nach § 111a StPO, oder: Nach 16 Monaten noch verhältnismäßig?

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In dem zweiten Entscheidung des Tages behandelt das OLG Stuttgart im OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.10.2021 –1 Ws 153/21 – die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 11a StPO) durch Berufungsgericht.

Das AG hatte den Angeklagten wurde wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort am 25.3.2021 zu einer Geldstrafe verurteilt. Ferner hat das AG im Urteil die Entziehung der Fahrerlaubnis, die Einziehung des Führerscheins und eine Sperrfrist von acht Monaten angeordnet. Die Tat soll am 04.06.2020 begangen worden sein, der Schaden etwa 3.000 € betragen. Angeklagter und StA haben gegen das Urteil Berufung eingelegt. Mit Beschluss vom 30.08.2021 hat dann das LG dem Angeklagten die Fahrerlaubnis nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO vorläufig entzogen. Die Beschwerde des Angeklagten blieb beim OLG erfolglos:

„2. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist – auch in Anbetracht des Zeitablaufs – gewahrt. Eine Fahrerlaubnis kann mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Tatgeschehen noch (vorläufig) entzogen werden, wenn nach einer sorgfältigen, am Einzelfall orientierten Abwägung das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und der Schutz der Allgemeinheit das Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis überwiegt (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 1. April 2011, – 3 Ws 153/11 –, juris).

a) Der Senat verkennt dabei nicht, dass seit der vorgeworfenen Tat fast sechzehn Monate und seit dem erstinstanzlichen Urteil nunmehr sieben Monate vergangen sind. Er hat bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit auch die von der Verteidigung vorgebrachte Rechtsprechung der Landgerichte Ravensburg, Saarbrücken und Koblenz berücksichtigt, die in den dortigen Einzelfällen bei sechs, acht bzw. neun Monaten Zeitablauf die Entziehung der Fahrerlaubnis als unverhältnismäßig beurteilen (vgl. LG Ravensburg, Beschluss vom 22. Mai 1995 – 1 Qs 139/95 –; LG Saarbrücken, Beschluss vom 15. März 2007 – 3 Qs 70/07 – und LG Koblenz, Beschluss vom 10. Oktober 2017 – 3 Qs 84/17 –; jeweils juris).

Doch rechtfertigt der bloße bisherige Zeitablauf nicht zwangsläufig die Annahme, der durch die Tatbegehung indizierte Eignungsmangel sei im Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung entfallen (so auch OLG Koblenz, Beschluss vom 10. Oktober 2007 – 1 Ws 513/07 –, NZV 2008, 47 f., beck-online; ähnlich KG Berlin, Beschluss vom 8. Februar 2017, – 3 Ws 39/17 –, juris). Auch das Bundesverfassungsgericht hat keine verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO im Einzelfall der Sicherheit des Straßenverkehrs der Vorrang gegenüber dem eingetretenen Zeitablauf und der bei der Staatsanwaltschaft zu beobachtenden Verfahrensverzögerung eingeräumt wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. März 2005 – 2 BvR 364/05 –, NJW 2005, 1767 ff., beck-online).

b) Dieser Grundsatz gilt umso mehr, wenn die eingetretene Verfahrensverzögerung nicht auf Seiten der Staatsanwaltschaft oder der Gerichte, sondern in der Sphäre des Angeklagten und seines Verteidigers zu beobachten ist. Zwar stellt § 111a StPO eine vorläufige Maßnahme zur Sicherheit des Straßenverkehrs dar, weswegen der Zeitablauf selbstredend nicht unendlich sein kann. Liegt die Verantwortung für einen überschaubaren Zeitablauf von sechzehn Monaten jedoch auch in der Sphäre des Angeklagten und der Verteidigung, so kann und muss dieser Umstand bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer späteren Maßnahme nach § 111a StPO Berücksichtigung finden. Ein etwaiger Vertrauensschutz bezüglich der im bisherigen Verfahren unterbliebenen vorläufigen Entziehung wiegt nicht so schwer, als dass die angefochtene Entscheidung ermessensfehlerhaft erscheint (so auch KG Berlin, Beschluss vom 8. Februar 2017, – 3 Ws 39/17 –; juris). Vielmehr kann ein Angeklagter kein hinreichend schutzwürdiges Vertrauen auf den (vorläufigen) Erhalt der Fahrerlaubnis gründen, wenn er selbst durch sein Prozessverhalten zu einer Verfahrensverzögerung beigetragen hat.

Zentral ist dabei eine sorgfältige, am Einzelfall orientierte Abwägung der von § 111a StPO geschützten Rechtsgüter mit dem Grundsatz der effektiven Verteidigung nach Art. 6 Abs. 3 EMRK. Eine zulässige Verteidigung darf sich im Ergebnis nicht zum Nachteil des Angeklagten auswirken. Zugleich ist aber ein einfaches „Abwarten und Bestreiten“ nicht immer zielführend (vgl. hierzu auch Gübner/Krumm, Verteidigungsstrategien bei drohender Fahrerlaubnisentziehung, NJW 2007, 2801 ff., beck-online).

c) Im vorliegenden Fall verlief das bisherige Prozessgeschehen auffallend schleppend, obwohl sowohl die Ermittlungsbehörden als auch die Gerichte das Verfahren am Beschleunigungsgrundsatz orientiert betrieben und gefördert haben. Die Verfahrensverzögerung ist demgegenüber in der Sphäre des Angeklagten und der Verteidigung entstanden. Dabei ist wesentlich, dass nicht die einzelnen Punkte an sich, wohl aber die Gesamtschau der Vorkommnisse zu einer beachtlichen Verfahrensverzögerung geführt haben.

Im Einzelnen:

Der ursprüngliche Strafbefehl wurde am 14. Dezember 2020 erlassen und am 17. Dezember 2020 an die Meldeadresse in B. zugestellt. Er war bereits rechtskräftig geworden, bis der Angeklagte im Rahmen des an eine verworfene Wiedereinsetzung sich anschließendes Beschwerdeverfahren auf einen „Zweitwohnsitz“ in S. aufmerksam machte. Auch fortan konnte keine Zustellung in angemessener und üblicher Zeit erfolgen, da trotz mehrfacher Einwohnermeldeamtsanfragen der Angeklagte fortwährend verschiedene Meldeadressen in B. und S. geltend machte. Dies führte zwischenzeitlich zu einer Doppelzustellung der Beschlüsse.

Bei der Terminierung folgten weitere Verfahrensverzögerungen: Auf Antrag der Verteidigung wurde die erstinstanzlich terminierte Verhandlung auf einen späteren Zeitpunkt verlegt. Das Empfangsbekenntnis des Verteidigers zur zweitinstanzlich terminierten Verhandlung kam nicht in den Rücklauf.

Die Berufungshauptverhandlung am 26. Juli 2021 konnte nicht durchgeführt werden. Der Verteidiger trug insoweit – trotz vorheriger Terminsabstimmung – vor, nicht erscheinen zu können. Seine gegen die Terminierung erhobene Beschwerde zum Oberlandesgericht Stuttgart blieb ebenso erfolglos (1 Ws 118/21) wie sein Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende Richterin wegen Nichtverlegung des Termins. Das diskrepante Verhalten des Verteidigers setzte sich fort, indem er dann zum Termin entgegen seines Vortrags, verhindert zu sein, doch erscheinen konnte.

Die Durchführung des zweitinstanzlichen Termins scheiterte dann jedoch an dem Fernbleiben des Angeklagten. Dieser begab sich am Morgen des Verhandlungstags nicht pflichtgemäß zum Gericht, sondern stellte sich zehn Minuten nach Verhandlungsbeginn einem ihm bis dato völlig unbekannten Arzt vor. Der Angeklagte machte „Durchfall“ geltend, da er Eier gegessen habe. Der Arzt konstatierte, dass der Gesundheitszustand des Angeklagten für eine etwaige Infektion mit Salmonellen zu gut sei. Dem Begehren des Angeklagten, dass er ein Attest für eine Verhandlungsunfähigkeit benötigen würde, kam der Arzt schließlich für einen Tag nach.

Hinsichtlich eines neuen von Seiten der Vorsitzenden der Berufungskammer vorgeschlagenen Termins haben weder der Angeklagte noch der Verteidiger auf die möglichen Verfügbarkeiten eines geeigneten Sachverständigen reagiert, was erneut zu einer Verfahrensverzögerung geführt hat.

Diese einzelnen Verzögerungsaspekte wären für sich genommen jeweils unerheblich, in ihrer Gesamtschau führen sie jedoch zu einem erheblichen Zeitablauf, der aus der Sphäre des Angeklagten und seines Verteidigers resultiert. Der Angeklagte konnte daher kein schützenswertes Vertrauen auf den (vorläufigen) Erhalt der Fahrerlaubnis bilden. Der Grundsatz einer effektiven Verteidigung führt insoweit zu keiner anderen Betrachtungsweise. Im Gegenteil: Berücksichtigt man, dass der Angeklagte in der nun vergangenen Zeit sechzehn Monate lang die jederzeitige Entziehung seiner Fahrerlaubnis befürchten musste, jedoch die ursprünglich vorgesehenen acht Monate Sperrzeit zwischenzeitlich bereits zweimal abgelaufen gewesen wäre, ist darüber nachzudenken, ob eine Verfahrens-verzögerung durch „Abwarten und Bestreiten“ zielführend ist.

Die (vorläufige) Entziehung der Fahrerlaubnis ist daher auch in Anbetracht des Zeitablaufs verhältnismäßig.“

Man ist schon erstaunt, dass das OLG das Prozessverhalten des Angeklagten ins Spiel bringt. Man fragt sich, was das im Hinblick auf die Verkehrssicherheit für eeine Bedeutung für die Entscheidung nach § 111a StPO hat? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier Angeklagter und Verteidiger wegen der Verfahrensverzögerungen – die wir nicht näher kennen – abgestraft werden sollen. Das zeigt aber: Man darf den Bogen auch nicht überspannen 🙂 .

OWI II: Einsichtnahme des Betroffenen in die gesamte Messreihe, oder: Geht doch

entnommen wikimedia.org
Urheber Jepessen

Im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen zum Dauerbrenner: Einsichtnahme des Betroffenen in die Daten der Messreihe.

Dazu werden wir dann ja – hoffentlich bald – etwas vom BGh hören, nachdem das OLG Zweibrücken mit dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 04.05.2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21 – die damit zusammenhängenden Fragen dem BGH vorgelegt hat (Sondermeldung: Einsichtnahme in die gesamte Messreihe, oder: OLG Zweibrücken legt dem BGH vor).

Vorher haben wir dazu jetzt etwas vom OLG Stuttgart gehört. Das konnte offenbar die Entscheidung des BGh nicht abwarten, denn es hat jetzt im OLG Stuttgart, Beschl. v. 03.08.2021 – 4 Rb 12 Ss 1094/20 -, über den ja der Kollege Gratz schon berichtet hat, zu den Fragen Stellung genommen (vielleicht hat das OLG aber auch den Vorlagebeschluss übersehen 🙂 ). Jedenfalls hat es sich geäußert, und zwar für den Betroffenen positiv. Hier der Leitsatz zu der Entscheidung:

1. Der Betroffene hat ein Recht auf Einsichtnahme in die Daten der Messreihe.

2. Der Betroffene muss aber die Einsichtnahme schon frühzeitig im Bußgeldverfahren beantragen und im Verfahren nach § 62 Abs. 1 OWiG weiterverfolgen. Die Verteidigung muss sich jedoch nicht darauf verweisen lassen, die Einsicht in den Räumen der Behörde vorzunehmen, sondern kann beispielsweise dieser einen Datenträger zur Verfügung zu stellen, um auf diesem die Messdaten zugesandt zu bekommen.

Ähnlich übrigens ja schon: OLG Karlsruhe, Beschl. v.- 16.07.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19 und OLG Jena, Beschl. v. 17.03.2021 – 1 OLG 331 SsBs 23/20. Man darf gespannt sein, was der BGH daraus macht.

Und als zweite Entscheidung dann hier der AG Jülich, Beschl. v. 17.08.2021 – 14 OWi 290/21 (b) – mit folgenden Leitsätzen:

  1. In Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des AG Jülich besteht unter Berücksichtigung der durch das Bundesverfassungsgericht hierzu ergangenen Entscheidung (Beschl. v. 12.11.2020 — 2 BvR 1616/18) und der hierin festgelegten Grundsätze auf Antrag der Verteidigung neben dem Anspruch auf Übersendung des streitgegenständlichen Mess-Datensatzes nunmehr auch ein Anspruch auf Einsicht in die gesamte Messreihe durch Übersendung der weiteren Datensätze der gesamten Messreihe.

  2. Aus datenschutzrechtlichen Gründen hat der Verteidiger jedoch vor Zurverfügungstellen der Daten neben der Übersendung eines geeigneten Datenträgers schriftlich (per Post, Fax oder beA) eine anwaltliche Versicherung zur Akte zu reichen, dass er dafür Sorge trägt, dass die Daten von nicht verfahrensbeteiligten Personen auch durch etwaig von ihm beauftragte Sachverständige oder andere Personen, denen die Daten durch ihn zugänglich gemacht werden, vertraulich behandelt werden.

Zu 1) verständlich, zu 2) m.e. Unsinn, denn: Wie soll der Verteidiger sicher stellen bzw. dafür Sorge tragen, dass die Daten u.a. vom Sachverständigen vertraulich behandelt werden. Und: Was wird passieren, wenn das nicht klappt? Also: Kann man besser lassen.

Verkehrsrecht III: Erst Trunkenheitsfahrt, dann tätlicher Angriff auf Polizei, oder: Strafklageverbrauch

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Und als dritte und letzte Entscheidung stelle ich dann den OLG Stuttgart, Beschl. v. 01.07.2021 – 1 Rv 13 Ss 421/21 – vor. Er behandelt auch noch einmal die Problematik des Strafklageverbrauchs. Aber in einer m.E. nicht so häufigen Konstellation, nämlich (vorangegangene) Trunkenheitsfahrt und tätlicher Angriff des betrunkenen Kraftfahrers auf die kontrollierenden Polizeibeamten.

Folgender Sachverhalt: Der Angeklagte ist vom AG wegen der Vorwurfs einer Trunkenheitsfahrt am 28.03.2020 gegen 19.33 Uhr zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 30 EUR verurteilt worden. Die Berufung wurde vom LG mit der Maßgabe verworfen, dass der Angeklagte unter Einbeziehung der Strafe aus einem Strafbefehl des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd vom 07.07. 2020 zu der Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 30 EUR verurteilt wurde und die Fahrerlaubnissperre auf noch drei Monate festgesetzt wurde. Diesem Strafbefehl lag folgender Sachverhalt zugrunde:

„Am 28.03.2020 gegen 19.50 Uhr wurden Sie nach einer Fahndung wegen der Anzeige einer mit der Benennung des Kennzeichens Ihres Fahrzeugs und Ihrer Personenbeschreibung angezeigten Trunkenheitsfahrt durch die uniformierten Streifenbeamten PHM A und POM´in B auf dem Fahrersitz Ihres an der B. Straße in Schwäbisch Gmünd abgestellten Fahrzeugs angetroffen. Nach der Durchführung eines Atemalkoholtests zeigten Sie sich gegenüber den mit den weiteren polizeilichen Maßnahmen befassten Polizeibeamten aggressiv. Als PHM A Ihnen erklärte, Sie aufgrund des Verdachts der Trunkenheitsfahrt zur Durchführung einer Blutentnahme in das Stauferklinikum Mutlangen verbringen zu müssen, schlugen Sie die Fahrertür mit Wucht zu und fluchten herum. Bei dem Versuch von PHM A, Sie vor der Mitnahme am Fahrzeug stehend zu durchsuchen – während POM´in B und der weiter hinzugekommene Streifenbeamte POK C Sie an den Armen festhielten – rissen Sie sich los und weigerten sich, die Durchsuchung zuzulassen. Daraufhin wandten die Polizeibeamten unmittelbaren Zwang an und versuchten, Ihre Arme auf dem Rücken zu schließen. Hiergegen sperrten Sie sich und traten die hinter Ihnen stehende POM´in B bewusst und gewollt gegen das linke Schienbein. Hierdurch erlitt die Polizeibeamtin – wie von Ihnen zumindest billigend in Kauf genommen – Schmerzen.

Zur Tatzeit standen Sie unter dem Einfluss zuvor genossenen Alkohols, ohne jedoch hierdurch in Ihrer Unrechtseinsichts- oder Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt gewesen zu sein. Ein bei Ihnen zum 19.58 Uhr durchgeführter Atemalkoholtest ergab eine Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille. Strafantrag wurde form- und fristgerecht gestellt. Die Staatsanwaltschaft hält wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung wegen des Vorwurfs der Körperverletzung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten.“

Der Strafbefehl wurde am 30.07.2020 rechtskräftig. Gegen das Berufungsurteil hat der Angeklagte Revision eingelegt. Die hatte Erfolg. Das OLG hat wegen Strafklageverbrauch eingestellt:

1. Das Geschehen am 28. März 2020 in der B. Straße in Schwäbisch Gmünd zwischen 19.33 Uhr und 19.50 Uhr mit der vorgeworfenen Trunkenheitsfahrt und dem unmittelbar nachfolgenden tätlichen Angriff ist eine prozessuale Tat im Sinne von § 264 StPO.

……

b) Vorliegend stehen die vorgeworfene Trunkenheitsfahrt und der nachfolgende Widerstand mit tätlichem Angriff zwar materiell-rechtlich in Realkonkurrenz im Sinne von § 53 StGB zueinander, sie stellen jedoch prozessual eine Tat im Sinne von § 264 StPO dar, da ihr jeweiliger Unrechts- und Schuldgehalt innerlich so verknüpft sind, dass ihre getrennte Verfolgung eine unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebenssachverhalts darstellen würde.

Zunächst ist der überaus enge – nahezu koinzidente – örtliche und zeitliche Zusammenhang unverkennbar. Es sind lediglich 17 Minuten zwischen der vorgeworfenen Trunkenheitsfahrt um 19.33 Uhr und dem Widerstand mit tätlichem Angriff um 19.50 Uhr vergangen. Auch ist zu sehen, dass beide Taten an demselben Tatort begangen wurden. Sowohl die vorgeworfene, 200 bis 300 Meter lange Trunkenheitsfahrt als auch der Widerstand sind innerhalb dieser 17 Minuten in der B. Straße in Schwäbisch Gmünd zu verorten. Anders verhielt es sich etwa in dem vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen „Schmuggelfall“ (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11. Januar 2005 – 2 BvR 2125/04 –, juris): Der zeitliche Abstand ist dort zwar nahezu identisch (15 Minuten), aber die Vortat des Zigarettenschmuggels wurde in einem erheblichen räumlichen Abstand von 10 km zur Widerstandshandlung begangen.

Hinzu kommt vorliegend ein auffallend enger situativer Beziehungs- und Bedingungszusammenhang zwischen der Trunkenheitsfahrt und dem tätlichen Angriff. Anders als im Schmuggelfall, in welchem die Sachverhaltsschilderung im Steuerstrafverfahren mit dem Abstellen der Zigaretten im Kofferraum endet und der Schmuggel mit Beginn der Autofahrt bereits mindestens vollendet, wenn nicht gar beendet war, ist vorliegend der tätliche Angriff durch die Trunkenheitsfahrt bedingt. Dies fällt bereits in der Sachverhaltsschilderung im Strafbefehl des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd vom 7. Juli 2020 auf. Bei der Beschreibung der Widerstandshandlungen werden dort zugleich Tatbestandsmerkmale der Trunkenheitsfahrt festgestellt; so zum Beispiel wörtlich: „angezeigte(n) Trunkenheitsfahrt“, des Weiteren Eckdaten wie: „Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille“ und schließlich die Antreffsituation: „auf dem Fahrersitz Ihres an der B. Straße (pp.) abgestellten Fahrzeugs angetroffen“.

Darüber hinaus ergibt sich die notwendige innere Verknüpfung der Straftaten unmittelbar aus den ihnen zugrundeliegenden Handlungen oder Ereignissen. Der betrunkene Angeklagte wurde vorliegend noch im Auto sitzend von der Polizei angetroffen, er hatte den Autoschlüssel bei sich, der Motor seines Wagens war noch warm, das Auto nahm am sogenannten ruhenden Verkehr teil, es stand auf der öffentlichen Straße und war jederzeit abfahrbereit. Auch der Angeklagte selbst war in Fahrbereitschaft und hätte jederzeit die Trunkenheitsfahrt unmittelbar fortsetzen können und sei es nur, um sein Auto von der Straße auf sein Grundstück zu fahren. In dieser Situation wurde der Angeklagte von der Polizei angetroffen und es kam zu der Auseinandersetzung mit tätlichem Angriff, die aus den wegen der Trunkenheitsfahrt vorzunehmenden polizeilichen Maßnahmen wie der Feststellung der Atemalkoholkonzentration resultierte. Auch im weiteren Verlauf waren die polizeilichen Maßnahmen zur Trunkenheitsfahrt „Verbringung in ein Krankenhaus zur Feststellung der Blutalkoholkonzentration“ mit dem tätlichen Angriff „Tritt gegen das Schienbein der Polizeibeamtin B“ innerlich verwoben und verknüpft. Eine getrennte Verfolgung käme einer unnatürlichen Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs gleich.

Schließlich ist zu sehen, wie es überhaupt zu dem Geschehen am Abend des 28. März 2020 gekommen ist. Die Polizei lief nicht zufällig dem Angeklagten über den Weg, umgekehrt fuhr dieser auch nicht zufällig in eine allgemeine Verkehrskontrolle der Polizei. Vielmehr wurde die Polizei aufgrund einer angezeigten Trunkenheitsfahrt unter Benennung der Personalien des Angeklagten und dessen Kfz-Kennzeichens auf diesen aufmerksam. Sie fahndete folglich gezielt nach diesem, um die Anzeige wegen der Trunkenheitsfahrt aufzunehmen und gegebenenfalls weitere präventiv und repressiv erforderliche polizeiliche Maßnahmen zu treffen. Dies zeigt, wie stark die Handlungen und Ereignisse auch unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Beurteilung am 28. März 2020 innerlich verknüpft sind……“

Corona I: Aufenthaltsverbot, oder: OLG Stuttgart meint: Bußgeldbewehrung verfassungswidrig?

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Wer gedacht hat, dass Corona „vorbei ist“, der hat sich geirrt. Ebenso wie das Pandemiegeschehen nicht „vorbei ist“, gibt es auch immer wieder Entscheidungen zu Corona-Fragen. Zwei stelle ich heute vor.

An der Spitze der OLG Stuttgart, Beschl. v. 14.05.2021 – 1 Rb 24 Ss 95/21 – mit folgendem Sachverhalt:

Das AG Stuttgart hat den Betroffenen wegen „eines Verstoßes gegen ein Aufenthaltsverbot, das wegen der Corona-Pandemie den Aufenthalt mit mehr als 2 Personen, die nicht dem eige­nen Hausstand angehören, verbot“, zu einer Geldbuße verurteilt.  Der Betroffene hielt sich am 13.04.2020 an einem See in Stuttgart in einer „5-er Gruppe“ auf. Die Gruppe ging „mehrere hundert Meter“ spazieren. Die Gruppenmit­glieder hielten „dabei den Abstand von 1 Meter untereinander“ nicht ein. Die fünf Personen gehörten drei verschiede­nen Haushalten an. Das AG hat eine Geldbuße von 200 EUR festgesetzt.

Dagegen die Rechtsbeschwerde, die das OLG zugelassen hat. Auf die Rechtsbeschwerde ist dann das AG-Urteil aufgehoben und der Betroffen freigesprochen worden.

Hier die – nicht amtlichen – Leitsätze der Entscheidung, die wir schon im nächsten Monat im StRR vorstellen werden:

1. Die in § 32 Satz 1, § 28 Abs. 1 IfSG normierte Ermächtigung zum Erlass von Rechts­verordnungen, auf der die tatbestandliche Ausgestaltung der Bußgeldbestimmung in § 9 Nr. 1, § 3 Abs. 1 CoronaVO Baden-Württemberg beruht, ist mit verfassungs­rechtlichen Vorgaben nicht vereinbar.

2. Die der Verurteilung des Betroffenen zugrundeliegenden Bußgeldvorschriften in § 9 Nr. 1, § 3 Abs. 1 CoronaVO Baden-Württemberg sind mit verfassungsrechtli­chen Vorgaben unvereinbar; sie erweisen sich als Sanktionsvorschriften ohne jede Härtefallregelung als unverhältnismäßig und sind damit ungültig.

Das OLG sieht die anstehenden Fragen also anders als einige andere OLG:

„3. Der Senat ist an einer Divergenzvorlage (§ 121 Abs. 2 GVG) der landesrechtlichen Verordnungsvorschriften mit Blick auf die Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte außerhalb Baden-Württembergs gehindert (OLG Frankfurt a.M., Be-schluss vom 22. November 2011 – 3 Ws 836/11 -, juris, BeckRS 9998, 26155). In Bezug auf Entscheidungen des Oberlandesgerichts Karlsruhe (Beschlüsse vom 30. März 2021 – 2 Rb 34 Ss 1/21 und 2 Rb 34 Ss 2/21 -, juris) fehlt es vorliegend an der von § 121 Abs. 2 GVG vorausgesetzten (Entscheidungs-)Erheblichkeit (vgl. Kissel/Mayer/Mayer, a.a.O., GVG § 121 Rn. 22; KK-StPO/Feilcke, 8. Aufl., GVG § 121 Rn. 37 f. und 49; vgl. zur Entscheidungserheblichkeit auch BGH, Beschluss vom 27. September 2002 – 5 StR 117/02 -, juris, NStZ-RR 2003, 12). Hinsichtlich der abweichenden Meinung des 4. Bußgeldsenats des OLG Stuttgart im Beschluss vom 21. April 2021 — 4 Rb 24 Ss 7/21 —, juris, liegt eine Innendivergenz vor, aufgrund der eine Vorlage gleichfalls ausgeschlossen ist (Kissel/Mayer/Mayer, 10. Aufl., GVG § 121 Rn. 10, m.w.N.).“

Das OLG folgt mit seiner Entscheidung dem Ansatz des ThürVerfGH, der zwischenzeitlich die einschlägigen Fragen dem BVerfG vorgelegt hat (s. Beschl. v. 19.05.2021 – 110/20). Man darf gespannt sein.